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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Giovanni Boccaccio

Athen durch Thukydides verglichen wurde --, treffen sich in der Kirche ti Santa
Maria Novelli sieben junge, den edelsten Geschlechtern entsprossene Freundinnen
zwischen achtzehn und achtundzwanzig Jahren durch einen Zufall. Der führt
auch drei junge Edelmänner in die Kirche, gerade als die Damen auf Pampineas,
der ältesten, Vorschlag über die Flucht aus der Stadt des Todes auf ein
Landgut beraten. Die drei schließen sich an, um so lieber, als sie in drei der
jungen Mädchen verliebt sind, und alle zehn begeben sich frohgemut mit der
nötigen Dienerschaft nach einem in der Nähe von Florenz gelegenen Schlößchen.
Hier vertreiben sie sich in geschwisterlichen Zusammensein durch Erzählungen die
Zeit. An jedem Tag wird einer aus der Gesellschaft zur Königin oder zum
König gewählt, der dann ein Grundthema für die an diesem Tage zu erzählen¬
den Geschichten bestimmt. Die Themen sind folgende: am ersten Tage darf
jeder seine Lieblingsgeschichte erzählen, am zweiten von Leuten, die durch Unglück
zum Glück gelangen, am dritten, wie jemand durch Scharfsinn ein Ziel erreicht
oder Verlorenes zurückgewinnt, dem vierten Tag ist die unglückliche, dem fünften
die glückliche Liebe vorbehalten. Am sechsten Tage wird von witzigen Antworten
erzählt, am siebenten werden Streiche berichtet, die Frauen ihren Männern, am
achten, die sich Eheleute oder andere Personen gegenseitig spielen. Der neunte
Tag stellt die Wahl des Themas frei und am letzten wird von denen gesprochen,
"welche in der Liebe oder bei sonstigen Gelegenheiten ein edles und hochsinniges
Herz zeigten".

So ist durch die Wahl der verschiedenen Themen und durch die unter¬
schiedliche Charakterisierung der einzelnen Persönlichkeiten -- wobei Dioneo, der
pikanteste Erzähler neben Fiammetta und Pampinea am meisten hervorragt --
die Abwechslung genügend betont, durch den einheitlichen Rahmen, die ver¬
bindenden Zwischengespräche aber mit ihren feinen Bemerkungen, ihrem klugen
Humor, das Ganze doch wieder zu einem Werk von harmonischer Geschlossenheit
zusammengehalten*).

Als Ganzes sollte der "Dekamerone" gelesen werden und mit Verständnis
für den Geist jener Zeit. Der Mann, der ihn schrieb, war eine frohe, sinnen¬
frohe Natur, die nur wieder und zum besten gab, was der Jugendaufenthalt
in Neapel sie gelehrt und was, uraltes Gut, von Mund zu Mund ging durch
alle Nationen. Sicherlich, eS stehen Anekdoten im "Dekamerone", deren derbe
Sinnlichkeit und deren drastische Ungeschminktheit gar nicht zu leugnen ist,
Anekdoten, die ruhig hätten fortbleiben können, ohne dem Buch zu schaden,
Anekdoten, deren Aufnahme Boccaccio später selbst bedauert hat. Bald bekam
es den Beinamen "Der Ertzkuppler" und auf kein Buch passen besser Mephistos
Worte:



*) Es ist eine Versündigung am "Dekamerone", wenn sogenannte Volksausgaben gerade
diese Stellen fortlassen und nur die Anekdoten aneinanderreihen. Dann wird erst der
"Dekamerone" "Pikante Herrenlektüre". So die bon H. H. Ebers bevorwortetete Ausgabe
bei Wilhelm Borngräber, Verlag Neue^Leben, Berlin, die schon im dreißigsten Tausend vorliegt.
Giovanni Boccaccio

Athen durch Thukydides verglichen wurde —, treffen sich in der Kirche ti Santa
Maria Novelli sieben junge, den edelsten Geschlechtern entsprossene Freundinnen
zwischen achtzehn und achtundzwanzig Jahren durch einen Zufall. Der führt
auch drei junge Edelmänner in die Kirche, gerade als die Damen auf Pampineas,
der ältesten, Vorschlag über die Flucht aus der Stadt des Todes auf ein
Landgut beraten. Die drei schließen sich an, um so lieber, als sie in drei der
jungen Mädchen verliebt sind, und alle zehn begeben sich frohgemut mit der
nötigen Dienerschaft nach einem in der Nähe von Florenz gelegenen Schlößchen.
Hier vertreiben sie sich in geschwisterlichen Zusammensein durch Erzählungen die
Zeit. An jedem Tag wird einer aus der Gesellschaft zur Königin oder zum
König gewählt, der dann ein Grundthema für die an diesem Tage zu erzählen¬
den Geschichten bestimmt. Die Themen sind folgende: am ersten Tage darf
jeder seine Lieblingsgeschichte erzählen, am zweiten von Leuten, die durch Unglück
zum Glück gelangen, am dritten, wie jemand durch Scharfsinn ein Ziel erreicht
oder Verlorenes zurückgewinnt, dem vierten Tag ist die unglückliche, dem fünften
die glückliche Liebe vorbehalten. Am sechsten Tage wird von witzigen Antworten
erzählt, am siebenten werden Streiche berichtet, die Frauen ihren Männern, am
achten, die sich Eheleute oder andere Personen gegenseitig spielen. Der neunte
Tag stellt die Wahl des Themas frei und am letzten wird von denen gesprochen,
„welche in der Liebe oder bei sonstigen Gelegenheiten ein edles und hochsinniges
Herz zeigten".

So ist durch die Wahl der verschiedenen Themen und durch die unter¬
schiedliche Charakterisierung der einzelnen Persönlichkeiten — wobei Dioneo, der
pikanteste Erzähler neben Fiammetta und Pampinea am meisten hervorragt —
die Abwechslung genügend betont, durch den einheitlichen Rahmen, die ver¬
bindenden Zwischengespräche aber mit ihren feinen Bemerkungen, ihrem klugen
Humor, das Ganze doch wieder zu einem Werk von harmonischer Geschlossenheit
zusammengehalten*).

Als Ganzes sollte der „Dekamerone" gelesen werden und mit Verständnis
für den Geist jener Zeit. Der Mann, der ihn schrieb, war eine frohe, sinnen¬
frohe Natur, die nur wieder und zum besten gab, was der Jugendaufenthalt
in Neapel sie gelehrt und was, uraltes Gut, von Mund zu Mund ging durch
alle Nationen. Sicherlich, eS stehen Anekdoten im „Dekamerone", deren derbe
Sinnlichkeit und deren drastische Ungeschminktheit gar nicht zu leugnen ist,
Anekdoten, die ruhig hätten fortbleiben können, ohne dem Buch zu schaden,
Anekdoten, deren Aufnahme Boccaccio später selbst bedauert hat. Bald bekam
es den Beinamen „Der Ertzkuppler" und auf kein Buch passen besser Mephistos
Worte:



*) Es ist eine Versündigung am „Dekamerone", wenn sogenannte Volksausgaben gerade
diese Stellen fortlassen und nur die Anekdoten aneinanderreihen. Dann wird erst der
„Dekamerone" „Pikante Herrenlektüre". So die bon H. H. Ebers bevorwortetete Ausgabe
bei Wilhelm Borngräber, Verlag Neue^Leben, Berlin, die schon im dreißigsten Tausend vorliegt.
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[0534] Giovanni Boccaccio Athen durch Thukydides verglichen wurde —, treffen sich in der Kirche ti Santa Maria Novelli sieben junge, den edelsten Geschlechtern entsprossene Freundinnen zwischen achtzehn und achtundzwanzig Jahren durch einen Zufall. Der führt auch drei junge Edelmänner in die Kirche, gerade als die Damen auf Pampineas, der ältesten, Vorschlag über die Flucht aus der Stadt des Todes auf ein Landgut beraten. Die drei schließen sich an, um so lieber, als sie in drei der jungen Mädchen verliebt sind, und alle zehn begeben sich frohgemut mit der nötigen Dienerschaft nach einem in der Nähe von Florenz gelegenen Schlößchen. Hier vertreiben sie sich in geschwisterlichen Zusammensein durch Erzählungen die Zeit. An jedem Tag wird einer aus der Gesellschaft zur Königin oder zum König gewählt, der dann ein Grundthema für die an diesem Tage zu erzählen¬ den Geschichten bestimmt. Die Themen sind folgende: am ersten Tage darf jeder seine Lieblingsgeschichte erzählen, am zweiten von Leuten, die durch Unglück zum Glück gelangen, am dritten, wie jemand durch Scharfsinn ein Ziel erreicht oder Verlorenes zurückgewinnt, dem vierten Tag ist die unglückliche, dem fünften die glückliche Liebe vorbehalten. Am sechsten Tage wird von witzigen Antworten erzählt, am siebenten werden Streiche berichtet, die Frauen ihren Männern, am achten, die sich Eheleute oder andere Personen gegenseitig spielen. Der neunte Tag stellt die Wahl des Themas frei und am letzten wird von denen gesprochen, „welche in der Liebe oder bei sonstigen Gelegenheiten ein edles und hochsinniges Herz zeigten". So ist durch die Wahl der verschiedenen Themen und durch die unter¬ schiedliche Charakterisierung der einzelnen Persönlichkeiten — wobei Dioneo, der pikanteste Erzähler neben Fiammetta und Pampinea am meisten hervorragt — die Abwechslung genügend betont, durch den einheitlichen Rahmen, die ver¬ bindenden Zwischengespräche aber mit ihren feinen Bemerkungen, ihrem klugen Humor, das Ganze doch wieder zu einem Werk von harmonischer Geschlossenheit zusammengehalten*). Als Ganzes sollte der „Dekamerone" gelesen werden und mit Verständnis für den Geist jener Zeit. Der Mann, der ihn schrieb, war eine frohe, sinnen¬ frohe Natur, die nur wieder und zum besten gab, was der Jugendaufenthalt in Neapel sie gelehrt und was, uraltes Gut, von Mund zu Mund ging durch alle Nationen. Sicherlich, eS stehen Anekdoten im „Dekamerone", deren derbe Sinnlichkeit und deren drastische Ungeschminktheit gar nicht zu leugnen ist, Anekdoten, die ruhig hätten fortbleiben können, ohne dem Buch zu schaden, Anekdoten, deren Aufnahme Boccaccio später selbst bedauert hat. Bald bekam es den Beinamen „Der Ertzkuppler" und auf kein Buch passen besser Mephistos Worte: *) Es ist eine Versündigung am „Dekamerone", wenn sogenannte Volksausgaben gerade diese Stellen fortlassen und nur die Anekdoten aneinanderreihen. Dann wird erst der „Dekamerone" „Pikante Herrenlektüre". So die bon H. H. Ebers bevorwortetete Ausgabe bei Wilhelm Borngräber, Verlag Neue^Leben, Berlin, die schon im dreißigsten Tausend vorliegt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/534>, abgerufen am 27.07.2024.