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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die "Kunst" des Lichtspieltheaters

sequenterweise auch beim Kino bekämpfen. Denn Theater und Kino stehen
künstlerisch durchaus nicht parallel, sie sind vielmehr so verschieden von ein¬
ander, daß sie überhaupt nicht in einem Atem genannt werden können. Sie
verhalten sich ungefähr so zueinander wie plastische Museen zu Panoptiken
oder Gemäldegalerien zu Panoramen. Gewiß, es gibt auch im Theater minder¬
wertige Erzeugnisse, und ich bin der letzte, der schlechte Operetten oder seichte
französische Ehebruchskomödien verteidigen möchte. Aber wenn man gesagt hat,
ein gutes Kinodrama sei immer noch besser als derartige Erzeugnisse, so muß ich
dem, soweit die Dramen in Betracht kommen, entschieden widersprechen. Selbst
die dümmste Posse, die ihrem Inhalt nach gar keinen bildenden Wert hat,
bedient sich doch wenigstens des Wortes und enthält somit ein gewisses künstle¬
risches Element. Und sie kann als Aufführung mehr oder weniger gut sein,
d. h. charakteristisch und flott gespielt werden. Dann söhnt sich schließlich auch
der strenge Kritiker mit ihrem faden Inhalt aus und ist zufrieden, einen
harmlos vergnügten Abend verlebt zu haben. Selbst die sexuell anstößigste
Operette kann doch musikalisch gut sein und man kann sie graziös spielen
und temperamentvoll singen. Das will ja positiv nicht viel besagen, aber es
ist doch wenigstens nichts geradezu Negatives, vielmehr etwas, was die de¬
moralisierende Wirkung des Inhalts abschwächt oder vielleicht gar völlig auf¬
hebt. Jene jungen halbwüchsigen Burschen dagegen, die allabendlich im Kino¬
theater die grausigen Verbrecherdramen an sich vorüberziehen lassen und mit stieren
Augen und geröteten Wangen, keuchend und schnaufend vor Wollust die Auf¬
regungen der sensationellen Handlungen dort an der Wand miterleben, das sind
unsere künftigen Verbrecher, die Sternickel und Genossen, an denen wir einmal
unsere Freude erleben können. Denn ihnen kostet es nur einen Schritt, das
besehene, ohne künstlerische Verklärung Gesehene, in die Wirklichkeit zu übersetzen.

Deshalb ist es auch verkehrt, wenn man sagt: der Kino ist doch immer
uoch besser als das Spezialitätentheater und der Tingeltangel, deshalb tut man
gut, ihn nicht zu beschränken, weil man damit die Menschen nur in den Tingel¬
tangel treiben würde. Ich gestehe ganz offen, daß ich den Kino in den Vor-
führungen, die hier in Frage stehen, für schlechter und gefährlicher halte, als
das Spezialitätentheater. Dieses ist in den meisten Nummern seines Repertoirs,
S- V. in den Kraft- und Geschicklichkeitsproduktionen durchaus harmlos. Und
Mag auch das Kuplet, mag die ganze Poesie des Kabarets manches Anstößige
enthalten, es ist doch wenigstens Poesie. Es sind Worte, Gedanken, Verse,
zuweilen sogar geistreiche und witzige Verse, die dem Publikum da geboten
werden, während der Zuschauer im Kino stumpfsinnig dasitzt und die Vor¬
führungen nur mit den Augen aufnimmt -- ganz abgesehen von den häufigen
Fällen, wo er sich infolge einer ganz unmöglichen Kunstform vergeblich den
Kopf darüber zerbrechen muß, was denn eigentlich gemeint ist.

Ein besonderes Kapitel wäre die Frage des Kinderbesuchs. Doch würde
das hier zu weit führen. Genug, daß nach meiner Überzeugung die einzige


Die „Kunst" des Lichtspieltheaters

sequenterweise auch beim Kino bekämpfen. Denn Theater und Kino stehen
künstlerisch durchaus nicht parallel, sie sind vielmehr so verschieden von ein¬
ander, daß sie überhaupt nicht in einem Atem genannt werden können. Sie
verhalten sich ungefähr so zueinander wie plastische Museen zu Panoptiken
oder Gemäldegalerien zu Panoramen. Gewiß, es gibt auch im Theater minder¬
wertige Erzeugnisse, und ich bin der letzte, der schlechte Operetten oder seichte
französische Ehebruchskomödien verteidigen möchte. Aber wenn man gesagt hat,
ein gutes Kinodrama sei immer noch besser als derartige Erzeugnisse, so muß ich
dem, soweit die Dramen in Betracht kommen, entschieden widersprechen. Selbst
die dümmste Posse, die ihrem Inhalt nach gar keinen bildenden Wert hat,
bedient sich doch wenigstens des Wortes und enthält somit ein gewisses künstle¬
risches Element. Und sie kann als Aufführung mehr oder weniger gut sein,
d. h. charakteristisch und flott gespielt werden. Dann söhnt sich schließlich auch
der strenge Kritiker mit ihrem faden Inhalt aus und ist zufrieden, einen
harmlos vergnügten Abend verlebt zu haben. Selbst die sexuell anstößigste
Operette kann doch musikalisch gut sein und man kann sie graziös spielen
und temperamentvoll singen. Das will ja positiv nicht viel besagen, aber es
ist doch wenigstens nichts geradezu Negatives, vielmehr etwas, was die de¬
moralisierende Wirkung des Inhalts abschwächt oder vielleicht gar völlig auf¬
hebt. Jene jungen halbwüchsigen Burschen dagegen, die allabendlich im Kino¬
theater die grausigen Verbrecherdramen an sich vorüberziehen lassen und mit stieren
Augen und geröteten Wangen, keuchend und schnaufend vor Wollust die Auf¬
regungen der sensationellen Handlungen dort an der Wand miterleben, das sind
unsere künftigen Verbrecher, die Sternickel und Genossen, an denen wir einmal
unsere Freude erleben können. Denn ihnen kostet es nur einen Schritt, das
besehene, ohne künstlerische Verklärung Gesehene, in die Wirklichkeit zu übersetzen.

Deshalb ist es auch verkehrt, wenn man sagt: der Kino ist doch immer
uoch besser als das Spezialitätentheater und der Tingeltangel, deshalb tut man
gut, ihn nicht zu beschränken, weil man damit die Menschen nur in den Tingel¬
tangel treiben würde. Ich gestehe ganz offen, daß ich den Kino in den Vor-
führungen, die hier in Frage stehen, für schlechter und gefährlicher halte, als
das Spezialitätentheater. Dieses ist in den meisten Nummern seines Repertoirs,
S- V. in den Kraft- und Geschicklichkeitsproduktionen durchaus harmlos. Und
Mag auch das Kuplet, mag die ganze Poesie des Kabarets manches Anstößige
enthalten, es ist doch wenigstens Poesie. Es sind Worte, Gedanken, Verse,
zuweilen sogar geistreiche und witzige Verse, die dem Publikum da geboten
werden, während der Zuschauer im Kino stumpfsinnig dasitzt und die Vor¬
führungen nur mit den Augen aufnimmt — ganz abgesehen von den häufigen
Fällen, wo er sich infolge einer ganz unmöglichen Kunstform vergeblich den
Kopf darüber zerbrechen muß, was denn eigentlich gemeint ist.

Ein besonderes Kapitel wäre die Frage des Kinderbesuchs. Doch würde
das hier zu weit führen. Genug, daß nach meiner Überzeugung die einzige


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[0529] Die „Kunst" des Lichtspieltheaters sequenterweise auch beim Kino bekämpfen. Denn Theater und Kino stehen künstlerisch durchaus nicht parallel, sie sind vielmehr so verschieden von ein¬ ander, daß sie überhaupt nicht in einem Atem genannt werden können. Sie verhalten sich ungefähr so zueinander wie plastische Museen zu Panoptiken oder Gemäldegalerien zu Panoramen. Gewiß, es gibt auch im Theater minder¬ wertige Erzeugnisse, und ich bin der letzte, der schlechte Operetten oder seichte französische Ehebruchskomödien verteidigen möchte. Aber wenn man gesagt hat, ein gutes Kinodrama sei immer noch besser als derartige Erzeugnisse, so muß ich dem, soweit die Dramen in Betracht kommen, entschieden widersprechen. Selbst die dümmste Posse, die ihrem Inhalt nach gar keinen bildenden Wert hat, bedient sich doch wenigstens des Wortes und enthält somit ein gewisses künstle¬ risches Element. Und sie kann als Aufführung mehr oder weniger gut sein, d. h. charakteristisch und flott gespielt werden. Dann söhnt sich schließlich auch der strenge Kritiker mit ihrem faden Inhalt aus und ist zufrieden, einen harmlos vergnügten Abend verlebt zu haben. Selbst die sexuell anstößigste Operette kann doch musikalisch gut sein und man kann sie graziös spielen und temperamentvoll singen. Das will ja positiv nicht viel besagen, aber es ist doch wenigstens nichts geradezu Negatives, vielmehr etwas, was die de¬ moralisierende Wirkung des Inhalts abschwächt oder vielleicht gar völlig auf¬ hebt. Jene jungen halbwüchsigen Burschen dagegen, die allabendlich im Kino¬ theater die grausigen Verbrecherdramen an sich vorüberziehen lassen und mit stieren Augen und geröteten Wangen, keuchend und schnaufend vor Wollust die Auf¬ regungen der sensationellen Handlungen dort an der Wand miterleben, das sind unsere künftigen Verbrecher, die Sternickel und Genossen, an denen wir einmal unsere Freude erleben können. Denn ihnen kostet es nur einen Schritt, das besehene, ohne künstlerische Verklärung Gesehene, in die Wirklichkeit zu übersetzen. Deshalb ist es auch verkehrt, wenn man sagt: der Kino ist doch immer uoch besser als das Spezialitätentheater und der Tingeltangel, deshalb tut man gut, ihn nicht zu beschränken, weil man damit die Menschen nur in den Tingel¬ tangel treiben würde. Ich gestehe ganz offen, daß ich den Kino in den Vor- führungen, die hier in Frage stehen, für schlechter und gefährlicher halte, als das Spezialitätentheater. Dieses ist in den meisten Nummern seines Repertoirs, S- V. in den Kraft- und Geschicklichkeitsproduktionen durchaus harmlos. Und Mag auch das Kuplet, mag die ganze Poesie des Kabarets manches Anstößige enthalten, es ist doch wenigstens Poesie. Es sind Worte, Gedanken, Verse, zuweilen sogar geistreiche und witzige Verse, die dem Publikum da geboten werden, während der Zuschauer im Kino stumpfsinnig dasitzt und die Vor¬ führungen nur mit den Augen aufnimmt — ganz abgesehen von den häufigen Fällen, wo er sich infolge einer ganz unmöglichen Kunstform vergeblich den Kopf darüber zerbrechen muß, was denn eigentlich gemeint ist. Ein besonderes Kapitel wäre die Frage des Kinderbesuchs. Doch würde das hier zu weit führen. Genug, daß nach meiner Überzeugung die einzige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/529>, abgerufen am 27.07.2024.