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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die "Kunst" des Lichtspieltheaters

durchaus nicht einzusehen, warum der Einfluß auf die Kriminalität, der für die
Schundlektüre längst nachgewiesen ist und bei so vielen Verbrechern festgestellt
werden kann, beim Lichtspieltheater, das doch viel stärker als die Lektüre
auf das ganze Gefühlsleben einwirkt, nicht vorhanden sein soll. Das ist eben
der Punkt, wo sich der Unterschied von Kunst und Unkunst am deutlichsten zeigt.
Die wahre Kunst regt uns nicht unmittelbar zum Handeln an, weil sie nur
ästhetischer Schein ist. Sie wirkt nicht direkt ethisch auf uns ein. sondern
läßt uns nur bei der Anschauung verharren. Die Pseudokunst des Kine¬
matographen dagegen muß notwendig Handlungen auslösen, eben weil sie nicht
Kunst, sondern Wirklichkeit, raffiniert vorgeführte Wirklichkeit ist. Wenn es
schon Menschen gibt, die der Meinung sind, daß eine nackte Venus Tizians
leicht erregbare Menschen zu sexuellen Exzessen verleiten kann, wie groß muß da
erst die Wirkung all dieser unmoralischen und verbrecherischen Handlungen sein,
die uns im Lichtspieltheater vorgeführt werden? Eine Venus Tizians ist doch
wenigstens durch die Kunst der Darstellung in ein höheres Niveau empor¬
gehoben, wo sie jenseits von Gut und Böse steht. Ein Mordfilm oder ein
sexueller Filu dagegen ist in den meisten Fällen nicht einmal künstlerisch ein¬
gekleidet, muß also mit der brutalen Kraft der Wirklichkeit auf erregbare Menschen,
besonders Kinder und Ungebildete wirken.

Gerade deshalb ist es nun aber auch unzulässig, beim Lichtspieltheater die
ästhetischen und ethischen Wirkungen so scharf voneinander zu scheiden, wie es
die toleranten Kritiker durchaus möchten. Man kann nicht sagen: wir wollen
zwar die ethischen Auswüchse des Kinos beschneiden, aber die ästhetischen Mi߬
griffe gehen uns nichts an, da sie keinen Schaden stiften. Sondern die Sache
liegt vielmehr so: die ästhetische Minderwertigkeit der Kinodramen ist geradezu
die Hauptursache ihrer ethisch verderblichen Wirkung, denn ihr grausiger Inhalt
wird nicht durch die Kunst eines wahren Dichters in seiner Wirkung abgeschwächt
und vertilgt. Die ästhetischen Fehler eines solchen Stückes werden immer gleich
in ethische Gefahren umgesetzt, weil der Schutzwall fehlt, den die künstlerische
Formulierung bieten würde. Deshalb ist es ja auch so verkehrt, wenn man
die Verteidigung des Nackten in der bildenden Kunst, die gewiß ihre volle Be¬
rechtigung hat, auch auf die Photographie oder gar auf das Leben, auf Nackt¬
tänze u. tgi. ausdehnen möchte. Was für die Kunst gilt, gilt eben für die
Natur oder für die Pseudokunst nicht. Wir haben nicht das geringste Interesse
daran, minderwertige Kunst unter dem Vorwande zu schützen, daß die wahre
Kunst keine polizeiliche Maßregelung vertrage. Eben deshalb müssen wir uns
von dem falschen Vorurteil frei machen, daß das Lichtspieltheater gegen polizei¬
liche Bevormundung geschützt werden müsse, weil es Kunst sei. Im Gegenteil,
es braucht nicht dagegen geschützt zu werden, weil es keine Kunst, wenigstens
in den Vorführungen, um die es sich hier handelt, keine Kunst ist.

Dann wird man aber auch einsehen, wie verkehrt es ist, wenn gesagt wird:
da wir beim Theater keine ästhetische Zensur wollen, müssen wir sie kom-


Die „Kunst" des Lichtspieltheaters

durchaus nicht einzusehen, warum der Einfluß auf die Kriminalität, der für die
Schundlektüre längst nachgewiesen ist und bei so vielen Verbrechern festgestellt
werden kann, beim Lichtspieltheater, das doch viel stärker als die Lektüre
auf das ganze Gefühlsleben einwirkt, nicht vorhanden sein soll. Das ist eben
der Punkt, wo sich der Unterschied von Kunst und Unkunst am deutlichsten zeigt.
Die wahre Kunst regt uns nicht unmittelbar zum Handeln an, weil sie nur
ästhetischer Schein ist. Sie wirkt nicht direkt ethisch auf uns ein. sondern
läßt uns nur bei der Anschauung verharren. Die Pseudokunst des Kine¬
matographen dagegen muß notwendig Handlungen auslösen, eben weil sie nicht
Kunst, sondern Wirklichkeit, raffiniert vorgeführte Wirklichkeit ist. Wenn es
schon Menschen gibt, die der Meinung sind, daß eine nackte Venus Tizians
leicht erregbare Menschen zu sexuellen Exzessen verleiten kann, wie groß muß da
erst die Wirkung all dieser unmoralischen und verbrecherischen Handlungen sein,
die uns im Lichtspieltheater vorgeführt werden? Eine Venus Tizians ist doch
wenigstens durch die Kunst der Darstellung in ein höheres Niveau empor¬
gehoben, wo sie jenseits von Gut und Böse steht. Ein Mordfilm oder ein
sexueller Filu dagegen ist in den meisten Fällen nicht einmal künstlerisch ein¬
gekleidet, muß also mit der brutalen Kraft der Wirklichkeit auf erregbare Menschen,
besonders Kinder und Ungebildete wirken.

Gerade deshalb ist es nun aber auch unzulässig, beim Lichtspieltheater die
ästhetischen und ethischen Wirkungen so scharf voneinander zu scheiden, wie es
die toleranten Kritiker durchaus möchten. Man kann nicht sagen: wir wollen
zwar die ethischen Auswüchse des Kinos beschneiden, aber die ästhetischen Mi߬
griffe gehen uns nichts an, da sie keinen Schaden stiften. Sondern die Sache
liegt vielmehr so: die ästhetische Minderwertigkeit der Kinodramen ist geradezu
die Hauptursache ihrer ethisch verderblichen Wirkung, denn ihr grausiger Inhalt
wird nicht durch die Kunst eines wahren Dichters in seiner Wirkung abgeschwächt
und vertilgt. Die ästhetischen Fehler eines solchen Stückes werden immer gleich
in ethische Gefahren umgesetzt, weil der Schutzwall fehlt, den die künstlerische
Formulierung bieten würde. Deshalb ist es ja auch so verkehrt, wenn man
die Verteidigung des Nackten in der bildenden Kunst, die gewiß ihre volle Be¬
rechtigung hat, auch auf die Photographie oder gar auf das Leben, auf Nackt¬
tänze u. tgi. ausdehnen möchte. Was für die Kunst gilt, gilt eben für die
Natur oder für die Pseudokunst nicht. Wir haben nicht das geringste Interesse
daran, minderwertige Kunst unter dem Vorwande zu schützen, daß die wahre
Kunst keine polizeiliche Maßregelung vertrage. Eben deshalb müssen wir uns
von dem falschen Vorurteil frei machen, daß das Lichtspieltheater gegen polizei¬
liche Bevormundung geschützt werden müsse, weil es Kunst sei. Im Gegenteil,
es braucht nicht dagegen geschützt zu werden, weil es keine Kunst, wenigstens
in den Vorführungen, um die es sich hier handelt, keine Kunst ist.

Dann wird man aber auch einsehen, wie verkehrt es ist, wenn gesagt wird:
da wir beim Theater keine ästhetische Zensur wollen, müssen wir sie kom-


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[0528] Die „Kunst" des Lichtspieltheaters durchaus nicht einzusehen, warum der Einfluß auf die Kriminalität, der für die Schundlektüre längst nachgewiesen ist und bei so vielen Verbrechern festgestellt werden kann, beim Lichtspieltheater, das doch viel stärker als die Lektüre auf das ganze Gefühlsleben einwirkt, nicht vorhanden sein soll. Das ist eben der Punkt, wo sich der Unterschied von Kunst und Unkunst am deutlichsten zeigt. Die wahre Kunst regt uns nicht unmittelbar zum Handeln an, weil sie nur ästhetischer Schein ist. Sie wirkt nicht direkt ethisch auf uns ein. sondern läßt uns nur bei der Anschauung verharren. Die Pseudokunst des Kine¬ matographen dagegen muß notwendig Handlungen auslösen, eben weil sie nicht Kunst, sondern Wirklichkeit, raffiniert vorgeführte Wirklichkeit ist. Wenn es schon Menschen gibt, die der Meinung sind, daß eine nackte Venus Tizians leicht erregbare Menschen zu sexuellen Exzessen verleiten kann, wie groß muß da erst die Wirkung all dieser unmoralischen und verbrecherischen Handlungen sein, die uns im Lichtspieltheater vorgeführt werden? Eine Venus Tizians ist doch wenigstens durch die Kunst der Darstellung in ein höheres Niveau empor¬ gehoben, wo sie jenseits von Gut und Böse steht. Ein Mordfilm oder ein sexueller Filu dagegen ist in den meisten Fällen nicht einmal künstlerisch ein¬ gekleidet, muß also mit der brutalen Kraft der Wirklichkeit auf erregbare Menschen, besonders Kinder und Ungebildete wirken. Gerade deshalb ist es nun aber auch unzulässig, beim Lichtspieltheater die ästhetischen und ethischen Wirkungen so scharf voneinander zu scheiden, wie es die toleranten Kritiker durchaus möchten. Man kann nicht sagen: wir wollen zwar die ethischen Auswüchse des Kinos beschneiden, aber die ästhetischen Mi߬ griffe gehen uns nichts an, da sie keinen Schaden stiften. Sondern die Sache liegt vielmehr so: die ästhetische Minderwertigkeit der Kinodramen ist geradezu die Hauptursache ihrer ethisch verderblichen Wirkung, denn ihr grausiger Inhalt wird nicht durch die Kunst eines wahren Dichters in seiner Wirkung abgeschwächt und vertilgt. Die ästhetischen Fehler eines solchen Stückes werden immer gleich in ethische Gefahren umgesetzt, weil der Schutzwall fehlt, den die künstlerische Formulierung bieten würde. Deshalb ist es ja auch so verkehrt, wenn man die Verteidigung des Nackten in der bildenden Kunst, die gewiß ihre volle Be¬ rechtigung hat, auch auf die Photographie oder gar auf das Leben, auf Nackt¬ tänze u. tgi. ausdehnen möchte. Was für die Kunst gilt, gilt eben für die Natur oder für die Pseudokunst nicht. Wir haben nicht das geringste Interesse daran, minderwertige Kunst unter dem Vorwande zu schützen, daß die wahre Kunst keine polizeiliche Maßregelung vertrage. Eben deshalb müssen wir uns von dem falschen Vorurteil frei machen, daß das Lichtspieltheater gegen polizei¬ liche Bevormundung geschützt werden müsse, weil es Kunst sei. Im Gegenteil, es braucht nicht dagegen geschützt zu werden, weil es keine Kunst, wenigstens in den Vorführungen, um die es sich hier handelt, keine Kunst ist. Dann wird man aber auch einsehen, wie verkehrt es ist, wenn gesagt wird: da wir beim Theater keine ästhetische Zensur wollen, müssen wir sie kom-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/528>, abgerufen am 27.07.2024.