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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Sturm

Das Endergebnis seiner Selbstbetrachtung war frostige Resignation. Er
nahm das Papiermesser und schnitt Ediths Brief mit aller Sorgfalt auf. Er
hatte keine Scheu mehr vor ihm, der aus zwei engbeschriebenen Bogen bestand:

Sternburg. 27. September 1905.


Lieber Vetter!

Längst war ein Brief von Ihnen fällig. Daß er nicht eintraf, deute ich
mir als Strafe für meine Bemerkung über Ihre Beziehungen zur hübschen
Angölique. Wenn ich Ihnen heute trotzdem und ausführlicher als sonst schreibe,
so brauchen Sie das nicht als Ausdruck von Reue zu nehmen.

Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen über die außergewöhnlichen Dinge
zu berichten, die bei uns im Land und in Ihrem Vaterhaus vorgehen, denn,
wenn sie auch auf den Revaler Beobachter abonniere sind, so gewinnen Sie doch
kaum ein richtiges Bild daraus.

Streiks sind auch bei uns leine neue Erscheinung, und Brandstiftungen
kamen ebenso wie gelegentlich Raubanfälle im Walde vor. Die Presse redete
etwas zu voreilig von "Revolution". Aber jetzt hat es wirklich den Anschein,
als sollte sie auch unser Estland in Flammen setzen!

Zwar verlief der Septembertermin in Reval wie üblich. Steife Visiten bei
alten Tanten, Routs, Einkäufe, Bälle: das Ereignis war natürlich wieder der
Aktienball. Wie immer wiegten sich Estlands Edelfräulein im Kerzenlicht der
alten Kandelaber -- ein Feld von bunten Blumen in der Sommerluft -- doch
herrschte eine ganz besondere Stimmung: die Ballgespräche waren weniger banal
als früher und, wie sehr die Jugend auch geneigt war, die Ereignisse auf die
leichte Achsel zu nehmen -- sie gruselte sich doch etwas. Das alte Ritterblut
wurde in den Kavalieren wach, und ihr wortreicher Mut berauschte uns zarte
Mädchen mehr als alle galanten Huldigungen.

Auch bei den alten Herren löste diesmal der Champagner nicht die her¬
gebrachten Witze und Anekdoten aus. Es war fast mehr eine politische Ver¬
sammlung als eine Ballgesellschaft. Soviel ich bemerken konnte, hatten die
Zuversichtlichen die Oberhand. Sie fühlen sich sicher unter dem Schutz des
Militärs, der uns vom Gouverneur zugesagt ist. Baron Schledchausen teilt
ihre Meinung nicht. Er war mit schweren Befürchtungen aus Petersburg
gekommen. Meinem Vater gegenüber ließ er sich offen aus. "Wir kämpfen
gegen zwei Fronten," sagte er. "Die eine davon ist versteckt, und mir scheint,
von ihr droht uns die größere Gefahr!" Sie werden die Worte verstehen,
Vetter! Sind wir nicht die Stiefkinder unseres geliebten Väterchens? Auch die
Toaste beim Souper standen unter dem Eindruck der letzten bewegten Wochen.
Papa richtete an die Jugend des Landes in seiner knorrigen Art ganz famose
Worte. Die Ehrfurcht vor ererbten Überlieferungen dürfte uns nicht den Blick
trüben für die Forderung der neuen Zeit. "Schlagen wir Tore in die Mauern,
die uns vom Volke trennen, so werden wir am besten verhüten, daß sie gewalt¬
sam niedergerissen werden."


Sturm

Das Endergebnis seiner Selbstbetrachtung war frostige Resignation. Er
nahm das Papiermesser und schnitt Ediths Brief mit aller Sorgfalt auf. Er
hatte keine Scheu mehr vor ihm, der aus zwei engbeschriebenen Bogen bestand:

Sternburg. 27. September 1905.


Lieber Vetter!

Längst war ein Brief von Ihnen fällig. Daß er nicht eintraf, deute ich
mir als Strafe für meine Bemerkung über Ihre Beziehungen zur hübschen
Angölique. Wenn ich Ihnen heute trotzdem und ausführlicher als sonst schreibe,
so brauchen Sie das nicht als Ausdruck von Reue zu nehmen.

Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen über die außergewöhnlichen Dinge
zu berichten, die bei uns im Land und in Ihrem Vaterhaus vorgehen, denn,
wenn sie auch auf den Revaler Beobachter abonniere sind, so gewinnen Sie doch
kaum ein richtiges Bild daraus.

Streiks sind auch bei uns leine neue Erscheinung, und Brandstiftungen
kamen ebenso wie gelegentlich Raubanfälle im Walde vor. Die Presse redete
etwas zu voreilig von „Revolution". Aber jetzt hat es wirklich den Anschein,
als sollte sie auch unser Estland in Flammen setzen!

Zwar verlief der Septembertermin in Reval wie üblich. Steife Visiten bei
alten Tanten, Routs, Einkäufe, Bälle: das Ereignis war natürlich wieder der
Aktienball. Wie immer wiegten sich Estlands Edelfräulein im Kerzenlicht der
alten Kandelaber — ein Feld von bunten Blumen in der Sommerluft — doch
herrschte eine ganz besondere Stimmung: die Ballgespräche waren weniger banal
als früher und, wie sehr die Jugend auch geneigt war, die Ereignisse auf die
leichte Achsel zu nehmen — sie gruselte sich doch etwas. Das alte Ritterblut
wurde in den Kavalieren wach, und ihr wortreicher Mut berauschte uns zarte
Mädchen mehr als alle galanten Huldigungen.

Auch bei den alten Herren löste diesmal der Champagner nicht die her¬
gebrachten Witze und Anekdoten aus. Es war fast mehr eine politische Ver¬
sammlung als eine Ballgesellschaft. Soviel ich bemerken konnte, hatten die
Zuversichtlichen die Oberhand. Sie fühlen sich sicher unter dem Schutz des
Militärs, der uns vom Gouverneur zugesagt ist. Baron Schledchausen teilt
ihre Meinung nicht. Er war mit schweren Befürchtungen aus Petersburg
gekommen. Meinem Vater gegenüber ließ er sich offen aus. „Wir kämpfen
gegen zwei Fronten," sagte er. „Die eine davon ist versteckt, und mir scheint,
von ihr droht uns die größere Gefahr!" Sie werden die Worte verstehen,
Vetter! Sind wir nicht die Stiefkinder unseres geliebten Väterchens? Auch die
Toaste beim Souper standen unter dem Eindruck der letzten bewegten Wochen.
Papa richtete an die Jugend des Landes in seiner knorrigen Art ganz famose
Worte. Die Ehrfurcht vor ererbten Überlieferungen dürfte uns nicht den Blick
trüben für die Forderung der neuen Zeit. „Schlagen wir Tore in die Mauern,
die uns vom Volke trennen, so werden wir am besten verhüten, daß sie gewalt¬
sam niedergerissen werden."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/493>, abgerufen am 27.07.2024.