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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Sturm

Doktor Wasslijew blieb stehen: "Was hör ich? Pawel Alexandrowitsch
hat Augen für das andere Geschlecht bekommen? Nun bin ich aber wirklich
neugierig!"

Als die beiden Freunde wenige Minuten später, tief aufatmend auf dem
Felsenvorsprung standen, brummte der Russe gut gelaunt in seinen buschigen
Bart:

"Es sei Ihnen vergeben!"

Tief unter ihnen lag eine leuchtende Welt.

Auf den Kriegsschiffen im Hafen von Villefranche flammten verschieden¬
farbige Signale auf. Ein mächtiger Panzer nahte sich vom Meere und schnitt
in die dunklen Wogen seine silberne Bahn. Die roten und blauen und grünen
Lichter des verankerten Geschwaders, die sich eben noch ruhig im Wasser ge¬
spiegelt hatten, gerieten in zitternde Bewegung.

"Was für ein Feuerwerk man Ihnen zu Ehren abbrennt, Doktor!" sagte
Paul von der Borke. "Blicken Sie um sich! Dort die Perlenkette sind die
Lichter der Promenade des Anglais in Nizza, und hier zur Linken sehen Sie
Monte Carlos nächtige Aureole. Da -- erkennen Sie das massige Gebäude,
das der Scheinwerfer jetzt aus dem Dunkel holt? Der alte Kasten ist unser
Laboratorium, ein Stück Rußland auf französischem Boden. Da sitze ich nun
schon drei Jahre lang am Mikroskop und habe alle eure Politik darüber ver¬
gessen."

"Ähnlich wie ich in Rom bei meinen Plänen und Rissen. Bis man eines
schönen Tages daran erinnert wird. Äh! Wissen Sie, daß ich mir in all den
Jahren im Grunde doch immer wie ein Fahnenflüchtiger vorgekommen bin?
Und die Stellung in Petersburg habe ich eigentlich nur angenommen, um als
Russe wieder meine Pflicht zu tun. Leute wie wir, modern, aufgeklärt, mit
unseren Ansprüchen auf Freiheit, nicht nur der Wissenschaft, sondern überhaupt
der Weltanschauung, die werden zu Hause gebraucht. Einfach da sein gilt es.
Unsere bloße Anwesenheit ist ein Bollwerk gegen die Finsternis."

"Mensch!" Paul von der Borke schlug seinem Gast kordial auf die
Schulter. "Heute sollten Sie wirklich mal ihr Sorgenbündel absetzen. Sie
mögen recht haben, Sie haben ganz gewiß recht, aber verdüstern wir uns
doch nicht die paar Stunden, die Sie mir schenken können. Kommen Sie, --
ist denn niemand da: Angölique, ma petits mouclie, wo steckst du? Bringe
uns Wein und Obst und Käse!"

Paul hatte es zur Tür der kleinen Buvette hineingerufen. Aus der Küche
antwortete eine helle Stimme: "Lubito, subito!" Die Freunde setzten sich auf
die Bank vor dem Häuschen in die Nacht der Weinlaube und warteten schweigend
auf das Bestellte.

In den Blättern über ihnen regte es sich geheimnisvoll. Nachtfalter
raschelten mit schwirrenden Flügeln, und Millionen Lichter erwachten in dem
unermeßlichen, blaudunklen Luftraum vor ihnen. Von ihrer Bank aus schien


31*
Sturm

Doktor Wasslijew blieb stehen: „Was hör ich? Pawel Alexandrowitsch
hat Augen für das andere Geschlecht bekommen? Nun bin ich aber wirklich
neugierig!"

Als die beiden Freunde wenige Minuten später, tief aufatmend auf dem
Felsenvorsprung standen, brummte der Russe gut gelaunt in seinen buschigen
Bart:

„Es sei Ihnen vergeben!"

Tief unter ihnen lag eine leuchtende Welt.

Auf den Kriegsschiffen im Hafen von Villefranche flammten verschieden¬
farbige Signale auf. Ein mächtiger Panzer nahte sich vom Meere und schnitt
in die dunklen Wogen seine silberne Bahn. Die roten und blauen und grünen
Lichter des verankerten Geschwaders, die sich eben noch ruhig im Wasser ge¬
spiegelt hatten, gerieten in zitternde Bewegung.

„Was für ein Feuerwerk man Ihnen zu Ehren abbrennt, Doktor!" sagte
Paul von der Borke. „Blicken Sie um sich! Dort die Perlenkette sind die
Lichter der Promenade des Anglais in Nizza, und hier zur Linken sehen Sie
Monte Carlos nächtige Aureole. Da — erkennen Sie das massige Gebäude,
das der Scheinwerfer jetzt aus dem Dunkel holt? Der alte Kasten ist unser
Laboratorium, ein Stück Rußland auf französischem Boden. Da sitze ich nun
schon drei Jahre lang am Mikroskop und habe alle eure Politik darüber ver¬
gessen."

„Ähnlich wie ich in Rom bei meinen Plänen und Rissen. Bis man eines
schönen Tages daran erinnert wird. Äh! Wissen Sie, daß ich mir in all den
Jahren im Grunde doch immer wie ein Fahnenflüchtiger vorgekommen bin?
Und die Stellung in Petersburg habe ich eigentlich nur angenommen, um als
Russe wieder meine Pflicht zu tun. Leute wie wir, modern, aufgeklärt, mit
unseren Ansprüchen auf Freiheit, nicht nur der Wissenschaft, sondern überhaupt
der Weltanschauung, die werden zu Hause gebraucht. Einfach da sein gilt es.
Unsere bloße Anwesenheit ist ein Bollwerk gegen die Finsternis."

„Mensch!" Paul von der Borke schlug seinem Gast kordial auf die
Schulter. „Heute sollten Sie wirklich mal ihr Sorgenbündel absetzen. Sie
mögen recht haben, Sie haben ganz gewiß recht, aber verdüstern wir uns
doch nicht die paar Stunden, die Sie mir schenken können. Kommen Sie, —
ist denn niemand da: Angölique, ma petits mouclie, wo steckst du? Bringe
uns Wein und Obst und Käse!"

Paul hatte es zur Tür der kleinen Buvette hineingerufen. Aus der Küche
antwortete eine helle Stimme: „Lubito, subito!" Die Freunde setzten sich auf
die Bank vor dem Häuschen in die Nacht der Weinlaube und warteten schweigend
auf das Bestellte.

In den Blättern über ihnen regte es sich geheimnisvoll. Nachtfalter
raschelten mit schwirrenden Flügeln, und Millionen Lichter erwachten in dem
unermeßlichen, blaudunklen Luftraum vor ihnen. Von ihrer Bank aus schien


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[0487] Sturm Doktor Wasslijew blieb stehen: „Was hör ich? Pawel Alexandrowitsch hat Augen für das andere Geschlecht bekommen? Nun bin ich aber wirklich neugierig!" Als die beiden Freunde wenige Minuten später, tief aufatmend auf dem Felsenvorsprung standen, brummte der Russe gut gelaunt in seinen buschigen Bart: „Es sei Ihnen vergeben!" Tief unter ihnen lag eine leuchtende Welt. Auf den Kriegsschiffen im Hafen von Villefranche flammten verschieden¬ farbige Signale auf. Ein mächtiger Panzer nahte sich vom Meere und schnitt in die dunklen Wogen seine silberne Bahn. Die roten und blauen und grünen Lichter des verankerten Geschwaders, die sich eben noch ruhig im Wasser ge¬ spiegelt hatten, gerieten in zitternde Bewegung. „Was für ein Feuerwerk man Ihnen zu Ehren abbrennt, Doktor!" sagte Paul von der Borke. „Blicken Sie um sich! Dort die Perlenkette sind die Lichter der Promenade des Anglais in Nizza, und hier zur Linken sehen Sie Monte Carlos nächtige Aureole. Da — erkennen Sie das massige Gebäude, das der Scheinwerfer jetzt aus dem Dunkel holt? Der alte Kasten ist unser Laboratorium, ein Stück Rußland auf französischem Boden. Da sitze ich nun schon drei Jahre lang am Mikroskop und habe alle eure Politik darüber ver¬ gessen." „Ähnlich wie ich in Rom bei meinen Plänen und Rissen. Bis man eines schönen Tages daran erinnert wird. Äh! Wissen Sie, daß ich mir in all den Jahren im Grunde doch immer wie ein Fahnenflüchtiger vorgekommen bin? Und die Stellung in Petersburg habe ich eigentlich nur angenommen, um als Russe wieder meine Pflicht zu tun. Leute wie wir, modern, aufgeklärt, mit unseren Ansprüchen auf Freiheit, nicht nur der Wissenschaft, sondern überhaupt der Weltanschauung, die werden zu Hause gebraucht. Einfach da sein gilt es. Unsere bloße Anwesenheit ist ein Bollwerk gegen die Finsternis." „Mensch!" Paul von der Borke schlug seinem Gast kordial auf die Schulter. „Heute sollten Sie wirklich mal ihr Sorgenbündel absetzen. Sie mögen recht haben, Sie haben ganz gewiß recht, aber verdüstern wir uns doch nicht die paar Stunden, die Sie mir schenken können. Kommen Sie, — ist denn niemand da: Angölique, ma petits mouclie, wo steckst du? Bringe uns Wein und Obst und Käse!" Paul hatte es zur Tür der kleinen Buvette hineingerufen. Aus der Küche antwortete eine helle Stimme: „Lubito, subito!" Die Freunde setzten sich auf die Bank vor dem Häuschen in die Nacht der Weinlaube und warteten schweigend auf das Bestellte. In den Blättern über ihnen regte es sich geheimnisvoll. Nachtfalter raschelten mit schwirrenden Flügeln, und Millionen Lichter erwachten in dem unermeßlichen, blaudunklen Luftraum vor ihnen. Von ihrer Bank aus schien 31*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/487>, abgerufen am 30.12.2024.