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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Deutsches Bluts- und Bodenrecht

schon unter den fränkischen Herrschern den Grundsatz gegeben, daß der Boden
eigen, wehrpflichtig und staatsangehörig mache und daß er den stammesfremden
Zuwanderer, vor allem aber auch seine, auf dem fürstlichen Territorium ge¬
borenen Kinder ohne weiteres ergreife."'

Der Gedanke, daß die Geburt auf dem Staatsboden für die Staats¬
angehörigkeit entscheidend sei, ist der wichtigste Inhalt des Territorialprinzips,
ausgebildet überall dort, wo, wie in Rußland, der von Norden vordringende
Waräger oder wo, wie in Frankreich, die burgundisch-fränkischen Staatengründer
darauf angewiesen waren, das bodenständige Volk zu sich heranzuziehen, um
schließlich selbst bodenständig zu werden.

In Rußland geriet der dünngesäete, dem Wasser entfremdete Germane
in die Steppe und in ein slawisches Nitschewo hinein. Deshalb bildete sich
dort das Bodenrecht in einem engherzigen auf das Blutsrecht völlig ver¬
zichtenden Sinne aus: erst langsam und erst in unseren Tagen löst sich Ru߬
land von einem Gesetze, das den Auswanderer verstößt und die Auswanderung
zeitweilig sogar unter Strafe stellt. So sehr hat Rußland das im Auswanderer
fortwirkende russische Blut über dem ausgeprägten russischen Bodenrechte ver¬
gessen können.

Wie anders das Seefahrerrecht der Normannen und der Angelsachsen.
Wo der Germane an "See und Sand" saß, wo das freie Meer seinen Geist
befreite, da hat er das Stammes- und Personalrecht unabhängig vom Boden¬
rechte hoch gehalten. stolzer in der Tat und schärfer konnte das Recht des
Blutes nicht zum Ausdrucke kommen, als in der "Magna Charta" von 1215:
"I^lese uruLuiqus sxire as nostro reZno -- falva kiäs nostra." -- "Jedermann
mag abwandern aus unserem Königreiche, unbeschadet der Treue zu uns."
Manchem mag freilich das "falva kiäe ne>8tra" allzusehr nach einem Zwange
des Auswanderers zur Königstreue klingen. England selbst aber hat diesem
Grundsatze der Unzerstörbarkeit seines Bürgerrechts mit seinem Gesetze vom
Jahre 1870 den Zwangscharakter genommen. Die Unzerstörbarkeit beruht
seitdem nur noch auf dem freien Willen seiner Auslandsbürger. Zudem auf
einer klugen, teils entgegenkommenden, teils ausweichenden Behandlung des
etwa freiwillig oder automatisch erworbenen fremden Bürgerrechts und endlich
auf der Wehrfreiheit, die für den Auslandsbriten eine von dem Ausland¬
deutschen grundverschiedene Lage schafft. Neben Englands kolonialer, politischer
und wirtschaftlicher Machtstellung liegt ganz überwiegend in dieser Wehrfreiheit
der unleugbare Vorsprung, den die englische Treue gegenüber der deutschen in
der Welt da draußen besitzt.

Durch das bisherige deutsche Gesetz wurde dieser Vorsprung vergrößert:
Deutschland schickt sich erst jetzt an, jene auf rein militärischen, auf rein preußisch-
binnendeutschen Grundsätzen beruhende, mehr als ein Menschenalter hindurch
in Geltung gewesene Bestimmung zu beseitigen, die den Auslandsdeutschen zwar
zehn Jahre nach der Abwanderung hindurch der Wehrpflicht halber am Reiche


Deutsches Bluts- und Bodenrecht

schon unter den fränkischen Herrschern den Grundsatz gegeben, daß der Boden
eigen, wehrpflichtig und staatsangehörig mache und daß er den stammesfremden
Zuwanderer, vor allem aber auch seine, auf dem fürstlichen Territorium ge¬
borenen Kinder ohne weiteres ergreife.«'

Der Gedanke, daß die Geburt auf dem Staatsboden für die Staats¬
angehörigkeit entscheidend sei, ist der wichtigste Inhalt des Territorialprinzips,
ausgebildet überall dort, wo, wie in Rußland, der von Norden vordringende
Waräger oder wo, wie in Frankreich, die burgundisch-fränkischen Staatengründer
darauf angewiesen waren, das bodenständige Volk zu sich heranzuziehen, um
schließlich selbst bodenständig zu werden.

In Rußland geriet der dünngesäete, dem Wasser entfremdete Germane
in die Steppe und in ein slawisches Nitschewo hinein. Deshalb bildete sich
dort das Bodenrecht in einem engherzigen auf das Blutsrecht völlig ver¬
zichtenden Sinne aus: erst langsam und erst in unseren Tagen löst sich Ru߬
land von einem Gesetze, das den Auswanderer verstößt und die Auswanderung
zeitweilig sogar unter Strafe stellt. So sehr hat Rußland das im Auswanderer
fortwirkende russische Blut über dem ausgeprägten russischen Bodenrechte ver¬
gessen können.

Wie anders das Seefahrerrecht der Normannen und der Angelsachsen.
Wo der Germane an „See und Sand" saß, wo das freie Meer seinen Geist
befreite, da hat er das Stammes- und Personalrecht unabhängig vom Boden¬
rechte hoch gehalten. stolzer in der Tat und schärfer konnte das Recht des
Blutes nicht zum Ausdrucke kommen, als in der „Magna Charta" von 1215:
„I^lese uruLuiqus sxire as nostro reZno — falva kiäs nostra." — „Jedermann
mag abwandern aus unserem Königreiche, unbeschadet der Treue zu uns."
Manchem mag freilich das „falva kiäe ne>8tra" allzusehr nach einem Zwange
des Auswanderers zur Königstreue klingen. England selbst aber hat diesem
Grundsatze der Unzerstörbarkeit seines Bürgerrechts mit seinem Gesetze vom
Jahre 1870 den Zwangscharakter genommen. Die Unzerstörbarkeit beruht
seitdem nur noch auf dem freien Willen seiner Auslandsbürger. Zudem auf
einer klugen, teils entgegenkommenden, teils ausweichenden Behandlung des
etwa freiwillig oder automatisch erworbenen fremden Bürgerrechts und endlich
auf der Wehrfreiheit, die für den Auslandsbriten eine von dem Ausland¬
deutschen grundverschiedene Lage schafft. Neben Englands kolonialer, politischer
und wirtschaftlicher Machtstellung liegt ganz überwiegend in dieser Wehrfreiheit
der unleugbare Vorsprung, den die englische Treue gegenüber der deutschen in
der Welt da draußen besitzt.

Durch das bisherige deutsche Gesetz wurde dieser Vorsprung vergrößert:
Deutschland schickt sich erst jetzt an, jene auf rein militärischen, auf rein preußisch-
binnendeutschen Grundsätzen beruhende, mehr als ein Menschenalter hindurch
in Geltung gewesene Bestimmung zu beseitigen, die den Auslandsdeutschen zwar
zehn Jahre nach der Abwanderung hindurch der Wehrpflicht halber am Reiche


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[0465] Deutsches Bluts- und Bodenrecht schon unter den fränkischen Herrschern den Grundsatz gegeben, daß der Boden eigen, wehrpflichtig und staatsangehörig mache und daß er den stammesfremden Zuwanderer, vor allem aber auch seine, auf dem fürstlichen Territorium ge¬ borenen Kinder ohne weiteres ergreife.«' Der Gedanke, daß die Geburt auf dem Staatsboden für die Staats¬ angehörigkeit entscheidend sei, ist der wichtigste Inhalt des Territorialprinzips, ausgebildet überall dort, wo, wie in Rußland, der von Norden vordringende Waräger oder wo, wie in Frankreich, die burgundisch-fränkischen Staatengründer darauf angewiesen waren, das bodenständige Volk zu sich heranzuziehen, um schließlich selbst bodenständig zu werden. In Rußland geriet der dünngesäete, dem Wasser entfremdete Germane in die Steppe und in ein slawisches Nitschewo hinein. Deshalb bildete sich dort das Bodenrecht in einem engherzigen auf das Blutsrecht völlig ver¬ zichtenden Sinne aus: erst langsam und erst in unseren Tagen löst sich Ru߬ land von einem Gesetze, das den Auswanderer verstößt und die Auswanderung zeitweilig sogar unter Strafe stellt. So sehr hat Rußland das im Auswanderer fortwirkende russische Blut über dem ausgeprägten russischen Bodenrechte ver¬ gessen können. Wie anders das Seefahrerrecht der Normannen und der Angelsachsen. Wo der Germane an „See und Sand" saß, wo das freie Meer seinen Geist befreite, da hat er das Stammes- und Personalrecht unabhängig vom Boden¬ rechte hoch gehalten. stolzer in der Tat und schärfer konnte das Recht des Blutes nicht zum Ausdrucke kommen, als in der „Magna Charta" von 1215: „I^lese uruLuiqus sxire as nostro reZno — falva kiäs nostra." — „Jedermann mag abwandern aus unserem Königreiche, unbeschadet der Treue zu uns." Manchem mag freilich das „falva kiäe ne>8tra" allzusehr nach einem Zwange des Auswanderers zur Königstreue klingen. England selbst aber hat diesem Grundsatze der Unzerstörbarkeit seines Bürgerrechts mit seinem Gesetze vom Jahre 1870 den Zwangscharakter genommen. Die Unzerstörbarkeit beruht seitdem nur noch auf dem freien Willen seiner Auslandsbürger. Zudem auf einer klugen, teils entgegenkommenden, teils ausweichenden Behandlung des etwa freiwillig oder automatisch erworbenen fremden Bürgerrechts und endlich auf der Wehrfreiheit, die für den Auslandsbriten eine von dem Ausland¬ deutschen grundverschiedene Lage schafft. Neben Englands kolonialer, politischer und wirtschaftlicher Machtstellung liegt ganz überwiegend in dieser Wehrfreiheit der unleugbare Vorsprung, den die englische Treue gegenüber der deutschen in der Welt da draußen besitzt. Durch das bisherige deutsche Gesetz wurde dieser Vorsprung vergrößert: Deutschland schickt sich erst jetzt an, jene auf rein militärischen, auf rein preußisch- binnendeutschen Grundsätzen beruhende, mehr als ein Menschenalter hindurch in Geltung gewesene Bestimmung zu beseitigen, die den Auslandsdeutschen zwar zehn Jahre nach der Abwanderung hindurch der Wehrpflicht halber am Reiche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/465>, abgerufen am 27.07.2024.