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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Deutsche ZVeltxolitik nach der Grientkrisis

das überlegen sollen. Auch in solchen Kleinigkeiten muß man auf die Wirkung
bedacht und der Verantwortung sich bewußt sein. Ich fürchte, daß gerade der
Titel, dem übrigens der Inhalt keineswegs etwa in Friedensseligkeit und der¬
gleichen entspricht, manchen abschrecken wird, die Schrift zur Hand zu nehmen.

Diesem Inhalte aber rechtfertigt es sich näherzutreten. Denn wie man
sich im einzelnen auch zu ihrem Gedankengang stellt, die Schrift ragt durch
ruhige und sehr kenntnisreiche Betrachtung der großen Politik sehr hoch über
ähnliche Erzeugnisse hervor. Mit Rücksicht auf gegenteilige Behauptungen sei
übrigens besonders betont, daß die Schrift in keiner Weise offiziösen oder
offiziellen Ursprunges ist.

Die Lage Deutschlands wird darin von jenem Grundgedanken aus unter¬
sucht, daß eine deutsche Expansion, über deren Begründung und Notwendigkeit
kein Wort weiter zu verlieren ist, mit friedlichen Mitteln und ohne Krieg in
heutiger Zeit durchführbar sei. Doch sei zu dem Motiv deutscher Expansion
hier eins besonders bemerkt. Es hat sich im letzten Jahrzehnt einigermaßen
gewandelt, insofern die alte Anschauung, daß Deutschland für seinen Bevölkerungs¬
überschuß Ackerbaukolonien brauche, zunächst widerlegt ist durch die Tatsache,
daß nicht nur dieser Überschuß seine Nahrung in Deutschland findet, sondern,
wie bekannt, wir sogar alljährlich Hunderttausende nichtdeutscher Arbeiter heran¬
ziehen müssen. Und wenn Land für den Überschuß gebraucht wird, so ist dieses
in unserem Osten ja reichlich vorhanden. Aber damit ist diese Frage nicht
abgemacht. Wir haben heute zwar keinen Überschuß an Masse, den wir nach
außen abzugeben hätten, wohl aber einen solchen Überschuß an Intelligenz. Die sehr
ernste Frage, was auf die Dauer mit der immer mehr anschwellenden Menge
akademisch Gebildeter werden soll, wird jetzt zu einem Motiv unserer Expansion.
Wir brauchen Gebiete, wohin wir derartige Kräfte abgeben können, wo diese
natürlich nicht selbst mit den Händen zu arbeiten hätten, sondern wo sie
die Organisierung der Arbeit zu übernehmen und zu leiten hätten. Das trifft
zusammen mit der anderen Notwendigkeit, daß unserer Volkswirtschaft immer
mehr Rohstoff liefernde tropische und halbtropische Gebiete angegliedert werden
müssen.

Wir stimmen dem Verfasser der Schrift darin zu, daß die Rückendeckung
in Europa gegeben sein muß durch den Dreibund, dessen rein defensiver Charakter
gegenüber mancherlei Überspannungen der Gegenwart mit Recht ausführlich
betont wird, und durch freundliche Beziehungen zu Rußland. Zu dieser einen
unerschütterlichen Grundtatsache unserer großen Politik kommt die andere hinzu,
daß, wie es hier ausgedrückt wird, die deutsche Expansion unter allen Umständen
an den Kanonen der englischen Nordseeflotte vorbei muß. Von diesen beiden
Grundtatsachen aus ist die Frage zu stellen: wo liegt die Richtung oder
wo liegen die Richtungen einer deutschen Expansion?




Deutsche ZVeltxolitik nach der Grientkrisis

das überlegen sollen. Auch in solchen Kleinigkeiten muß man auf die Wirkung
bedacht und der Verantwortung sich bewußt sein. Ich fürchte, daß gerade der
Titel, dem übrigens der Inhalt keineswegs etwa in Friedensseligkeit und der¬
gleichen entspricht, manchen abschrecken wird, die Schrift zur Hand zu nehmen.

Diesem Inhalte aber rechtfertigt es sich näherzutreten. Denn wie man
sich im einzelnen auch zu ihrem Gedankengang stellt, die Schrift ragt durch
ruhige und sehr kenntnisreiche Betrachtung der großen Politik sehr hoch über
ähnliche Erzeugnisse hervor. Mit Rücksicht auf gegenteilige Behauptungen sei
übrigens besonders betont, daß die Schrift in keiner Weise offiziösen oder
offiziellen Ursprunges ist.

Die Lage Deutschlands wird darin von jenem Grundgedanken aus unter¬
sucht, daß eine deutsche Expansion, über deren Begründung und Notwendigkeit
kein Wort weiter zu verlieren ist, mit friedlichen Mitteln und ohne Krieg in
heutiger Zeit durchführbar sei. Doch sei zu dem Motiv deutscher Expansion
hier eins besonders bemerkt. Es hat sich im letzten Jahrzehnt einigermaßen
gewandelt, insofern die alte Anschauung, daß Deutschland für seinen Bevölkerungs¬
überschuß Ackerbaukolonien brauche, zunächst widerlegt ist durch die Tatsache,
daß nicht nur dieser Überschuß seine Nahrung in Deutschland findet, sondern,
wie bekannt, wir sogar alljährlich Hunderttausende nichtdeutscher Arbeiter heran¬
ziehen müssen. Und wenn Land für den Überschuß gebraucht wird, so ist dieses
in unserem Osten ja reichlich vorhanden. Aber damit ist diese Frage nicht
abgemacht. Wir haben heute zwar keinen Überschuß an Masse, den wir nach
außen abzugeben hätten, wohl aber einen solchen Überschuß an Intelligenz. Die sehr
ernste Frage, was auf die Dauer mit der immer mehr anschwellenden Menge
akademisch Gebildeter werden soll, wird jetzt zu einem Motiv unserer Expansion.
Wir brauchen Gebiete, wohin wir derartige Kräfte abgeben können, wo diese
natürlich nicht selbst mit den Händen zu arbeiten hätten, sondern wo sie
die Organisierung der Arbeit zu übernehmen und zu leiten hätten. Das trifft
zusammen mit der anderen Notwendigkeit, daß unserer Volkswirtschaft immer
mehr Rohstoff liefernde tropische und halbtropische Gebiete angegliedert werden
müssen.

Wir stimmen dem Verfasser der Schrift darin zu, daß die Rückendeckung
in Europa gegeben sein muß durch den Dreibund, dessen rein defensiver Charakter
gegenüber mancherlei Überspannungen der Gegenwart mit Recht ausführlich
betont wird, und durch freundliche Beziehungen zu Rußland. Zu dieser einen
unerschütterlichen Grundtatsache unserer großen Politik kommt die andere hinzu,
daß, wie es hier ausgedrückt wird, die deutsche Expansion unter allen Umständen
an den Kanonen der englischen Nordseeflotte vorbei muß. Von diesen beiden
Grundtatsachen aus ist die Frage zu stellen: wo liegt die Richtung oder
wo liegen die Richtungen einer deutschen Expansion?




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/456>, abgerufen am 28.07.2024.