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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Londoner Brief

dreier mohammedanischer Länder unter fremde Botmäßigkeit -- Marokkos,
Tripolis' und Perstens -- geduldet oder sogar begünstigt, und im Balkankrieg
keine türkenfreundliche Haltung eingenommen. Dies hat zu einem vollständigen
Frontwechsel der indischen Mohammedaner geführt. Bisher gehörten diese
fünfundsechzig Millionen Moslems in Indien zu den treuesten Untertanen
Georgs des Fünften. Im Gegensatz zu der nationabindischen Bewegung fühlten
sie, die doch unter den dreihundert Millionen Jndiern nur eine Minderheit bilden,
ihre Rechte am besten unter dem herrschenden aufgeklärten Absolutismus gewahrt.
Darin brachte die antimohammedanische Politik Englands während der letzten
Jahre eine gründliche Änderung. Vor wenigen Wochen beschloß der zu Lucknow
tagende Kongreß der All Jndia Moslem League die Fühlung mit den Auto¬
nomiebestrebungen der Hindus aufzunehmen. Das heißt mit anderen Worten:
der indische Islam hat das Vertrauen zur Krone verloren und glaubt in
Zukunft seine Rechte im Rahmen der nationalindischen Bewegung besser zur
Geltung bringen zu können. Kenner indischer Verhältnisse weisen mit besonderem
Nachdruck darauf hin, daß die indischen Moslems dann völlig unkontrollierbar
würden, wenn weitere Erschütterungen der Türkei die mohammedanische
Schutzherrschaft über die heiligen Stätten Mekka und Medina in Frage
stellten. Mithin hat die englische Politik alles Interesse daran, die Kon¬
solidierung der asiatischen Türkei zu erleichtern. Jedwede weitere Ge¬
fährdung der ottomanischen Macht, wie sie leicht durch russische oder
französische Intrigen in Armenien bzw. Syrien heraufbeschwört werden kaun,
steht im scharfen Gegensatz zu dem Interesse Englands, das sich nicht mehr
länger der Erregung seiner mohammedanischen Untertanen verschließen kann.
I": dieser Politik im nahen Osten begegnen sich dafür die Interessen Englands und
Deutschlands. Beide sind wirtschaftlich in erheblichem Maße interessiert, beide
aber können und wollen ihren wirtschaftspolitischen Zielen nur dann erfolgreich
nachgehen, wenn das ottomanische Reich sich ruhig und gedeihlich fortentwickelt.
Über die Fortführung der Bagdadbahn ist in diesen Tagen eine Einigung
zwischen England und der Türkei zu erwarten. England wünscht seine Stellung
am Persischen Golf zu sichern und wird dafür um so eher zu Opfern bereit
fein, als es auch zuverlässiger Bundesgenossen gegen die russischen und fran¬
zösischen Ambitionen bedarf.

Es ist keine Frage, daß die Berliner Reise Lord Morlens mit diesen
Dingen zusammenhängt. Ein liberales Blatt versicherte in diesen Tagen, seit
der Krisis im Spätjahr 1911 sei es das vornehmste Prinzip britischer Staats¬
kunst, das Recht Deutschlands auf einen Platz an der Sonne anzuerkennen.
Das ist ja vielleicht ein bißchen zuviel gesagt. Wenn man aber fragt, wo
dieser "Platz an der Sonne" liegt, so wird man unfehlbar auf Anatolien
und auf Zentralafrika verwiesen . . . England sei kolonialpolitisch im großen
ganzen gesättigt. Es habe kein Interesse Universalerbe der im Sterben liegenden
Portugiesischen Kolonialmacht zu sein. Freilich habe es den Wunsch nur eine
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Londoner Brief

dreier mohammedanischer Länder unter fremde Botmäßigkeit — Marokkos,
Tripolis' und Perstens — geduldet oder sogar begünstigt, und im Balkankrieg
keine türkenfreundliche Haltung eingenommen. Dies hat zu einem vollständigen
Frontwechsel der indischen Mohammedaner geführt. Bisher gehörten diese
fünfundsechzig Millionen Moslems in Indien zu den treuesten Untertanen
Georgs des Fünften. Im Gegensatz zu der nationabindischen Bewegung fühlten
sie, die doch unter den dreihundert Millionen Jndiern nur eine Minderheit bilden,
ihre Rechte am besten unter dem herrschenden aufgeklärten Absolutismus gewahrt.
Darin brachte die antimohammedanische Politik Englands während der letzten
Jahre eine gründliche Änderung. Vor wenigen Wochen beschloß der zu Lucknow
tagende Kongreß der All Jndia Moslem League die Fühlung mit den Auto¬
nomiebestrebungen der Hindus aufzunehmen. Das heißt mit anderen Worten:
der indische Islam hat das Vertrauen zur Krone verloren und glaubt in
Zukunft seine Rechte im Rahmen der nationalindischen Bewegung besser zur
Geltung bringen zu können. Kenner indischer Verhältnisse weisen mit besonderem
Nachdruck darauf hin, daß die indischen Moslems dann völlig unkontrollierbar
würden, wenn weitere Erschütterungen der Türkei die mohammedanische
Schutzherrschaft über die heiligen Stätten Mekka und Medina in Frage
stellten. Mithin hat die englische Politik alles Interesse daran, die Kon¬
solidierung der asiatischen Türkei zu erleichtern. Jedwede weitere Ge¬
fährdung der ottomanischen Macht, wie sie leicht durch russische oder
französische Intrigen in Armenien bzw. Syrien heraufbeschwört werden kaun,
steht im scharfen Gegensatz zu dem Interesse Englands, das sich nicht mehr
länger der Erregung seiner mohammedanischen Untertanen verschließen kann.
I»: dieser Politik im nahen Osten begegnen sich dafür die Interessen Englands und
Deutschlands. Beide sind wirtschaftlich in erheblichem Maße interessiert, beide
aber können und wollen ihren wirtschaftspolitischen Zielen nur dann erfolgreich
nachgehen, wenn das ottomanische Reich sich ruhig und gedeihlich fortentwickelt.
Über die Fortführung der Bagdadbahn ist in diesen Tagen eine Einigung
zwischen England und der Türkei zu erwarten. England wünscht seine Stellung
am Persischen Golf zu sichern und wird dafür um so eher zu Opfern bereit
fein, als es auch zuverlässiger Bundesgenossen gegen die russischen und fran¬
zösischen Ambitionen bedarf.

Es ist keine Frage, daß die Berliner Reise Lord Morlens mit diesen
Dingen zusammenhängt. Ein liberales Blatt versicherte in diesen Tagen, seit
der Krisis im Spätjahr 1911 sei es das vornehmste Prinzip britischer Staats¬
kunst, das Recht Deutschlands auf einen Platz an der Sonne anzuerkennen.
Das ist ja vielleicht ein bißchen zuviel gesagt. Wenn man aber fragt, wo
dieser „Platz an der Sonne" liegt, so wird man unfehlbar auf Anatolien
und auf Zentralafrika verwiesen . . . England sei kolonialpolitisch im großen
ganzen gesättigt. Es habe kein Interesse Universalerbe der im Sterben liegenden
Portugiesischen Kolonialmacht zu sein. Freilich habe es den Wunsch nur eine
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[0407] Londoner Brief dreier mohammedanischer Länder unter fremde Botmäßigkeit — Marokkos, Tripolis' und Perstens — geduldet oder sogar begünstigt, und im Balkankrieg keine türkenfreundliche Haltung eingenommen. Dies hat zu einem vollständigen Frontwechsel der indischen Mohammedaner geführt. Bisher gehörten diese fünfundsechzig Millionen Moslems in Indien zu den treuesten Untertanen Georgs des Fünften. Im Gegensatz zu der nationabindischen Bewegung fühlten sie, die doch unter den dreihundert Millionen Jndiern nur eine Minderheit bilden, ihre Rechte am besten unter dem herrschenden aufgeklärten Absolutismus gewahrt. Darin brachte die antimohammedanische Politik Englands während der letzten Jahre eine gründliche Änderung. Vor wenigen Wochen beschloß der zu Lucknow tagende Kongreß der All Jndia Moslem League die Fühlung mit den Auto¬ nomiebestrebungen der Hindus aufzunehmen. Das heißt mit anderen Worten: der indische Islam hat das Vertrauen zur Krone verloren und glaubt in Zukunft seine Rechte im Rahmen der nationalindischen Bewegung besser zur Geltung bringen zu können. Kenner indischer Verhältnisse weisen mit besonderem Nachdruck darauf hin, daß die indischen Moslems dann völlig unkontrollierbar würden, wenn weitere Erschütterungen der Türkei die mohammedanische Schutzherrschaft über die heiligen Stätten Mekka und Medina in Frage stellten. Mithin hat die englische Politik alles Interesse daran, die Kon¬ solidierung der asiatischen Türkei zu erleichtern. Jedwede weitere Ge¬ fährdung der ottomanischen Macht, wie sie leicht durch russische oder französische Intrigen in Armenien bzw. Syrien heraufbeschwört werden kaun, steht im scharfen Gegensatz zu dem Interesse Englands, das sich nicht mehr länger der Erregung seiner mohammedanischen Untertanen verschließen kann. I»: dieser Politik im nahen Osten begegnen sich dafür die Interessen Englands und Deutschlands. Beide sind wirtschaftlich in erheblichem Maße interessiert, beide aber können und wollen ihren wirtschaftspolitischen Zielen nur dann erfolgreich nachgehen, wenn das ottomanische Reich sich ruhig und gedeihlich fortentwickelt. Über die Fortführung der Bagdadbahn ist in diesen Tagen eine Einigung zwischen England und der Türkei zu erwarten. England wünscht seine Stellung am Persischen Golf zu sichern und wird dafür um so eher zu Opfern bereit fein, als es auch zuverlässiger Bundesgenossen gegen die russischen und fran¬ zösischen Ambitionen bedarf. Es ist keine Frage, daß die Berliner Reise Lord Morlens mit diesen Dingen zusammenhängt. Ein liberales Blatt versicherte in diesen Tagen, seit der Krisis im Spätjahr 1911 sei es das vornehmste Prinzip britischer Staats¬ kunst, das Recht Deutschlands auf einen Platz an der Sonne anzuerkennen. Das ist ja vielleicht ein bißchen zuviel gesagt. Wenn man aber fragt, wo dieser „Platz an der Sonne" liegt, so wird man unfehlbar auf Anatolien und auf Zentralafrika verwiesen . . . England sei kolonialpolitisch im großen ganzen gesättigt. Es habe kein Interesse Universalerbe der im Sterben liegenden Portugiesischen Kolonialmacht zu sein. Freilich habe es den Wunsch nur eine * 2S

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/407>, abgerufen am 27.07.2024.