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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Sturm

bloßen Füßen und ein Reformgewand trug, dessen Linienfluß von keinem Korset
verunstaltet wurde. Sicher war hier eine Basis gegenseitigen Verstehens, und
die wollte er nicht ungenutzt lassen.

Als Mara zum zweiten Mal in die hypnotisierende Nähe der Staffelei
gezwungen wurde, trat der Maler hinter der Leinewand hervor und näherte
sich ihr mit linkischer Verbeugung.

"Ich stehe wohl der Herrin dieses schönen Parks gegenüber!" sagte er
milde lächelnd. "Verzeihen Sie bitte. Die Liebe zur Natur hat mich hierher getrieben.
Ich bin sicher, Sie werden mich nicht fortweisen. Ja mehr noch, ich bin überzeugt,
daß mich der Zufall einer Gesinnungsgenossin in den Weg geführt hat!"

"Wie meinen Sie das?" Unter dem starren Blick des Malers errötete
Mara verlegen.

"Nun -- jeder sogenannte Kulturmensch würde sich an diesem frischen
Morgen ängstlich gegen die Luft abschließen. Sie aber, Fräulein, bieten ihren
Fuß willig dem Kuß des Taues und das schöne Haar dem Winde!"

"Darf ich Ihr Bild betrachten?" fragte Mara, erschreckt durch die unver¬
frorene Begrüßung, aber doch auch geschmeichelt, daß man ihr Verständnis
entgegenbrachte.

"Oh -- es ist nur angelegt, Fräulein, Sie können noch nicht viel darauf
erkennen. Der Vordergrund muß noch lebendiger werden. Vorhin, als ich
Sie aus dem Park schreiten sah, da fiel es mir wie Schuppen von den Augen,
da hatte ich mit einem Male die Staffage, die dem Bild fehlt. "Herbsttraum"
will ich es nennen. Und die holde Melancholie dieses Oktobertages soll sich in
der Gestalt eines jungen Weibes ausdrücken, das sich träumend an jenen grauen
Buchenstamm lehnt."

Es stimmte, was Madelung sagte. Die paar Farbenstriche ließen noch so
gut wie nichts von seinen Absichten erkennen.

Mara meinte, um nur etwas zu sagen: "Daß unser altes Borküll noch
einen Maler reizen könnte!"

"Ja, es kommt eben alles aus den Standpunkt an," fiel Madelung lehrhaft
ein. "Der denkende Mensch soll durch das Leben gehen wie der Maler durch
die Landschaft. Hier wie dort ist.die Forderung: den Standpunkt wechseln!
Motive finden und Irrtümer erkennen, ist das Resultat!"

"Ich denke mir, Ihre Kunst muß Sie unendlich glücklich machen!" Maras
Interesse war erwacht.

"Die Kunst allein niemals! Sie ist nur ein Teil meines Glückverlangens.
Schaffen allein tut es nicht -- wenn es auch natürlich den Künstler wie den
Betrachtenden erfreut, aber die Natur stellt höhere Ansprüche an uns. Sie gab
uns die Einsicht und die Kraft zum Wirken. Leider sind sich die meisten
Menschen dieser Pflicht nicht bewußt. Um so mehr müssen die wenigen auf
dem Platze sein, die unvoreingenommen, mit ungetrübtem Auge dein Wahn in
sein verzerrtes Antlitz sehen."


Sturm

bloßen Füßen und ein Reformgewand trug, dessen Linienfluß von keinem Korset
verunstaltet wurde. Sicher war hier eine Basis gegenseitigen Verstehens, und
die wollte er nicht ungenutzt lassen.

Als Mara zum zweiten Mal in die hypnotisierende Nähe der Staffelei
gezwungen wurde, trat der Maler hinter der Leinewand hervor und näherte
sich ihr mit linkischer Verbeugung.

„Ich stehe wohl der Herrin dieses schönen Parks gegenüber!" sagte er
milde lächelnd. „Verzeihen Sie bitte. Die Liebe zur Natur hat mich hierher getrieben.
Ich bin sicher, Sie werden mich nicht fortweisen. Ja mehr noch, ich bin überzeugt,
daß mich der Zufall einer Gesinnungsgenossin in den Weg geführt hat!"

„Wie meinen Sie das?" Unter dem starren Blick des Malers errötete
Mara verlegen.

„Nun — jeder sogenannte Kulturmensch würde sich an diesem frischen
Morgen ängstlich gegen die Luft abschließen. Sie aber, Fräulein, bieten ihren
Fuß willig dem Kuß des Taues und das schöne Haar dem Winde!"

„Darf ich Ihr Bild betrachten?" fragte Mara, erschreckt durch die unver¬
frorene Begrüßung, aber doch auch geschmeichelt, daß man ihr Verständnis
entgegenbrachte.

„Oh — es ist nur angelegt, Fräulein, Sie können noch nicht viel darauf
erkennen. Der Vordergrund muß noch lebendiger werden. Vorhin, als ich
Sie aus dem Park schreiten sah, da fiel es mir wie Schuppen von den Augen,
da hatte ich mit einem Male die Staffage, die dem Bild fehlt. „Herbsttraum"
will ich es nennen. Und die holde Melancholie dieses Oktobertages soll sich in
der Gestalt eines jungen Weibes ausdrücken, das sich träumend an jenen grauen
Buchenstamm lehnt."

Es stimmte, was Madelung sagte. Die paar Farbenstriche ließen noch so
gut wie nichts von seinen Absichten erkennen.

Mara meinte, um nur etwas zu sagen: „Daß unser altes Borküll noch
einen Maler reizen könnte!"

„Ja, es kommt eben alles aus den Standpunkt an," fiel Madelung lehrhaft
ein. „Der denkende Mensch soll durch das Leben gehen wie der Maler durch
die Landschaft. Hier wie dort ist.die Forderung: den Standpunkt wechseln!
Motive finden und Irrtümer erkennen, ist das Resultat!"

„Ich denke mir, Ihre Kunst muß Sie unendlich glücklich machen!" Maras
Interesse war erwacht.

„Die Kunst allein niemals! Sie ist nur ein Teil meines Glückverlangens.
Schaffen allein tut es nicht — wenn es auch natürlich den Künstler wie den
Betrachtenden erfreut, aber die Natur stellt höhere Ansprüche an uns. Sie gab
uns die Einsicht und die Kraft zum Wirken. Leider sind sich die meisten
Menschen dieser Pflicht nicht bewußt. Um so mehr müssen die wenigen auf
dem Platze sein, die unvoreingenommen, mit ungetrübtem Auge dein Wahn in
sein verzerrtes Antlitz sehen."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/384>, abgerufen am 27.07.2024.