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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die Engländer in Indien

Ja8t not least -- eine unentbehrliche Versorgungsanstalt für die unbemittelten
Söhne englischer Familien.

Welche Nation würde wohl auf solchen Besitz kampflos verzichten? Der
Weg, den die heutigen Leiter der anglo-indischen Politik eingeschlagen haben,
scheint, je weiter er führt, um so schwieriger zu werden.

Nehmen wir einmal an, es gelänge ihnen, die Opposition in den eigenen
Reihen zu beschwichtigen, und es bestände für sie bloß noch die Aufgabe der
Auseinandersetzung mit den indischen Untertanen. Auch dann erscheint das
Problem noch immer fast unlösbar. Grundsätzliche Revolutionäre müßten
natürlich schon von vornherein ausscheiden; denn deren Forderungen schisßen
stets über das Ziel hinaus und können die Entwicklung zum seit ^overnement
nur hemmen. Aber auch unter den gemäßigten Elementen wird es wenige
geben, die mit der heutigen Lage aufrichtig zufrieden sind. Wer in der geistigen
und nationalen Bewegung Indiens eine Rolle spielt und doch aus voller Über¬
zeugung Anhänger der englischen Oberherrschaft ist, muß schon ein ganz un¬
gewöhnliches Maß von Selbsterkenntnis und Selbstverleugnung besitzen.

Nur wenigen ist es gegeben, gelassen und mutig weiter zu arbeiten mit
der bitteren Erkenntnis im Herzen, daß nicht sie die Früchte ihrer Arbeit pflücken
und den Tag der Freiheit sehen werden, sondern erst ihre Enkel. Die größte
Gefolgszahl wird immer denen zufallen, welche das ersehnte Ziel in verlockende
Nähe rücken und den Weg zu ihm als leicht und mühelos schildern.

Das sind Erscheinungen, die wir täglich im hochzivilisierten Europa
beobachten. In Indien müssen sie sich noch stärker äußern als bei uns. Denn
dort überwiegt die gänzlich ungebildete Masse und es mangelt an Leuten mit
wirklich gediegenen Kenntnissen; darum spielen dort die Halbgebildeten eine viel
größere Rolle als bei uns. Halbgebildete neigen nur zu leicht zur Überschätzung
ihrer Fähigkeiten. Wer durch ernsthafte und tiefergehende Studien seine Urteils¬
kraft geschärft hat, wird meist die Grenzen seines Könnens richtig einschätzen.
Ein wirklich gebildeter Inder muß wissen, wie schwer es ist, seine Heimat zu
regieren. Er wird meist geneigt sein, in der Fremdherrschaft, wenn auch nicht
eine Annehmlichkeit, so doch ein vorläufig notwendiges Übel zu sehen und daher
zwar ohne Sympathien aber aus praktischen Gründen die englische Herrschaft
stützen. Die indische Frage ist also in letzter Linie ein Erziehungs- und Bil¬
dungsproblem.

Ich will nicht den Propheten spielen und mich in Vermutungen ergehen,
ob die Engländer die Lösung dieses Problems finden werden. Nach allem,
was sie bisher geleistet haben, muß man aber Vertrauen zu ihrem gesunden
praktischen Sinn haben. Gelingt es ihnen, ihre Misston so auszufüllen, daß
sie einst ohne die Gefahr eines Fiaskos den: indischen Volke volle Selbstver¬
waltung geben können, so haben sie eine Kulturtat vollbracht, wie sie die Welt
noch nicht gesehen hat.




Die Engländer in Indien

Ja8t not least — eine unentbehrliche Versorgungsanstalt für die unbemittelten
Söhne englischer Familien.

Welche Nation würde wohl auf solchen Besitz kampflos verzichten? Der
Weg, den die heutigen Leiter der anglo-indischen Politik eingeschlagen haben,
scheint, je weiter er führt, um so schwieriger zu werden.

Nehmen wir einmal an, es gelänge ihnen, die Opposition in den eigenen
Reihen zu beschwichtigen, und es bestände für sie bloß noch die Aufgabe der
Auseinandersetzung mit den indischen Untertanen. Auch dann erscheint das
Problem noch immer fast unlösbar. Grundsätzliche Revolutionäre müßten
natürlich schon von vornherein ausscheiden; denn deren Forderungen schisßen
stets über das Ziel hinaus und können die Entwicklung zum seit ^overnement
nur hemmen. Aber auch unter den gemäßigten Elementen wird es wenige
geben, die mit der heutigen Lage aufrichtig zufrieden sind. Wer in der geistigen
und nationalen Bewegung Indiens eine Rolle spielt und doch aus voller Über¬
zeugung Anhänger der englischen Oberherrschaft ist, muß schon ein ganz un¬
gewöhnliches Maß von Selbsterkenntnis und Selbstverleugnung besitzen.

Nur wenigen ist es gegeben, gelassen und mutig weiter zu arbeiten mit
der bitteren Erkenntnis im Herzen, daß nicht sie die Früchte ihrer Arbeit pflücken
und den Tag der Freiheit sehen werden, sondern erst ihre Enkel. Die größte
Gefolgszahl wird immer denen zufallen, welche das ersehnte Ziel in verlockende
Nähe rücken und den Weg zu ihm als leicht und mühelos schildern.

Das sind Erscheinungen, die wir täglich im hochzivilisierten Europa
beobachten. In Indien müssen sie sich noch stärker äußern als bei uns. Denn
dort überwiegt die gänzlich ungebildete Masse und es mangelt an Leuten mit
wirklich gediegenen Kenntnissen; darum spielen dort die Halbgebildeten eine viel
größere Rolle als bei uns. Halbgebildete neigen nur zu leicht zur Überschätzung
ihrer Fähigkeiten. Wer durch ernsthafte und tiefergehende Studien seine Urteils¬
kraft geschärft hat, wird meist die Grenzen seines Könnens richtig einschätzen.
Ein wirklich gebildeter Inder muß wissen, wie schwer es ist, seine Heimat zu
regieren. Er wird meist geneigt sein, in der Fremdherrschaft, wenn auch nicht
eine Annehmlichkeit, so doch ein vorläufig notwendiges Übel zu sehen und daher
zwar ohne Sympathien aber aus praktischen Gründen die englische Herrschaft
stützen. Die indische Frage ist also in letzter Linie ein Erziehungs- und Bil¬
dungsproblem.

Ich will nicht den Propheten spielen und mich in Vermutungen ergehen,
ob die Engländer die Lösung dieses Problems finden werden. Nach allem,
was sie bisher geleistet haben, muß man aber Vertrauen zu ihrem gesunden
praktischen Sinn haben. Gelingt es ihnen, ihre Misston so auszufüllen, daß
sie einst ohne die Gefahr eines Fiaskos den: indischen Volke volle Selbstver¬
waltung geben können, so haben sie eine Kulturtat vollbracht, wie sie die Welt
noch nicht gesehen hat.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/345>, abgerufen am 27.07.2024.