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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Anselm Feuerbach und seine Zeit

ihn, und wenn man sie mit einem Strom vergliche, so stelle er keinen neuen
Zufluß dar, sondern eher eine Insel mitten in der Flut, diese jedoch von
höchster Schönheit, gleicherweise aus der Kraft des Nordens wie aus der Süße
des Südens gewonnen. Nun -- es scheint, als ob die heute so beliebte künst¬
lerische Wertung, die vor allem das Moment der allgemeinen Entwicklung ins
Auge faßt, allgemach gefährlich wird. Die prästabilierte Harmonie einer wohl¬
geordneten Entwicklungsreihe wird in der Naturbetrachtung oft genug in Frage
gestellt, erst recht in der Geschichte der Kunst. So gewiß die Mitarbeit der
Zeit und der sozialen Sphäre des Künstlers an Weg und Werk ist. so gewiß
walten aber auch mystische Kräfte, die durch nichts, auch nicht die genaueste
Analyse der Einzelpersönlichkeit erklärbar sind. Der späteren Betrachtung liegt
ob, die Grenzen zu ziehen und das Maß der erreichten Werte festzustellen.
Unsere Gegenwart leidet an einer Überschätzung des Neuen; im blinden Fort¬
schritt begriffen, gewahrt sie nicht das grauenvoll-schnelle Veralten und Ver¬
standen des kaum erst als neu und bahneröffnend Gepriesenen. In maßlosem
Stolze auf Errungenschaften einer in der Tat bewundernswerter Zeit vergißt
sie jener unerschöpflicher Urquellen, die seit je die Welt nähren und an den Tiefen
des Menschentums gebildet haben. Dort, auf jener Seite ewigen Werth, zeit¬
loser Schönheit, finden wir Anselm Feuerbachs Gestalt. Seine Kunst ist die eines
absoluten Geistes, dem das Zufällige, Zeitliche, Unerhörte nicht mehr gilt.
Seine Bilder find -- wenn dies zu sagen gestattet ist -- schon Ideen von
Bildern. Eine Welt von Reinheit, Erhabenheit, Adel und Freiheit ist in ihnen
aufgeschlagen, eine "Welt von Ideen, Grazie und Ernst", wie er sie selbst ge¬
nannt hat. als sie ihm unter italischen Himmel dämmerte.

Man warf ihm vor. daß er sich allzu sehr an die Alten halte, selbst die
Mutter konnte diesen Tadel nicht ganz unberechtigt finden. Es scheint in der
Tat, als hätte jene frühe Kopie der Assunta den Charakter des noch werdenden
Künstlers venezianisch bestimmt. Immerhin darf nicht vergessen werden, daß
seine gesamte Zeit von den größten Werken der Kunst abhing, freilich in
äußerlich-epigonifcher Weise, während er in der Tiefe begriff, daß Vollkommenheit
in der Erscheinung Schönheit war und daß er als einzelner zu denselben Er¬
füllungen reifen mußte, die einer künstlerisch und menschlich tausendfach reicheren
Zeit von selbst innewohnten. Er war -- trotz Holbein -- der einzige deutsche
Renaissance-Künstler, der in der Wirkung den alten italienischen Meistern nahe¬
kam. Er bezwang die große Linie der Venezianer als der einzige Deutsche
nach fast vier Jahrhunderten; im Kolorit freilich blieb er Nordländer, seine
verhängte Farbe ist dort am grandiosesten, wo sie Melancholie und Ernst zu
begleiten hat. Seine Gestalten wirken monumental. Was seiner Natur an
Freiheit und Heiterkeit mangelte, ersetzte er mit einem ungeheuren, stets ent¬
flammten Willen zur edelsten Bildung, zur reinsten Figur. Sein Maß war
die Schönheit, die eine ferngewordene Zeit aus sich selbst erreicht hatte, und
man darf von ihm sagen, daß auch er ihrer teilhaftig ward, allerdings unter


Anselm Feuerbach und seine Zeit

ihn, und wenn man sie mit einem Strom vergliche, so stelle er keinen neuen
Zufluß dar, sondern eher eine Insel mitten in der Flut, diese jedoch von
höchster Schönheit, gleicherweise aus der Kraft des Nordens wie aus der Süße
des Südens gewonnen. Nun — es scheint, als ob die heute so beliebte künst¬
lerische Wertung, die vor allem das Moment der allgemeinen Entwicklung ins
Auge faßt, allgemach gefährlich wird. Die prästabilierte Harmonie einer wohl¬
geordneten Entwicklungsreihe wird in der Naturbetrachtung oft genug in Frage
gestellt, erst recht in der Geschichte der Kunst. So gewiß die Mitarbeit der
Zeit und der sozialen Sphäre des Künstlers an Weg und Werk ist. so gewiß
walten aber auch mystische Kräfte, die durch nichts, auch nicht die genaueste
Analyse der Einzelpersönlichkeit erklärbar sind. Der späteren Betrachtung liegt
ob, die Grenzen zu ziehen und das Maß der erreichten Werte festzustellen.
Unsere Gegenwart leidet an einer Überschätzung des Neuen; im blinden Fort¬
schritt begriffen, gewahrt sie nicht das grauenvoll-schnelle Veralten und Ver¬
standen des kaum erst als neu und bahneröffnend Gepriesenen. In maßlosem
Stolze auf Errungenschaften einer in der Tat bewundernswerter Zeit vergißt
sie jener unerschöpflicher Urquellen, die seit je die Welt nähren und an den Tiefen
des Menschentums gebildet haben. Dort, auf jener Seite ewigen Werth, zeit¬
loser Schönheit, finden wir Anselm Feuerbachs Gestalt. Seine Kunst ist die eines
absoluten Geistes, dem das Zufällige, Zeitliche, Unerhörte nicht mehr gilt.
Seine Bilder find — wenn dies zu sagen gestattet ist — schon Ideen von
Bildern. Eine Welt von Reinheit, Erhabenheit, Adel und Freiheit ist in ihnen
aufgeschlagen, eine „Welt von Ideen, Grazie und Ernst", wie er sie selbst ge¬
nannt hat. als sie ihm unter italischen Himmel dämmerte.

Man warf ihm vor. daß er sich allzu sehr an die Alten halte, selbst die
Mutter konnte diesen Tadel nicht ganz unberechtigt finden. Es scheint in der
Tat, als hätte jene frühe Kopie der Assunta den Charakter des noch werdenden
Künstlers venezianisch bestimmt. Immerhin darf nicht vergessen werden, daß
seine gesamte Zeit von den größten Werken der Kunst abhing, freilich in
äußerlich-epigonifcher Weise, während er in der Tiefe begriff, daß Vollkommenheit
in der Erscheinung Schönheit war und daß er als einzelner zu denselben Er¬
füllungen reifen mußte, die einer künstlerisch und menschlich tausendfach reicheren
Zeit von selbst innewohnten. Er war — trotz Holbein — der einzige deutsche
Renaissance-Künstler, der in der Wirkung den alten italienischen Meistern nahe¬
kam. Er bezwang die große Linie der Venezianer als der einzige Deutsche
nach fast vier Jahrhunderten; im Kolorit freilich blieb er Nordländer, seine
verhängte Farbe ist dort am grandiosesten, wo sie Melancholie und Ernst zu
begleiten hat. Seine Gestalten wirken monumental. Was seiner Natur an
Freiheit und Heiterkeit mangelte, ersetzte er mit einem ungeheuren, stets ent¬
flammten Willen zur edelsten Bildung, zur reinsten Figur. Sein Maß war
die Schönheit, die eine ferngewordene Zeit aus sich selbst erreicht hatte, und
man darf von ihm sagen, daß auch er ihrer teilhaftig ward, allerdings unter


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/330>, abgerufen am 22.12.2024.