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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die Gürung i" Belgien

sicher gibt es auch viele, die nur um des häuslichen Friedens willen so tun,
als ob sie den: Geistlichen in allem zu Willen wären, und die sich freuen, im
Wahlakt Gegenden zu haben, etwas gegen den Willen des Mächtigen zu tun
und ihrem geheimsten Gefühl dort einmal Luft zu machen.

Oder die Zusatzstimmen, die den Grundbesitzern verliehen werden? Die
Zahl der bäuerlichen Besitzer, deren Doppelstimmen besonders zum Vorteil der
Klerikalen den Ausschlag geben, ist in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen.
An Umfang gewonnen dagegen haben die Bestrebungen, den Industriearbeitern
eigene Wohnungen zu verschaffen, und zwar besonders in der Umgegend von
Brüssel, und in den wallonischen Provinzen Namur, Lüttich und Hennegau,
den Zentren der Streiks. Hier läge vielleicht für die nichtklerikalen Parteien
die Möglichkeit nicht fern, den Arbeitern ihrer Richtung allmählich zum Jmmo-
bilienbesitz und damit zu einem "vote supplömentairo" zu verhelfen.

Auch gegen die Verleihung des höchsten Pluralrechts an die "gebildeten"
Wähler ist nur der eine Einwand ernst zu nehmen, daß trotz der exakten For¬
mulierung der Wahlbestimmungen sich hier stets ein subjektives Element geltend
machen kann: denn wie werden die Zeugnisse, Diplome und Ämter verteilt?
Wer von den "öcolss patronneeZ" und der sogenannten "freien Universität"
Löwen (die Statistik vermeidet auch hier sorgfältig das Wort "katholisch") seine
Bildung empfängt -- sollten dessen Zeugnisse unter einen: klerikalen Regime
nicht wohlwollenderen Blicken begegnen als die der Besucher der höheren staatlichen
Bildungsanstalten oder gar der liberalen Universität Brüssel?

Wer stellt überhaupt fest, ob einen: Wähler Pluralstimmen zukommen oder
nicht? Wer prüft das nach? Wer kann verhindern, daß in den Wahllisten
parteiische Schiebungen stattfinden, wenn eine so starke und fanatische Majorität
am Ruder ist wie jetzt? Die Minderheitsparteien hegen in diesem Punkte
berechtigtes Mißtrauen.

Man kann nicht leugnen, daß das allgemeine gleiche Wahlrecht solche Un¬
klarheiten verringern und auch vielleicht -- wenigstens vorläufig -- das klerikale
Regime beseitigen würde. Das jetzige Parlament besteht aus

Klerikalen Liberalen christlichen Demokraten Sozialisten

und zwar

der Senat aus . . 54 31 -- 8
die Kammer aus . 101 44 2 33

Man nimmt an -- und wahrscheinlich mit gutem Grund -- daß diese
Zusammensetzung den Gesinnungen der Bevölkerung nicht entspricht; man glaubt,
daß die Majorität des Volkes in Wahrheit hinter den Antiklerikalen steht; die
allgemeine Stimmung äußert sich in der Tat augenblicklich so.

Die erste Folge des allgemeinen gleichen Wahlrechts würde also sicherlich
eine Schwächung der Klerikalen sein, aber ebenso sicher eine noch empfindlichere
Schwächung der Liberalen und eine starke, in zwei wallonischen Provinzen absolute
Majorität der Sozialdemokraten. Ähnliche Vergewaltigungen, wie bisher von


Die Gürung i» Belgien

sicher gibt es auch viele, die nur um des häuslichen Friedens willen so tun,
als ob sie den: Geistlichen in allem zu Willen wären, und die sich freuen, im
Wahlakt Gegenden zu haben, etwas gegen den Willen des Mächtigen zu tun
und ihrem geheimsten Gefühl dort einmal Luft zu machen.

Oder die Zusatzstimmen, die den Grundbesitzern verliehen werden? Die
Zahl der bäuerlichen Besitzer, deren Doppelstimmen besonders zum Vorteil der
Klerikalen den Ausschlag geben, ist in den letzten Jahrzehnten zurückgegangen.
An Umfang gewonnen dagegen haben die Bestrebungen, den Industriearbeitern
eigene Wohnungen zu verschaffen, und zwar besonders in der Umgegend von
Brüssel, und in den wallonischen Provinzen Namur, Lüttich und Hennegau,
den Zentren der Streiks. Hier läge vielleicht für die nichtklerikalen Parteien
die Möglichkeit nicht fern, den Arbeitern ihrer Richtung allmählich zum Jmmo-
bilienbesitz und damit zu einem „vote supplömentairo" zu verhelfen.

Auch gegen die Verleihung des höchsten Pluralrechts an die „gebildeten"
Wähler ist nur der eine Einwand ernst zu nehmen, daß trotz der exakten For¬
mulierung der Wahlbestimmungen sich hier stets ein subjektives Element geltend
machen kann: denn wie werden die Zeugnisse, Diplome und Ämter verteilt?
Wer von den „öcolss patronneeZ" und der sogenannten „freien Universität"
Löwen (die Statistik vermeidet auch hier sorgfältig das Wort „katholisch") seine
Bildung empfängt — sollten dessen Zeugnisse unter einen: klerikalen Regime
nicht wohlwollenderen Blicken begegnen als die der Besucher der höheren staatlichen
Bildungsanstalten oder gar der liberalen Universität Brüssel?

Wer stellt überhaupt fest, ob einen: Wähler Pluralstimmen zukommen oder
nicht? Wer prüft das nach? Wer kann verhindern, daß in den Wahllisten
parteiische Schiebungen stattfinden, wenn eine so starke und fanatische Majorität
am Ruder ist wie jetzt? Die Minderheitsparteien hegen in diesem Punkte
berechtigtes Mißtrauen.

Man kann nicht leugnen, daß das allgemeine gleiche Wahlrecht solche Un¬
klarheiten verringern und auch vielleicht — wenigstens vorläufig — das klerikale
Regime beseitigen würde. Das jetzige Parlament besteht aus

Klerikalen Liberalen christlichen Demokraten Sozialisten

und zwar

der Senat aus . . 54 31 — 8
die Kammer aus . 101 44 2 33

Man nimmt an — und wahrscheinlich mit gutem Grund — daß diese
Zusammensetzung den Gesinnungen der Bevölkerung nicht entspricht; man glaubt,
daß die Majorität des Volkes in Wahrheit hinter den Antiklerikalen steht; die
allgemeine Stimmung äußert sich in der Tat augenblicklich so.

Die erste Folge des allgemeinen gleichen Wahlrechts würde also sicherlich
eine Schwächung der Klerikalen sein, aber ebenso sicher eine noch empfindlichere
Schwächung der Liberalen und eine starke, in zwei wallonischen Provinzen absolute
Majorität der Sozialdemokraten. Ähnliche Vergewaltigungen, wie bisher von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/317>, abgerufen am 27.07.2024.