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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die Gärung in Belgien

auf alle ausgeübt werden kaun, die den Mut haben, die Gemeindeschulen den
katholischen vorzuziehen; häusliche Zwiste da, wo der Mann die Kinder in die
Simultanschule schickt, die Frau aber, durch den Seelsorger geängstigt, das für
eine Sünde hält und sie in die "gutkatholische" statt in die "Geusenschule"
haben will; die Verhetzung der Kinder selbst, die in diese Streitereien hinein-
gezerrt werden; und nicht zuletzt das Schicksal der Lehrer, die an den verpöntem
öffentlichen Schulen wirken und doch ihres Glaubens wegen auf die Gnaden¬
mittel der katholischen Kirche angewiesen sind.

Man wird sich dann leicht die Erbitterung aller derer vorstellen können,
die unter den Foltern dieser Unterdrückung zu leiden haben, und wird be¬
greifen, daß mancher Gläubige, dem ein solcher Grad von Bevormundung zu
stark war, von der Empörung darüber Schritt für Schritt ins Lager der Frei¬
denker getrieben wurde. Und aus dieser Summe von Empörung und Ent¬
rüstung, die der Sozialdemokratie willkommene Agitationsmittel lieferte, ist zu
verstehen, warum jetzt der radikale Wunsch weit verbreitet ist, das Kind mit
dein Bade auszuschütten, das Wahlrecht wegzufegen, unter dessen Zeichen die
klerikale Herrschaft so drückend wurde. Es ist eine elementare Gefühlsauf¬
wallung, die geschickt geschürt, just uach dem greift, was man in greifbare
Nähe gebracht hat: das allgemeine gleiche Wahlrecht!

Man vergißt aber so manches in dieser Erregung: das stärkste Wachs¬
tum der klerikalen Macht fällt in die Zeit vor der Einführung des verlästerten
Pluralstimmrechts; die krassesten Fälle spielten sich gleichfalls in der Zeit davor
ab; nach seiner Einführung haben die Klerikalen verschiedene ihrer Forderungen
nicht durchsetzen können: sie wollten das Proportionalsystem auf Wahldistrikte
beschränken, die ihnen unter allen Umständen sicher waren; sie wollten das
Frauenstimmrecht einführen, das ihre absolute Majorität befestigt hätte; sie
wollten die katholischen Schulen noch mehr begünstigen; alles das mißlang ihnen.

Vor allem vergißt man aber, oder kennt überhaupt nicht, die Zähigkeit
und Fähigkeit zum Herrschen, die dem katholischen Geiste innewohnt. Als ob
es ein System gäbe, das er nicht zugunsten seiner Herrschaft handhaben könnte!
Systeme genügen nicht, um den Geist zu bekämpfen! Dazu gehört Geist von
gleichem Geist, ein Glaube, der imstande ist, ebenso wie der Katholizismus,
die starrsten Persönlichkeiten in seinen Dienst zu zwingen, aufbrausende Leiden¬
schaften zu eiserner Disziplin heranzuziehen, Geizhülse zu Millionenstiftungen zu
veranlassen und Arm und Reich durch dieselbe Sehnsucht aneinanderzuschmieden!
Ein Wahlrecht vermag das nicht, und sei es noch so populär.

Und was ist denn am jetzigen Wahlrecht den Klerikalen so günstig?

Vielleicht das doppelte Stimmrecht, das den Familienvätern von 35 Jahren
zukommt? Sicherlich gibt es manche unter ihnen, die um des häuslichen
Friedens willen so stimmen, wie es der Beichtvater ihrer Frau wünscht. Aber


Einige bezeichnende Fälle hat Wenzelburger (Preußische Jahrbücher I^XIV, 1339) wieder¬
gegeben.
Die Gärung in Belgien

auf alle ausgeübt werden kaun, die den Mut haben, die Gemeindeschulen den
katholischen vorzuziehen; häusliche Zwiste da, wo der Mann die Kinder in die
Simultanschule schickt, die Frau aber, durch den Seelsorger geängstigt, das für
eine Sünde hält und sie in die „gutkatholische" statt in die „Geusenschule"
haben will; die Verhetzung der Kinder selbst, die in diese Streitereien hinein-
gezerrt werden; und nicht zuletzt das Schicksal der Lehrer, die an den verpöntem
öffentlichen Schulen wirken und doch ihres Glaubens wegen auf die Gnaden¬
mittel der katholischen Kirche angewiesen sind.

Man wird sich dann leicht die Erbitterung aller derer vorstellen können,
die unter den Foltern dieser Unterdrückung zu leiden haben, und wird be¬
greifen, daß mancher Gläubige, dem ein solcher Grad von Bevormundung zu
stark war, von der Empörung darüber Schritt für Schritt ins Lager der Frei¬
denker getrieben wurde. Und aus dieser Summe von Empörung und Ent¬
rüstung, die der Sozialdemokratie willkommene Agitationsmittel lieferte, ist zu
verstehen, warum jetzt der radikale Wunsch weit verbreitet ist, das Kind mit
dein Bade auszuschütten, das Wahlrecht wegzufegen, unter dessen Zeichen die
klerikale Herrschaft so drückend wurde. Es ist eine elementare Gefühlsauf¬
wallung, die geschickt geschürt, just uach dem greift, was man in greifbare
Nähe gebracht hat: das allgemeine gleiche Wahlrecht!

Man vergißt aber so manches in dieser Erregung: das stärkste Wachs¬
tum der klerikalen Macht fällt in die Zeit vor der Einführung des verlästerten
Pluralstimmrechts; die krassesten Fälle spielten sich gleichfalls in der Zeit davor
ab; nach seiner Einführung haben die Klerikalen verschiedene ihrer Forderungen
nicht durchsetzen können: sie wollten das Proportionalsystem auf Wahldistrikte
beschränken, die ihnen unter allen Umständen sicher waren; sie wollten das
Frauenstimmrecht einführen, das ihre absolute Majorität befestigt hätte; sie
wollten die katholischen Schulen noch mehr begünstigen; alles das mißlang ihnen.

Vor allem vergißt man aber, oder kennt überhaupt nicht, die Zähigkeit
und Fähigkeit zum Herrschen, die dem katholischen Geiste innewohnt. Als ob
es ein System gäbe, das er nicht zugunsten seiner Herrschaft handhaben könnte!
Systeme genügen nicht, um den Geist zu bekämpfen! Dazu gehört Geist von
gleichem Geist, ein Glaube, der imstande ist, ebenso wie der Katholizismus,
die starrsten Persönlichkeiten in seinen Dienst zu zwingen, aufbrausende Leiden¬
schaften zu eiserner Disziplin heranzuziehen, Geizhülse zu Millionenstiftungen zu
veranlassen und Arm und Reich durch dieselbe Sehnsucht aneinanderzuschmieden!
Ein Wahlrecht vermag das nicht, und sei es noch so populär.

Und was ist denn am jetzigen Wahlrecht den Klerikalen so günstig?

Vielleicht das doppelte Stimmrecht, das den Familienvätern von 35 Jahren
zukommt? Sicherlich gibt es manche unter ihnen, die um des häuslichen
Friedens willen so stimmen, wie es der Beichtvater ihrer Frau wünscht. Aber


Einige bezeichnende Fälle hat Wenzelburger (Preußische Jahrbücher I^XIV, 1339) wieder¬
gegeben.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/316>, abgerufen am 28.07.2024.