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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Die Gärung in Belgien

Südlich von Gent, in der Nähe von Oudenaarde, liegen zwei Ortschaften,
Etikhove und Maria Hoorebeke; beide haben etwa 2000 Einwohner und die
Eigentümlichkeit, daß in ihnen der protestantische Glaube nie ganz erloschen ist.
Mit einer beispiellosen Hartnäckigkeit haben diese Bauern seit der Reformation
an Glaube und Heimat festgehalten. Sie hielten die Blutjahre Aldas aus,
und als infolge von Parmas Siegen und Erlassen mehr als hunderttausend
Protestanten den Glauben "erkoren vor dem Vaterland" und fast alle die Heimat
verließen, blieben sie im Lande, den rauchenden Scheiterhaufen und Auto-da-fös
zum Trotz. Wie in Gent kamen sie auch hier insgeheim zusammen, nachts,
um von den Nachbarn nicht gesehen zu werden, ohne Dienerschaft, um vor
Verrat sicher zu sein, nahmen das Abendmahl in beiderlei Gestalt und lasen
das Evangelium. Wohl mancher mag entdeckt und dem Feuertode oder anderer
Folter erlegen sein; aber der Funke hörte nicht auf zu glimmen, Jahrzehnte,
Menschenalter, Jahrhunderte hindurch, bis er wieder in freierer Luft aufleuchten
konnte: Etikhove baute 1780. Maria Hoorebeke 1797 ein protestantisches Gottes¬
haus, und das unter Regierungen, die den gläubigen Protestanten nicht hold
waren. Was aber Philipp der Zweite und die Inquisition nicht erzwingen
konnten -- die modernen Klerikalen scheinen es zu erreichen: keiner von den
Protestanten wohnt mehr in Etikhove, ihre Kirche steht verlassen, und wann es
Maria Hoorebeke ebenso ergeht, dürfte eine Frage der Zeit sein.

Aber der belgische Staat ist tolerant, so tolerant, daß er bei Volks¬
zählungen nicht nach der Konfesston zu fragen pflegt; das würde als Eingriff
in die Freiheit des Individuums aufgefaßt werden können. Daher wird man
aus den statistischen Jahrbüchern Belgiens direkt nichts erfahren über den Anteil
der Katholiken, Freidenker, Protestanten und Juden.

Und doch gibt es da Ziffern, die einen Anhalt geben, wo der katholische
Glaube seine stärksten Majoritäten, wo er seine getreuesten Untertanen hat,
nämlich da, wo man am wenigsten Ehescheidungen wagt:

Westflandern Lia bürg
Ehe- Schei- auf 1000 Ehe- Ehe- Schei" auf 1000 Ehe¬
schließungen düngen schließungen schließungen düngen schließungen
1908: 6007 12 2 1732 3
1909: K03S 20 3,3 1817 -- ^M" 1

dagegen

Lüttich Hennegau
1908: 7206 1S1 21 10 466 180 17,3
1909: 7103 193 27 10 248 216 21,8

Das zeigt klar die größere Abhängigkeit der flämischen, die größere Un¬
abhängigkeit der wallonischen Provinzen vom Klerus.

Die statistischen Tabellen über den Unterricht in den Elementarschulen
gestatten dieselbe Folgerung. Natürlich wird man auch da nach Bezeichnungen
wie "Simultanschule" und "katholische Schule" vergeblich suchen. Man findet
drei Kolumnen: "Kommunalschulen", "Privatschulen", und "adoptierte Schulen".


Die Gärung in Belgien

Südlich von Gent, in der Nähe von Oudenaarde, liegen zwei Ortschaften,
Etikhove und Maria Hoorebeke; beide haben etwa 2000 Einwohner und die
Eigentümlichkeit, daß in ihnen der protestantische Glaube nie ganz erloschen ist.
Mit einer beispiellosen Hartnäckigkeit haben diese Bauern seit der Reformation
an Glaube und Heimat festgehalten. Sie hielten die Blutjahre Aldas aus,
und als infolge von Parmas Siegen und Erlassen mehr als hunderttausend
Protestanten den Glauben „erkoren vor dem Vaterland" und fast alle die Heimat
verließen, blieben sie im Lande, den rauchenden Scheiterhaufen und Auto-da-fös
zum Trotz. Wie in Gent kamen sie auch hier insgeheim zusammen, nachts,
um von den Nachbarn nicht gesehen zu werden, ohne Dienerschaft, um vor
Verrat sicher zu sein, nahmen das Abendmahl in beiderlei Gestalt und lasen
das Evangelium. Wohl mancher mag entdeckt und dem Feuertode oder anderer
Folter erlegen sein; aber der Funke hörte nicht auf zu glimmen, Jahrzehnte,
Menschenalter, Jahrhunderte hindurch, bis er wieder in freierer Luft aufleuchten
konnte: Etikhove baute 1780. Maria Hoorebeke 1797 ein protestantisches Gottes¬
haus, und das unter Regierungen, die den gläubigen Protestanten nicht hold
waren. Was aber Philipp der Zweite und die Inquisition nicht erzwingen
konnten — die modernen Klerikalen scheinen es zu erreichen: keiner von den
Protestanten wohnt mehr in Etikhove, ihre Kirche steht verlassen, und wann es
Maria Hoorebeke ebenso ergeht, dürfte eine Frage der Zeit sein.

Aber der belgische Staat ist tolerant, so tolerant, daß er bei Volks¬
zählungen nicht nach der Konfesston zu fragen pflegt; das würde als Eingriff
in die Freiheit des Individuums aufgefaßt werden können. Daher wird man
aus den statistischen Jahrbüchern Belgiens direkt nichts erfahren über den Anteil
der Katholiken, Freidenker, Protestanten und Juden.

Und doch gibt es da Ziffern, die einen Anhalt geben, wo der katholische
Glaube seine stärksten Majoritäten, wo er seine getreuesten Untertanen hat,
nämlich da, wo man am wenigsten Ehescheidungen wagt:

Westflandern Lia bürg
Ehe- Schei- auf 1000 Ehe- Ehe- Schei» auf 1000 Ehe¬
schließungen düngen schließungen schließungen düngen schließungen
1908: 6007 12 2 1732 3
1909: K03S 20 3,3 1817 — ^M" 1

dagegen

Lüttich Hennegau
1908: 7206 1S1 21 10 466 180 17,3
1909: 7103 193 27 10 248 216 21,8

Das zeigt klar die größere Abhängigkeit der flämischen, die größere Un¬
abhängigkeit der wallonischen Provinzen vom Klerus.

Die statistischen Tabellen über den Unterricht in den Elementarschulen
gestatten dieselbe Folgerung. Natürlich wird man auch da nach Bezeichnungen
wie „Simultanschule" und „katholische Schule" vergeblich suchen. Man findet
drei Kolumnen: „Kommunalschulen", „Privatschulen", und „adoptierte Schulen".


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[0314] Die Gärung in Belgien Südlich von Gent, in der Nähe von Oudenaarde, liegen zwei Ortschaften, Etikhove und Maria Hoorebeke; beide haben etwa 2000 Einwohner und die Eigentümlichkeit, daß in ihnen der protestantische Glaube nie ganz erloschen ist. Mit einer beispiellosen Hartnäckigkeit haben diese Bauern seit der Reformation an Glaube und Heimat festgehalten. Sie hielten die Blutjahre Aldas aus, und als infolge von Parmas Siegen und Erlassen mehr als hunderttausend Protestanten den Glauben „erkoren vor dem Vaterland" und fast alle die Heimat verließen, blieben sie im Lande, den rauchenden Scheiterhaufen und Auto-da-fös zum Trotz. Wie in Gent kamen sie auch hier insgeheim zusammen, nachts, um von den Nachbarn nicht gesehen zu werden, ohne Dienerschaft, um vor Verrat sicher zu sein, nahmen das Abendmahl in beiderlei Gestalt und lasen das Evangelium. Wohl mancher mag entdeckt und dem Feuertode oder anderer Folter erlegen sein; aber der Funke hörte nicht auf zu glimmen, Jahrzehnte, Menschenalter, Jahrhunderte hindurch, bis er wieder in freierer Luft aufleuchten konnte: Etikhove baute 1780. Maria Hoorebeke 1797 ein protestantisches Gottes¬ haus, und das unter Regierungen, die den gläubigen Protestanten nicht hold waren. Was aber Philipp der Zweite und die Inquisition nicht erzwingen konnten — die modernen Klerikalen scheinen es zu erreichen: keiner von den Protestanten wohnt mehr in Etikhove, ihre Kirche steht verlassen, und wann es Maria Hoorebeke ebenso ergeht, dürfte eine Frage der Zeit sein. Aber der belgische Staat ist tolerant, so tolerant, daß er bei Volks¬ zählungen nicht nach der Konfesston zu fragen pflegt; das würde als Eingriff in die Freiheit des Individuums aufgefaßt werden können. Daher wird man aus den statistischen Jahrbüchern Belgiens direkt nichts erfahren über den Anteil der Katholiken, Freidenker, Protestanten und Juden. Und doch gibt es da Ziffern, die einen Anhalt geben, wo der katholische Glaube seine stärksten Majoritäten, wo er seine getreuesten Untertanen hat, nämlich da, wo man am wenigsten Ehescheidungen wagt: Westflandern Lia bürg Ehe- Schei- auf 1000 Ehe- Ehe- Schei» auf 1000 Ehe¬ schließungen düngen schließungen schließungen düngen schließungen 1908: 6007 12 2 1732 3 1909: K03S 20 3,3 1817 — ^M" 1 dagegen Lüttich Hennegau 1908: 7206 1S1 21 10 466 180 17,3 1909: 7103 193 27 10 248 216 21,8 Das zeigt klar die größere Abhängigkeit der flämischen, die größere Un¬ abhängigkeit der wallonischen Provinzen vom Klerus. Die statistischen Tabellen über den Unterricht in den Elementarschulen gestatten dieselbe Folgerung. Natürlich wird man auch da nach Bezeichnungen wie „Simultanschule" und „katholische Schule" vergeblich suchen. Man findet drei Kolumnen: „Kommunalschulen", „Privatschulen", und „adoptierte Schulen".

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/314>, abgerufen am 22.12.2024.