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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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T>le Gärung in Belgien

einzuräumen, bei der dritten und vierten Gruppe: der Wahlberechtigte von
höherer Bildung und in höheren Ämtern hat drei Stimmen. Nun läßt sich
freilich nirgends in der Welt die Macht der Konnexionen ausschalten: mancher
wird unverdient, nicht infolge seiner Fähigkeit, höhere Ämter bekleiden, nur
weil er von angesehenen Eltern abstammt und daher den maßgebenden Kreisen
bekannt ist. Auch kann das beste Schulzeugnis nicht als absoluter Garantie¬
schein für Befähigung gelten oder gar das schlechteste für Unbegabtheit oder
Untüchtigkeit: die Schulmeister, die den Schüler Linus für völlig untalentiert
erklären, sterben nicht aus. Doch läßt sich diese Begleiterscheinung menschlicher
Unvollkommenheit nie beseitigen; die Regel, daß jeder Ausnahmemensch ein
Märtyrer ist, kann kein Staat und keine Verfassung umgehen. Inwiefern die
menschliche Unvollkommenheit im Namen der Religion gerade in diesem Teile
des Gesetzes den Boden zu unerfreulicher Saat findet, werden wir weiter
unten sehen.

Dies Wahlrecht, das mit einigen geringen Variationen für die Deputierten¬
kammer, für die Provinziallandtage und Gemeinderäte gilt und mit einigen
erheblichen Abweichungen auch für den Senat, repräsentiert eine wohldurchdachte
Vereinigung demokratischer und aristokratischer Tendenzen. Es versucht, die
widerstreitenden Interessen von Individuum und Staat nach Möglichkeit aus¬
zugleichen und zu vereinigen. Und um die Minoritäten mehr zu ihrem Rechte
kommen zu lassen, als das bisherige Stichwahlsystem erlaubte, wurde 1899
das Proportionalsystem eingeführt.

Im ganzen genommen sucht dies Pluralstimmrecht praktisch alle die Un¬
zuträglichkeiten und Ungerechtigkeiten der "aristokratischen" Wahlgesetze aus¬
zuschalten; es bedeutet nicht die Rechtlosigkeit der Wenigbegüterten, nicht die
Begünstigung der Parvenus und der Hocharistokratie. Aber es unterscheidet
sich doch auch von den demokratischen durch Bevorzugung der stetigen und be¬
sonnenen Elemente. Es ist einfacher und konsequenter als das Pluralsystem
des Königreichs Sachsen, das mit Pluralstimmen bis zu vier und mit mannig¬
faltigeren Einkommensgrenzen arbeitet, und wird darum von den Wählern
leichter verstanden und gewürdigt. Es hat sicherlich den ärmeren Teil des
Volkes allmählich mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß am Ende Straßen¬
schlachten und Barrikadengeschrei nicht die einzigen Mittel sind, um heftig ge¬
spürte Bedürfnisse durchzusetzen.

Aber jetzt, da es zwanzig Jahre Geltung hat, möchte man es abschaffen.

Warum und von wem wird auf die Abschaffung hingearbeitet?

Die Linke wünscht es und stützt sich auf den populären Schluß: post,
erK0 proprer! Seitdem das Wahlrecht existiert, ist die Herrschaft der Klerikalen
immer drückender geworden.

Daß sie für die nicht streng-katholischen Minderheiten unerträglich ist,'
kann nicht geleugnet werden. Als Beispiel sei nur ein Fall, der weniger in
der Öffentlichkeit bekannt ist, angeführt:


T>le Gärung in Belgien

einzuräumen, bei der dritten und vierten Gruppe: der Wahlberechtigte von
höherer Bildung und in höheren Ämtern hat drei Stimmen. Nun läßt sich
freilich nirgends in der Welt die Macht der Konnexionen ausschalten: mancher
wird unverdient, nicht infolge seiner Fähigkeit, höhere Ämter bekleiden, nur
weil er von angesehenen Eltern abstammt und daher den maßgebenden Kreisen
bekannt ist. Auch kann das beste Schulzeugnis nicht als absoluter Garantie¬
schein für Befähigung gelten oder gar das schlechteste für Unbegabtheit oder
Untüchtigkeit: die Schulmeister, die den Schüler Linus für völlig untalentiert
erklären, sterben nicht aus. Doch läßt sich diese Begleiterscheinung menschlicher
Unvollkommenheit nie beseitigen; die Regel, daß jeder Ausnahmemensch ein
Märtyrer ist, kann kein Staat und keine Verfassung umgehen. Inwiefern die
menschliche Unvollkommenheit im Namen der Religion gerade in diesem Teile
des Gesetzes den Boden zu unerfreulicher Saat findet, werden wir weiter
unten sehen.

Dies Wahlrecht, das mit einigen geringen Variationen für die Deputierten¬
kammer, für die Provinziallandtage und Gemeinderäte gilt und mit einigen
erheblichen Abweichungen auch für den Senat, repräsentiert eine wohldurchdachte
Vereinigung demokratischer und aristokratischer Tendenzen. Es versucht, die
widerstreitenden Interessen von Individuum und Staat nach Möglichkeit aus¬
zugleichen und zu vereinigen. Und um die Minoritäten mehr zu ihrem Rechte
kommen zu lassen, als das bisherige Stichwahlsystem erlaubte, wurde 1899
das Proportionalsystem eingeführt.

Im ganzen genommen sucht dies Pluralstimmrecht praktisch alle die Un¬
zuträglichkeiten und Ungerechtigkeiten der „aristokratischen" Wahlgesetze aus¬
zuschalten; es bedeutet nicht die Rechtlosigkeit der Wenigbegüterten, nicht die
Begünstigung der Parvenus und der Hocharistokratie. Aber es unterscheidet
sich doch auch von den demokratischen durch Bevorzugung der stetigen und be¬
sonnenen Elemente. Es ist einfacher und konsequenter als das Pluralsystem
des Königreichs Sachsen, das mit Pluralstimmen bis zu vier und mit mannig¬
faltigeren Einkommensgrenzen arbeitet, und wird darum von den Wählern
leichter verstanden und gewürdigt. Es hat sicherlich den ärmeren Teil des
Volkes allmählich mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß am Ende Straßen¬
schlachten und Barrikadengeschrei nicht die einzigen Mittel sind, um heftig ge¬
spürte Bedürfnisse durchzusetzen.

Aber jetzt, da es zwanzig Jahre Geltung hat, möchte man es abschaffen.

Warum und von wem wird auf die Abschaffung hingearbeitet?

Die Linke wünscht es und stützt sich auf den populären Schluß: post,
erK0 proprer! Seitdem das Wahlrecht existiert, ist die Herrschaft der Klerikalen
immer drückender geworden.

Daß sie für die nicht streng-katholischen Minderheiten unerträglich ist,'
kann nicht geleugnet werden. Als Beispiel sei nur ein Fall, der weniger in
der Öffentlichkeit bekannt ist, angeführt:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/313>, abgerufen am 28.07.2024.