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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Richard Wagners parsifal

ohne jede mystische Umschreibung rein begrifflich gelöst werden muß, denn die
Ausdrücke sind eben offenbar auch begrifflich bestimmt mit völlig bewußter
Absicht gewählt. Die zweite Frage betrifft das Wesen Kundrns. Dies sonder¬
bare Weib, das in zwei getrennten Welten ein wunderbar erscheinendes Doppel¬
leben führt, dessen Aufgaben geradezu widerspruchsvoll anmuten, fordert laut
eine Erklärung, die uns die künstlerische Einheit dieser Gestalt verstehen lehrt,
die so sicher und kühn gezeichnet ist, die als eine wirklich organisch-einheitliche
Schöpfung, als ein Individuum aus einem Gusse, vor uns steht. Diese Er¬
klärung ist auch deswegen so wichtig, weil es von selbst einleuchtet, daß nur
durch das wirkliche Verständnis dieses weiblichen -- Mephistopheles, das Wesen
des Dramas erschlossen werden kann, dessen Wendepunkt der Kuß der Kundry
bedeutet. Erst durch die Beantwortung dieser beiden zunüchstliegenden Fragen
dürfte der Weg gehauen werden zur Gralsburg, zu Klingsors Zauberschloß
und zur Eroberung des Grals, ich meine, seiner geistigen Erschließung. Doch
wird sich die Behandlung all dieser Probleme so ineinanderschlingen, daß ein
volles Verständnis auch der zuerst behandelten Einzelheiten erst zum Schlüsse
erreicht sein wird.


Durch Mitleid wissend, der reine Tor

Ein Wissen durch Mitleid lehrt Schopenhauer, und so wird uns ganz von
selbst der Weg gewiesen, der uns zum Verständnis führen soll. Die allgemeinen
Gedanken der Lehre Schopenhauers muß ich der Kürze halber als bekannt
voraussetzen. Die Welt, welche uns äußerlich umgibt, ist nur eine Scheinwelt,
zu deren wahrem Wesen durch Raum, Zeit und Kausalität der Einblick ver¬
schlossen ist. Hinter diesem "Schleier der Maja" verbirgt sich die "eine" wirk¬
liche Welt, das Ding an sich, das Schopenhauer als "Wille" erkennt. Dieser
Wille "erscheint" unserem Intellekt, in Raum und Zeit "objektiviert" in ver¬
schiedenen Stufen, als feste Natur, Pflanzenwelt. Tierwelt, Mensch. -- Die
höchste Objektivationsstufe ist das Selbstbewußtsein im Menschen. Diese Er¬
kenntnis der Welt wird nun in ab8traeto gewonnen durch die Kantische Philo¬
sophie, deren richtige Deutung Schopenhauer vermittelt haben will. Der Wille
als Einheit der verschiedenen Objektivationsstufen ist "die Idee". Ideen er¬
kennen heißt also, die Einheit der Welt erfassen als Wille, also auch die
Identität des eigenen Wesens mit dem der Welt. Wer die Idee erkennt, dem
erscheinen alle Begebenheiten in Natur- und Menschenwelt als Ausdruck, als
Leben und Weben der "einen" Idee, des "einen" Urweltwillens. "In den
mannigfaltigen Gestalten des Menschenlebens und dem unaufhörlichen Wechsel
der Begebenheiten wird er als der Bleibende und Wesentliche nur die Idee
betrachten, in welcher der Wille zum Leben seine vollkommenste Objektivität hat,
und welche ihre verschiedenen Seiten zeigt in den Eigenschaften. Leidenschaften,
Irrtümern und Vorzügen des Menschengeschlechts --, welche alle zu tausend¬
fältigen Gestalten (Individuen) zusammenlaufend und gewinnend, fortwährend


Richard Wagners parsifal

ohne jede mystische Umschreibung rein begrifflich gelöst werden muß, denn die
Ausdrücke sind eben offenbar auch begrifflich bestimmt mit völlig bewußter
Absicht gewählt. Die zweite Frage betrifft das Wesen Kundrns. Dies sonder¬
bare Weib, das in zwei getrennten Welten ein wunderbar erscheinendes Doppel¬
leben führt, dessen Aufgaben geradezu widerspruchsvoll anmuten, fordert laut
eine Erklärung, die uns die künstlerische Einheit dieser Gestalt verstehen lehrt,
die so sicher und kühn gezeichnet ist, die als eine wirklich organisch-einheitliche
Schöpfung, als ein Individuum aus einem Gusse, vor uns steht. Diese Er¬
klärung ist auch deswegen so wichtig, weil es von selbst einleuchtet, daß nur
durch das wirkliche Verständnis dieses weiblichen — Mephistopheles, das Wesen
des Dramas erschlossen werden kann, dessen Wendepunkt der Kuß der Kundry
bedeutet. Erst durch die Beantwortung dieser beiden zunüchstliegenden Fragen
dürfte der Weg gehauen werden zur Gralsburg, zu Klingsors Zauberschloß
und zur Eroberung des Grals, ich meine, seiner geistigen Erschließung. Doch
wird sich die Behandlung all dieser Probleme so ineinanderschlingen, daß ein
volles Verständnis auch der zuerst behandelten Einzelheiten erst zum Schlüsse
erreicht sein wird.


Durch Mitleid wissend, der reine Tor

Ein Wissen durch Mitleid lehrt Schopenhauer, und so wird uns ganz von
selbst der Weg gewiesen, der uns zum Verständnis führen soll. Die allgemeinen
Gedanken der Lehre Schopenhauers muß ich der Kürze halber als bekannt
voraussetzen. Die Welt, welche uns äußerlich umgibt, ist nur eine Scheinwelt,
zu deren wahrem Wesen durch Raum, Zeit und Kausalität der Einblick ver¬
schlossen ist. Hinter diesem „Schleier der Maja" verbirgt sich die „eine" wirk¬
liche Welt, das Ding an sich, das Schopenhauer als „Wille" erkennt. Dieser
Wille „erscheint" unserem Intellekt, in Raum und Zeit „objektiviert" in ver¬
schiedenen Stufen, als feste Natur, Pflanzenwelt. Tierwelt, Mensch. — Die
höchste Objektivationsstufe ist das Selbstbewußtsein im Menschen. Diese Er¬
kenntnis der Welt wird nun in ab8traeto gewonnen durch die Kantische Philo¬
sophie, deren richtige Deutung Schopenhauer vermittelt haben will. Der Wille
als Einheit der verschiedenen Objektivationsstufen ist „die Idee". Ideen er¬
kennen heißt also, die Einheit der Welt erfassen als Wille, also auch die
Identität des eigenen Wesens mit dem der Welt. Wer die Idee erkennt, dem
erscheinen alle Begebenheiten in Natur- und Menschenwelt als Ausdruck, als
Leben und Weben der „einen" Idee, des „einen" Urweltwillens. „In den
mannigfaltigen Gestalten des Menschenlebens und dem unaufhörlichen Wechsel
der Begebenheiten wird er als der Bleibende und Wesentliche nur die Idee
betrachten, in welcher der Wille zum Leben seine vollkommenste Objektivität hat,
und welche ihre verschiedenen Seiten zeigt in den Eigenschaften. Leidenschaften,
Irrtümern und Vorzügen des Menschengeschlechts —, welche alle zu tausend¬
fältigen Gestalten (Individuen) zusammenlaufend und gewinnend, fortwährend


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/220>, abgerufen am 27.07.2024.