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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Nach dem Fall von Skutari
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le orientalische Frage ist von jeher von den Diplomaten gefürchtet
worden, nicht so sehr wegen der eigentümlichen Schwierigkeiten,
die sie in sich barg, als wegen der stets erneuten Erfahrung,
daß auf diesem Gebiet meist gerade das Unwahrscheinliche Er¬
eignis wird. Gerade als sich der Glaube zu befestigen anfing,
daß man nun endlich in den für den Friedensschluß unternommenen Arbeiten
über den toten Punkt hinwegkommen werde, hat das kleine "widerspenstige"
Montenegro -- wie es Staatssekretär von Jagow neulich nannte -- die Welt
um eine Erfahrung bereichert, die vielleicht sogar den alten Ben Allda, wenn
er es hätte erleben können, einen Augenblick in seiner bewährten Weisheit
stutzig gemacht hätte. Die Tagespresse hätte nicht das fein müssen, was sie
doch sein soll -- der Spiegel der öffentlichen Meinung --, wenn sie nicht bei der
Nachricht von der Kapitulation von Skutari eine starke Aufregung bekundet hätte.

Ein unbefangener Zeitungsleser wird vielleicht in den Stimmen, die un¬
mittelbar nach dem Fall von Skutari laut wurden, vorwiegend den Ausdruck
der Überraschung erkannt haben. War es in der Tat eine Überraschung? In
gewissem Sinne allerdings! In der Diplomatie überwog vor dem Ereignis
anscheinend der Eindruck, daß die Hartnäckigkeit des Königs nitida -- abgesehen
davon, daß sie wohl auch als Bluff wirken sollte -- ihren Hauptgrund in der
Hoffnung auf die Nachgiebigkeit der russischen Politik hatte. Die Diplomatie
glaubte, daß ein ernstes Wort Rußlands seine Wirkung nicht verfehlen und
den König nitida veranlassen werde, Skutari, auch wenn er es genommen haben
sollte, zu räumen. Diese Erwartung ist freilich getäuscht worden, gründlicher --
auch das muß gesagt werden --, als es selbst die stärksten Skeptiker voraus¬
gesehen hatten. Montenegro ist Rußland mit derselben Respektlosigkeit gegen¬
übergetreten, wie den übrigen Großmächten, ja es hat, wenn man das historische
Verhältnis des kleinsten Slawenstaates zum größten in Betracht zieht, darin
sogar noch ein übriges getan, -- etwa wie der unartige Junge, der von
Fremden über den Zaun hinüber zur Ordnung gerufen wird, sich gar nicht


Grenzboten II 1913 14


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Nach dem Fall von Skutari
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le orientalische Frage ist von jeher von den Diplomaten gefürchtet
worden, nicht so sehr wegen der eigentümlichen Schwierigkeiten,
die sie in sich barg, als wegen der stets erneuten Erfahrung,
daß auf diesem Gebiet meist gerade das Unwahrscheinliche Er¬
eignis wird. Gerade als sich der Glaube zu befestigen anfing,
daß man nun endlich in den für den Friedensschluß unternommenen Arbeiten
über den toten Punkt hinwegkommen werde, hat das kleine „widerspenstige"
Montenegro — wie es Staatssekretär von Jagow neulich nannte — die Welt
um eine Erfahrung bereichert, die vielleicht sogar den alten Ben Allda, wenn
er es hätte erleben können, einen Augenblick in seiner bewährten Weisheit
stutzig gemacht hätte. Die Tagespresse hätte nicht das fein müssen, was sie
doch sein soll — der Spiegel der öffentlichen Meinung —, wenn sie nicht bei der
Nachricht von der Kapitulation von Skutari eine starke Aufregung bekundet hätte.

Ein unbefangener Zeitungsleser wird vielleicht in den Stimmen, die un¬
mittelbar nach dem Fall von Skutari laut wurden, vorwiegend den Ausdruck
der Überraschung erkannt haben. War es in der Tat eine Überraschung? In
gewissem Sinne allerdings! In der Diplomatie überwog vor dem Ereignis
anscheinend der Eindruck, daß die Hartnäckigkeit des Königs nitida — abgesehen
davon, daß sie wohl auch als Bluff wirken sollte — ihren Hauptgrund in der
Hoffnung auf die Nachgiebigkeit der russischen Politik hatte. Die Diplomatie
glaubte, daß ein ernstes Wort Rußlands seine Wirkung nicht verfehlen und
den König nitida veranlassen werde, Skutari, auch wenn er es genommen haben
sollte, zu räumen. Diese Erwartung ist freilich getäuscht worden, gründlicher —
auch das muß gesagt werden —, als es selbst die stärksten Skeptiker voraus¬
gesehen hatten. Montenegro ist Rußland mit derselben Respektlosigkeit gegen¬
übergetreten, wie den übrigen Großmächten, ja es hat, wenn man das historische
Verhältnis des kleinsten Slawenstaates zum größten in Betracht zieht, darin
sogar noch ein übriges getan, — etwa wie der unartige Junge, der von
Fremden über den Zaun hinüber zur Ordnung gerufen wird, sich gar nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/213>, abgerufen am 21.12.2024.