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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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und Schrift, der sie äußerlich aneinander¬
gereiht hat, nur ein Symbol für die gemein¬
same Aufgabe, der sie ihrer inneren Absicht
nach dienen. Weniger der Inhalt eint sie,
von dem sie ausgehen, als das Publikum,
an das sie sich wenden. Daß sie überhaupt
ein Publikum haben, ist das Bedeutsame.
Sie sind getragen von einer ganz bestimmten
Bewegung unserer Zeit, die wir von den
verschiedensten Seiten her einem Ziele zu¬
streben sehen. An dieser Bewegung ist die
Reife des Könnens gleich erfreulich wie die
Einmütigkeit des Willens.

Ausdruckskultur nennt sie der Kunstwnrt,
wir möchten umfassender von einer Kultur
der Form sprechen. Man beginnt alles das,
Woran eine einseitige Entwicklung nur den
Inhalt hervorgehoben hatte, unter den Ge¬
sichtspunkt der Form zu stellen, um damit
zu einer neuen und vertieften Auffassung zu
gelangen. So erscheinen Sprache und Schrift,
die unscheinbaren und selbstverständlichen Werk¬
zeuge, auf einmal in den Gesichtskreis der
öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Es liegt
etwas Philosophisches in dieser Nachdenklich¬
keit vor dem Alltäglichen. Der ungeahnte
Aufstieg der Sprachwissenschaft im letzten
Jahrhundert verbündet sich hier mit einer
ausgesprochen ästhetischen Richtung des mo¬
dernen Geistes, um ein literarisches Problem
zum Bewußtsein zu bringen, dessen wissen¬
schaftlicher wie künstlerischer Stachel vorher
nur von vereinzelten Köpfen empfunden wurde.
Wenn es diese Breitentendenz der neuen
Sprachbewegung auch mit sich brachte, daß ihre
großen Ideen nicht immer vor Verflachung
bewahrt blieben, gebührt ihr doch der Ruhm,
in unermüdlicher Aufklärungsarbeit allent¬
halben daS sprachliche Gewissen geschärft, den
Sinn für Form und Stil gehoben zu haben.
In Presse und Literatur, in Schule und Haus
werden feine und fast kostbare Gedanken ge¬
tragen, die heute jeder verstehen kann und
die jeden etwas angehen, der seine Zeit er¬
leben will.

Wenn vollends Namen wie Prof. Fricdr.
Kluge sich in den Dienst der Sache stellen,
wird man für sie auch wissenschaftlich gutsagen
können. Den spröden Stoff seiner Wissen¬
schaft der Allgemeinheit zugänglich zu machen,
hat Kluge einen eigenen und sehr einladenden

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Weg in mecliss res ausgebildet, den er in
seiner jüngsten Veröffentlichung: "Wort¬
forschung und Wortgeschichte" (Quelle und
Meyer, Leipzig, 3,60 M.) weiter verfolgt.
In einer Reihe von Aufsätzen, die bisher in
Fachzeitschriften verstreut waren, geht er hier
dein Werden und Wandern von Worten oder
Wortgruppen an der Hand einer reichen
Sammlung von Belegstellen nach, die zu den
Angaben der Wörterbücher von Grimm,
Hildebrandt u. a. neues und wertvolles Ma¬
terial fördern. Wenn der berühmte, man
darf Wohl sagen: führende Germanist damit
von vornherein der genauesten Beachtung der
Fachkreise sicher ist, so liefert sein Buch an¬
derseits ein beredtes Zeugnis dafür, daß solche
Studien über philologisches Interesse hinaus
anregend und reizvoll sein können. Wie
Romanfiguren stellt er uns seine Worte hin,
plastisch gesehen in ihrer festen Einordnung
auf eine farbige Umwelt, und ihre Erlebnisse
spielen sich ab mit der ganzen Spannung
menschlicher Schicksale. Es ist ein verdienst¬
volles Unternehmen, auf diese Weise Ver¬
ständnis für Aufgabe und Wesen der Wort¬
forschung zu verbreiten, die, wie keine andere
Disziplin, auf möglichst ausgedehnte Mithilfe
eines literarischen Publikums angewiesen ist.
Um einzusehen, wie verständlich und letzthin
zufällig brauchbare Stellen zu finden sind,
brauchen wir bloß zu bedenken, daß die
untersuchten Worte auf keinen bestimmten
Literaturkreis beschränkt sind und die Zeit
ihrer Geltung erst zu ermitteln war. So
finden wir in buntem Wechsel entlegene
Kulturromane, Reiseschilderungen, Briefe,
Stammbuchblätter usw. angezogen, auch ein
Artikel dieser Zeitschrift von 1861 wird er¬
wähnt. Mit besonderer Liebe hat sich Kluge
der Aufhellung studentischer und seemännischer
Ausdrücke angenommen, die ein dankbares
Feld für sprachliche Streifzüge abgeben. Die
gründliche Kenntnis des einzelnen, wie sie
den: Verfasser des bekannten "Etymologischen
Wörterbuchs" natürlich zur Verfügung steht,
verbindet sich aber mit einem umfassenden
Blick für große Zusammenhänge. Dabei
kommt ihm seine abgerundete Darstellung zu
statten, die in sinnvolle Gruppen von "Wort¬
sippen" zusammengefaßt, was in lexigrnphi-
schcr Anordnung alphabetisch getrennt er-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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und Schrift, der sie äußerlich aneinander¬
gereiht hat, nur ein Symbol für die gemein¬
same Aufgabe, der sie ihrer inneren Absicht
nach dienen. Weniger der Inhalt eint sie,
von dem sie ausgehen, als das Publikum,
an das sie sich wenden. Daß sie überhaupt
ein Publikum haben, ist das Bedeutsame.
Sie sind getragen von einer ganz bestimmten
Bewegung unserer Zeit, die wir von den
verschiedensten Seiten her einem Ziele zu¬
streben sehen. An dieser Bewegung ist die
Reife des Könnens gleich erfreulich wie die
Einmütigkeit des Willens.

Ausdruckskultur nennt sie der Kunstwnrt,
wir möchten umfassender von einer Kultur
der Form sprechen. Man beginnt alles das,
Woran eine einseitige Entwicklung nur den
Inhalt hervorgehoben hatte, unter den Ge¬
sichtspunkt der Form zu stellen, um damit
zu einer neuen und vertieften Auffassung zu
gelangen. So erscheinen Sprache und Schrift,
die unscheinbaren und selbstverständlichen Werk¬
zeuge, auf einmal in den Gesichtskreis der
öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Es liegt
etwas Philosophisches in dieser Nachdenklich¬
keit vor dem Alltäglichen. Der ungeahnte
Aufstieg der Sprachwissenschaft im letzten
Jahrhundert verbündet sich hier mit einer
ausgesprochen ästhetischen Richtung des mo¬
dernen Geistes, um ein literarisches Problem
zum Bewußtsein zu bringen, dessen wissen¬
schaftlicher wie künstlerischer Stachel vorher
nur von vereinzelten Köpfen empfunden wurde.
Wenn es diese Breitentendenz der neuen
Sprachbewegung auch mit sich brachte, daß ihre
großen Ideen nicht immer vor Verflachung
bewahrt blieben, gebührt ihr doch der Ruhm,
in unermüdlicher Aufklärungsarbeit allent¬
halben daS sprachliche Gewissen geschärft, den
Sinn für Form und Stil gehoben zu haben.
In Presse und Literatur, in Schule und Haus
werden feine und fast kostbare Gedanken ge¬
tragen, die heute jeder verstehen kann und
die jeden etwas angehen, der seine Zeit er¬
leben will.

Wenn vollends Namen wie Prof. Fricdr.
Kluge sich in den Dienst der Sache stellen,
wird man für sie auch wissenschaftlich gutsagen
können. Den spröden Stoff seiner Wissen¬
schaft der Allgemeinheit zugänglich zu machen,
hat Kluge einen eigenen und sehr einladenden

[Spaltenumbruch]

Weg in mecliss res ausgebildet, den er in
seiner jüngsten Veröffentlichung: „Wort¬
forschung und Wortgeschichte" (Quelle und
Meyer, Leipzig, 3,60 M.) weiter verfolgt.
In einer Reihe von Aufsätzen, die bisher in
Fachzeitschriften verstreut waren, geht er hier
dein Werden und Wandern von Worten oder
Wortgruppen an der Hand einer reichen
Sammlung von Belegstellen nach, die zu den
Angaben der Wörterbücher von Grimm,
Hildebrandt u. a. neues und wertvolles Ma¬
terial fördern. Wenn der berühmte, man
darf Wohl sagen: führende Germanist damit
von vornherein der genauesten Beachtung der
Fachkreise sicher ist, so liefert sein Buch an¬
derseits ein beredtes Zeugnis dafür, daß solche
Studien über philologisches Interesse hinaus
anregend und reizvoll sein können. Wie
Romanfiguren stellt er uns seine Worte hin,
plastisch gesehen in ihrer festen Einordnung
auf eine farbige Umwelt, und ihre Erlebnisse
spielen sich ab mit der ganzen Spannung
menschlicher Schicksale. Es ist ein verdienst¬
volles Unternehmen, auf diese Weise Ver¬
ständnis für Aufgabe und Wesen der Wort¬
forschung zu verbreiten, die, wie keine andere
Disziplin, auf möglichst ausgedehnte Mithilfe
eines literarischen Publikums angewiesen ist.
Um einzusehen, wie verständlich und letzthin
zufällig brauchbare Stellen zu finden sind,
brauchen wir bloß zu bedenken, daß die
untersuchten Worte auf keinen bestimmten
Literaturkreis beschränkt sind und die Zeit
ihrer Geltung erst zu ermitteln war. So
finden wir in buntem Wechsel entlegene
Kulturromane, Reiseschilderungen, Briefe,
Stammbuchblätter usw. angezogen, auch ein
Artikel dieser Zeitschrift von 1861 wird er¬
wähnt. Mit besonderer Liebe hat sich Kluge
der Aufhellung studentischer und seemännischer
Ausdrücke angenommen, die ein dankbares
Feld für sprachliche Streifzüge abgeben. Die
gründliche Kenntnis des einzelnen, wie sie
den: Verfasser des bekannten „Etymologischen
Wörterbuchs" natürlich zur Verfügung steht,
verbindet sich aber mit einem umfassenden
Blick für große Zusammenhänge. Dabei
kommt ihm seine abgerundete Darstellung zu
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sippen" zusammengefaßt, was in lexigrnphi-
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[0206] Maßgebliches und Unmaßgebliches und Schrift, der sie äußerlich aneinander¬ gereiht hat, nur ein Symbol für die gemein¬ same Aufgabe, der sie ihrer inneren Absicht nach dienen. Weniger der Inhalt eint sie, von dem sie ausgehen, als das Publikum, an das sie sich wenden. Daß sie überhaupt ein Publikum haben, ist das Bedeutsame. Sie sind getragen von einer ganz bestimmten Bewegung unserer Zeit, die wir von den verschiedensten Seiten her einem Ziele zu¬ streben sehen. An dieser Bewegung ist die Reife des Könnens gleich erfreulich wie die Einmütigkeit des Willens. Ausdruckskultur nennt sie der Kunstwnrt, wir möchten umfassender von einer Kultur der Form sprechen. Man beginnt alles das, Woran eine einseitige Entwicklung nur den Inhalt hervorgehoben hatte, unter den Ge¬ sichtspunkt der Form zu stellen, um damit zu einer neuen und vertieften Auffassung zu gelangen. So erscheinen Sprache und Schrift, die unscheinbaren und selbstverständlichen Werk¬ zeuge, auf einmal in den Gesichtskreis der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt. Es liegt etwas Philosophisches in dieser Nachdenklich¬ keit vor dem Alltäglichen. Der ungeahnte Aufstieg der Sprachwissenschaft im letzten Jahrhundert verbündet sich hier mit einer ausgesprochen ästhetischen Richtung des mo¬ dernen Geistes, um ein literarisches Problem zum Bewußtsein zu bringen, dessen wissen¬ schaftlicher wie künstlerischer Stachel vorher nur von vereinzelten Köpfen empfunden wurde. Wenn es diese Breitentendenz der neuen Sprachbewegung auch mit sich brachte, daß ihre großen Ideen nicht immer vor Verflachung bewahrt blieben, gebührt ihr doch der Ruhm, in unermüdlicher Aufklärungsarbeit allent¬ halben daS sprachliche Gewissen geschärft, den Sinn für Form und Stil gehoben zu haben. In Presse und Literatur, in Schule und Haus werden feine und fast kostbare Gedanken ge¬ tragen, die heute jeder verstehen kann und die jeden etwas angehen, der seine Zeit er¬ leben will. Wenn vollends Namen wie Prof. Fricdr. Kluge sich in den Dienst der Sache stellen, wird man für sie auch wissenschaftlich gutsagen können. Den spröden Stoff seiner Wissen¬ schaft der Allgemeinheit zugänglich zu machen, hat Kluge einen eigenen und sehr einladenden Weg in mecliss res ausgebildet, den er in seiner jüngsten Veröffentlichung: „Wort¬ forschung und Wortgeschichte" (Quelle und Meyer, Leipzig, 3,60 M.) weiter verfolgt. In einer Reihe von Aufsätzen, die bisher in Fachzeitschriften verstreut waren, geht er hier dein Werden und Wandern von Worten oder Wortgruppen an der Hand einer reichen Sammlung von Belegstellen nach, die zu den Angaben der Wörterbücher von Grimm, Hildebrandt u. a. neues und wertvolles Ma¬ terial fördern. Wenn der berühmte, man darf Wohl sagen: führende Germanist damit von vornherein der genauesten Beachtung der Fachkreise sicher ist, so liefert sein Buch an¬ derseits ein beredtes Zeugnis dafür, daß solche Studien über philologisches Interesse hinaus anregend und reizvoll sein können. Wie Romanfiguren stellt er uns seine Worte hin, plastisch gesehen in ihrer festen Einordnung auf eine farbige Umwelt, und ihre Erlebnisse spielen sich ab mit der ganzen Spannung menschlicher Schicksale. Es ist ein verdienst¬ volles Unternehmen, auf diese Weise Ver¬ ständnis für Aufgabe und Wesen der Wort¬ forschung zu verbreiten, die, wie keine andere Disziplin, auf möglichst ausgedehnte Mithilfe eines literarischen Publikums angewiesen ist. Um einzusehen, wie verständlich und letzthin zufällig brauchbare Stellen zu finden sind, brauchen wir bloß zu bedenken, daß die untersuchten Worte auf keinen bestimmten Literaturkreis beschränkt sind und die Zeit ihrer Geltung erst zu ermitteln war. So finden wir in buntem Wechsel entlegene Kulturromane, Reiseschilderungen, Briefe, Stammbuchblätter usw. angezogen, auch ein Artikel dieser Zeitschrift von 1861 wird er¬ wähnt. Mit besonderer Liebe hat sich Kluge der Aufhellung studentischer und seemännischer Ausdrücke angenommen, die ein dankbares Feld für sprachliche Streifzüge abgeben. Die gründliche Kenntnis des einzelnen, wie sie den: Verfasser des bekannten „Etymologischen Wörterbuchs" natürlich zur Verfügung steht, verbindet sich aber mit einem umfassenden Blick für große Zusammenhänge. Dabei kommt ihm seine abgerundete Darstellung zu statten, die in sinnvolle Gruppen von „Wort¬ sippen" zusammengefaßt, was in lexigrnphi- schcr Anordnung alphabetisch getrennt er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_325519/206>, abgerufen am 27.07.2024.