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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Der König von Sachalin

zu. Die geputzten Mädchen, die Offiziere, Beamten und Studenten, mit den
verwegen in den Nacken geschobenen Uniformmützen, eilten auf die Inseln,
zwischen denen hindurch der Newastrom in viele Arme geteilt seinen Weg in
den Finnischen Meerbusen sucht. Bei den hölzernen Datschen, die truppweise
hier und da auf den Inseln stehen, unter den Bäumen der Parks und Wälder
tummelt sich in den weißen Nächten ein reges Leben. Alles was zur Gesellschaft
zählt oder an ihrem Leben Anteil nimmt, liebt die Inseln in dieser Jahreszeit,
nur der breiten Masse des kleinen Mannes begegnet man hier nicht. Das
Volk in Rußland hat noch nicht wie in anderen Ländern die Vergnügungen
der oberen Klassen zu den seinen gemacht.

Herr Stürgens saß auf dem Balkon seiner Datsche. Wenige Meter vor
dem windschiefen Blockhäuschen vorbei flutete der Menschen- und Wagenstrom
in der Richtung zu der Brücke, die von der Krestowski- zur Jelagininsel führt.

Ich faß bald neben meinem Wirt, und während, wir Schritt für Schritt
meine geplante Reise durchsprachen, blickten wir hinaus auf das Leben und
Treiben in der nordischen Sommernacht. Nach längerer Unterhaltung war
gerade eine Pause in unserem Gespräch eingetreten und draußen eine der
plötzlichen Unterbrechungen in dem Verkehr, die auch die lebhaftesten Wege vor¬
übergehend in tiefe Stille tauchen kann. Deutlich klang in diesem Moment eine
wilde Zigeunerweise aus dem unweit gelegenen Krestowskigarten zu uns herüber.
Herr Stürgens lauschte eine Weile in Gedanken versunken, bis der neu ein¬
setzende Wagen- und Menschenstrom die Töne verschlang, und sagte dann: "Da
hätte ich beinahe etwas vergessen! Kommen Sie auch nach Sachalin?" Ich
erwiderte ihm, daß ich die Absicht hätte. Wenn auch seit dem russisch-japanischen
Krieg die Insel ihren ausschließlichen Charakter als Verbannungsort verloren
habe, so hoffte ich doch auch jetzt noch Einblicke in die wirtschaftlichen Bedin¬
gungen tun zu können, unter denen die Verbrecheransiedelungen gestanden hatten,
und es interessierten mich auch die Kohlen- und Petroleumfunde auf der Insel.

"Dann müßte ich Sie eigentlich mit Pawel Feodorowitsch bekannt machen,
dem König von Sachalin, wenn Sie -- setzte er nach einer fast unmerklichen
Pause hinzu --die Bekanntschaft eines Doppelmörders nicht scheuenl" "Durch¬
aus nicht," erwiderte ich, "ich würde eine solche Bekanntschaft im Rahmen
meiner Studien sogar begrüßen." "Er ist übrigens ein hochgebildeter Mann,
früherer Gardeingenieur-Offizier. Ich habe ihn schon als jungen Menschen kurz
vor seiner Katastrophe kennen gelernt, durch Zufall an einem Abend drüben im
Krestowskigarten -- es mögen nun fünfundzwanzig Jahre her sein; wir dachten
damals wohl beide nicht, daß wir uns einmal auf Sachalin wiedersehen
würden."

"Erzählen Sie doch," bat ich.

"Na meinethalben. Erwarten Sie aber nicht viel. Zu guter Letzt ist
nichts Absonderliches an der Geschichte; es gibt ähnliche Fälle in Menge.
Also gut, ich war damals noch jung und frisch nach Petersburg gekommen.


Der König von Sachalin

zu. Die geputzten Mädchen, die Offiziere, Beamten und Studenten, mit den
verwegen in den Nacken geschobenen Uniformmützen, eilten auf die Inseln,
zwischen denen hindurch der Newastrom in viele Arme geteilt seinen Weg in
den Finnischen Meerbusen sucht. Bei den hölzernen Datschen, die truppweise
hier und da auf den Inseln stehen, unter den Bäumen der Parks und Wälder
tummelt sich in den weißen Nächten ein reges Leben. Alles was zur Gesellschaft
zählt oder an ihrem Leben Anteil nimmt, liebt die Inseln in dieser Jahreszeit,
nur der breiten Masse des kleinen Mannes begegnet man hier nicht. Das
Volk in Rußland hat noch nicht wie in anderen Ländern die Vergnügungen
der oberen Klassen zu den seinen gemacht.

Herr Stürgens saß auf dem Balkon seiner Datsche. Wenige Meter vor
dem windschiefen Blockhäuschen vorbei flutete der Menschen- und Wagenstrom
in der Richtung zu der Brücke, die von der Krestowski- zur Jelagininsel führt.

Ich faß bald neben meinem Wirt, und während, wir Schritt für Schritt
meine geplante Reise durchsprachen, blickten wir hinaus auf das Leben und
Treiben in der nordischen Sommernacht. Nach längerer Unterhaltung war
gerade eine Pause in unserem Gespräch eingetreten und draußen eine der
plötzlichen Unterbrechungen in dem Verkehr, die auch die lebhaftesten Wege vor¬
übergehend in tiefe Stille tauchen kann. Deutlich klang in diesem Moment eine
wilde Zigeunerweise aus dem unweit gelegenen Krestowskigarten zu uns herüber.
Herr Stürgens lauschte eine Weile in Gedanken versunken, bis der neu ein¬
setzende Wagen- und Menschenstrom die Töne verschlang, und sagte dann: „Da
hätte ich beinahe etwas vergessen! Kommen Sie auch nach Sachalin?" Ich
erwiderte ihm, daß ich die Absicht hätte. Wenn auch seit dem russisch-japanischen
Krieg die Insel ihren ausschließlichen Charakter als Verbannungsort verloren
habe, so hoffte ich doch auch jetzt noch Einblicke in die wirtschaftlichen Bedin¬
gungen tun zu können, unter denen die Verbrecheransiedelungen gestanden hatten,
und es interessierten mich auch die Kohlen- und Petroleumfunde auf der Insel.

„Dann müßte ich Sie eigentlich mit Pawel Feodorowitsch bekannt machen,
dem König von Sachalin, wenn Sie — setzte er nach einer fast unmerklichen
Pause hinzu —die Bekanntschaft eines Doppelmörders nicht scheuenl" „Durch¬
aus nicht," erwiderte ich, „ich würde eine solche Bekanntschaft im Rahmen
meiner Studien sogar begrüßen." „Er ist übrigens ein hochgebildeter Mann,
früherer Gardeingenieur-Offizier. Ich habe ihn schon als jungen Menschen kurz
vor seiner Katastrophe kennen gelernt, durch Zufall an einem Abend drüben im
Krestowskigarten — es mögen nun fünfundzwanzig Jahre her sein; wir dachten
damals wohl beide nicht, daß wir uns einmal auf Sachalin wiedersehen
würden."

„Erzählen Sie doch," bat ich.

„Na meinethalben. Erwarten Sie aber nicht viel. Zu guter Letzt ist
nichts Absonderliches an der Geschichte; es gibt ähnliche Fälle in Menge.
Also gut, ich war damals noch jung und frisch nach Petersburg gekommen.


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[0099] Der König von Sachalin zu. Die geputzten Mädchen, die Offiziere, Beamten und Studenten, mit den verwegen in den Nacken geschobenen Uniformmützen, eilten auf die Inseln, zwischen denen hindurch der Newastrom in viele Arme geteilt seinen Weg in den Finnischen Meerbusen sucht. Bei den hölzernen Datschen, die truppweise hier und da auf den Inseln stehen, unter den Bäumen der Parks und Wälder tummelt sich in den weißen Nächten ein reges Leben. Alles was zur Gesellschaft zählt oder an ihrem Leben Anteil nimmt, liebt die Inseln in dieser Jahreszeit, nur der breiten Masse des kleinen Mannes begegnet man hier nicht. Das Volk in Rußland hat noch nicht wie in anderen Ländern die Vergnügungen der oberen Klassen zu den seinen gemacht. Herr Stürgens saß auf dem Balkon seiner Datsche. Wenige Meter vor dem windschiefen Blockhäuschen vorbei flutete der Menschen- und Wagenstrom in der Richtung zu der Brücke, die von der Krestowski- zur Jelagininsel führt. Ich faß bald neben meinem Wirt, und während, wir Schritt für Schritt meine geplante Reise durchsprachen, blickten wir hinaus auf das Leben und Treiben in der nordischen Sommernacht. Nach längerer Unterhaltung war gerade eine Pause in unserem Gespräch eingetreten und draußen eine der plötzlichen Unterbrechungen in dem Verkehr, die auch die lebhaftesten Wege vor¬ übergehend in tiefe Stille tauchen kann. Deutlich klang in diesem Moment eine wilde Zigeunerweise aus dem unweit gelegenen Krestowskigarten zu uns herüber. Herr Stürgens lauschte eine Weile in Gedanken versunken, bis der neu ein¬ setzende Wagen- und Menschenstrom die Töne verschlang, und sagte dann: „Da hätte ich beinahe etwas vergessen! Kommen Sie auch nach Sachalin?" Ich erwiderte ihm, daß ich die Absicht hätte. Wenn auch seit dem russisch-japanischen Krieg die Insel ihren ausschließlichen Charakter als Verbannungsort verloren habe, so hoffte ich doch auch jetzt noch Einblicke in die wirtschaftlichen Bedin¬ gungen tun zu können, unter denen die Verbrecheransiedelungen gestanden hatten, und es interessierten mich auch die Kohlen- und Petroleumfunde auf der Insel. „Dann müßte ich Sie eigentlich mit Pawel Feodorowitsch bekannt machen, dem König von Sachalin, wenn Sie — setzte er nach einer fast unmerklichen Pause hinzu —die Bekanntschaft eines Doppelmörders nicht scheuenl" „Durch¬ aus nicht," erwiderte ich, „ich würde eine solche Bekanntschaft im Rahmen meiner Studien sogar begrüßen." „Er ist übrigens ein hochgebildeter Mann, früherer Gardeingenieur-Offizier. Ich habe ihn schon als jungen Menschen kurz vor seiner Katastrophe kennen gelernt, durch Zufall an einem Abend drüben im Krestowskigarten — es mögen nun fünfundzwanzig Jahre her sein; wir dachten damals wohl beide nicht, daß wir uns einmal auf Sachalin wiedersehen würden." „Erzählen Sie doch," bat ich. „Na meinethalben. Erwarten Sie aber nicht viel. Zu guter Letzt ist nichts Absonderliches an der Geschichte; es gibt ähnliche Fälle in Menge. Also gut, ich war damals noch jung und frisch nach Petersburg gekommen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/99>, abgerufen am 29.06.2024.