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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Die Engländer in Indien

schlummerte. War erst der Herrscher mit seinem Heer geschlagen, so unterwarf
sich das niedere Volk meist widerstandslos und gehorchte jeder Laune des neuen
Tyrannen. Eine schlechte Regierung bedeutete für den indischen Bauern eine
ebenso unabänderliche Schickung des Himmels, wie eine Hungersnot infolge
Ausbleibens des Monsuns.




Man begreift, daß unter solchen Umständen selbst eine kleine Zahl ent¬
schlossener Eroberer in Indien leichtes Spiel hatte. War doch Clive selbst
erstaunt, als nach seinem Siege bei Plassey (1757) die ganze Provinz Bengalen
zu seinen Füßen lag; als die hohen Würdenträger des Landes sich nicht
scheuten, ihren bisherigen Herrn zu ermorden, um dem neu aufgegangenen
Stern zu gefallen; als sich Schatzkammern voll fabelhafter Reichtümer aufladen,
um die Gunst des Siegers zu erkaufen. Doch schnell fand man sich in die
ungewohnte Rolle hinein.

Vom Kaufmann zum Eroberer hatte man fast hundertundfunfzig Jahre ge¬
braucht. Der Schritt vom Verwalter einer Provinz und Vasallen des Großmoguls zum
Schiedsrichter und Herren des ganzen Landes vollzog sich schon fast automatisch.
Bald gab es in ganz Indien keine Frage mehr, die nicht britische "Interessen"
berührt hätte. Allerdings unterlag England dabei nur einem immer wieder¬
kehrenden Naturgesetz. Jeder geordnete Staat, der an unorganisierte Staaten¬
gebilde angrenzt, ist gezwungen, entweder seine Grenzen durch ausgedehnte
Verteidigungslinien gegen die periodischen Einfälle seiner Nachbarn zu sichern,
wie es die Römer und Chinesen versucht haben, oder er muß, wie die
Russen in Turkestan und die Franzosen in Nordafrika, die unruhigen Nachbar¬
länder unterwerfen und dem eigenen Verwaltungssnstem einverleiben. Das
Prinzip der Chinesen konnte für die Engländer nicht in Frage kommen. Ihr
Prestige, auf dem angesichts ihrer numerischen Schwäche allein ihre Herrschaft
beruhte, hätte durch eine solche passive Politik zu sehr gelitten. Die Macht
der Verhältnisse zwang sie also auf den Weg der Eroberungen.

Oft hat man inzwischen Versuche gemacht, auf diesem Wege einzuhalten.
Noch 1767 verkündete Clive das Prinzip, man müsse das "Königreich Audh"
(einen unabhängig gewordenen Vasallenstaat der Großmoguln mit der Haupt¬
stadt Lucknow) als Pufferstaat gegen das Großmogulreich erhalten. sieben¬
unddreißig Jahre später war der Großmogul bereits englischer Vasall. Der
Sadletsch sollte von nun ab die Westgrenze der Kolonie bilden. Aber das
Reich der Sikhs, an den man eine feste Grenze gefunden zu haben glaubte,
zerfiel 1839 nach dem Tode des großen Randschit Singh, des "Löwen des
Pendschab". Die unablässigen inneren Wirren zwangen die Engländer schließlich
zum Einschreiten und zur Eroberung des Pendschab. Nun glaubte man im
Indus eine "natürliche Grenze" gefunden zu haben (1846). Aber bald darauf
standen die englischen Vorposten bereits auf den Pässen der indischen Nand-


Grenzboten I 1913 ö
Die Engländer in Indien

schlummerte. War erst der Herrscher mit seinem Heer geschlagen, so unterwarf
sich das niedere Volk meist widerstandslos und gehorchte jeder Laune des neuen
Tyrannen. Eine schlechte Regierung bedeutete für den indischen Bauern eine
ebenso unabänderliche Schickung des Himmels, wie eine Hungersnot infolge
Ausbleibens des Monsuns.




Man begreift, daß unter solchen Umständen selbst eine kleine Zahl ent¬
schlossener Eroberer in Indien leichtes Spiel hatte. War doch Clive selbst
erstaunt, als nach seinem Siege bei Plassey (1757) die ganze Provinz Bengalen
zu seinen Füßen lag; als die hohen Würdenträger des Landes sich nicht
scheuten, ihren bisherigen Herrn zu ermorden, um dem neu aufgegangenen
Stern zu gefallen; als sich Schatzkammern voll fabelhafter Reichtümer aufladen,
um die Gunst des Siegers zu erkaufen. Doch schnell fand man sich in die
ungewohnte Rolle hinein.

Vom Kaufmann zum Eroberer hatte man fast hundertundfunfzig Jahre ge¬
braucht. Der Schritt vom Verwalter einer Provinz und Vasallen des Großmoguls zum
Schiedsrichter und Herren des ganzen Landes vollzog sich schon fast automatisch.
Bald gab es in ganz Indien keine Frage mehr, die nicht britische „Interessen"
berührt hätte. Allerdings unterlag England dabei nur einem immer wieder¬
kehrenden Naturgesetz. Jeder geordnete Staat, der an unorganisierte Staaten¬
gebilde angrenzt, ist gezwungen, entweder seine Grenzen durch ausgedehnte
Verteidigungslinien gegen die periodischen Einfälle seiner Nachbarn zu sichern,
wie es die Römer und Chinesen versucht haben, oder er muß, wie die
Russen in Turkestan und die Franzosen in Nordafrika, die unruhigen Nachbar¬
länder unterwerfen und dem eigenen Verwaltungssnstem einverleiben. Das
Prinzip der Chinesen konnte für die Engländer nicht in Frage kommen. Ihr
Prestige, auf dem angesichts ihrer numerischen Schwäche allein ihre Herrschaft
beruhte, hätte durch eine solche passive Politik zu sehr gelitten. Die Macht
der Verhältnisse zwang sie also auf den Weg der Eroberungen.

Oft hat man inzwischen Versuche gemacht, auf diesem Wege einzuhalten.
Noch 1767 verkündete Clive das Prinzip, man müsse das „Königreich Audh"
(einen unabhängig gewordenen Vasallenstaat der Großmoguln mit der Haupt¬
stadt Lucknow) als Pufferstaat gegen das Großmogulreich erhalten. sieben¬
unddreißig Jahre später war der Großmogul bereits englischer Vasall. Der
Sadletsch sollte von nun ab die Westgrenze der Kolonie bilden. Aber das
Reich der Sikhs, an den man eine feste Grenze gefunden zu haben glaubte,
zerfiel 1839 nach dem Tode des großen Randschit Singh, des „Löwen des
Pendschab". Die unablässigen inneren Wirren zwangen die Engländer schließlich
zum Einschreiten und zur Eroberung des Pendschab. Nun glaubte man im
Indus eine „natürliche Grenze" gefunden zu haben (1846). Aber bald darauf
standen die englischen Vorposten bereits auf den Pässen der indischen Nand-


Grenzboten I 1913 ö
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[0093] Die Engländer in Indien schlummerte. War erst der Herrscher mit seinem Heer geschlagen, so unterwarf sich das niedere Volk meist widerstandslos und gehorchte jeder Laune des neuen Tyrannen. Eine schlechte Regierung bedeutete für den indischen Bauern eine ebenso unabänderliche Schickung des Himmels, wie eine Hungersnot infolge Ausbleibens des Monsuns. Man begreift, daß unter solchen Umständen selbst eine kleine Zahl ent¬ schlossener Eroberer in Indien leichtes Spiel hatte. War doch Clive selbst erstaunt, als nach seinem Siege bei Plassey (1757) die ganze Provinz Bengalen zu seinen Füßen lag; als die hohen Würdenträger des Landes sich nicht scheuten, ihren bisherigen Herrn zu ermorden, um dem neu aufgegangenen Stern zu gefallen; als sich Schatzkammern voll fabelhafter Reichtümer aufladen, um die Gunst des Siegers zu erkaufen. Doch schnell fand man sich in die ungewohnte Rolle hinein. Vom Kaufmann zum Eroberer hatte man fast hundertundfunfzig Jahre ge¬ braucht. Der Schritt vom Verwalter einer Provinz und Vasallen des Großmoguls zum Schiedsrichter und Herren des ganzen Landes vollzog sich schon fast automatisch. Bald gab es in ganz Indien keine Frage mehr, die nicht britische „Interessen" berührt hätte. Allerdings unterlag England dabei nur einem immer wieder¬ kehrenden Naturgesetz. Jeder geordnete Staat, der an unorganisierte Staaten¬ gebilde angrenzt, ist gezwungen, entweder seine Grenzen durch ausgedehnte Verteidigungslinien gegen die periodischen Einfälle seiner Nachbarn zu sichern, wie es die Römer und Chinesen versucht haben, oder er muß, wie die Russen in Turkestan und die Franzosen in Nordafrika, die unruhigen Nachbar¬ länder unterwerfen und dem eigenen Verwaltungssnstem einverleiben. Das Prinzip der Chinesen konnte für die Engländer nicht in Frage kommen. Ihr Prestige, auf dem angesichts ihrer numerischen Schwäche allein ihre Herrschaft beruhte, hätte durch eine solche passive Politik zu sehr gelitten. Die Macht der Verhältnisse zwang sie also auf den Weg der Eroberungen. Oft hat man inzwischen Versuche gemacht, auf diesem Wege einzuhalten. Noch 1767 verkündete Clive das Prinzip, man müsse das „Königreich Audh" (einen unabhängig gewordenen Vasallenstaat der Großmoguln mit der Haupt¬ stadt Lucknow) als Pufferstaat gegen das Großmogulreich erhalten. sieben¬ unddreißig Jahre später war der Großmogul bereits englischer Vasall. Der Sadletsch sollte von nun ab die Westgrenze der Kolonie bilden. Aber das Reich der Sikhs, an den man eine feste Grenze gefunden zu haben glaubte, zerfiel 1839 nach dem Tode des großen Randschit Singh, des „Löwen des Pendschab". Die unablässigen inneren Wirren zwangen die Engländer schließlich zum Einschreiten und zur Eroberung des Pendschab. Nun glaubte man im Indus eine „natürliche Grenze" gefunden zu haben (1846). Aber bald darauf standen die englischen Vorposten bereits auf den Pässen der indischen Nand- Grenzboten I 1913 ö

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/93>, abgerufen am 04.07.2024.