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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Die Engländer in Indien

zuschreiben, daß das Aufsteigen der britischen Seemacht gerade mit dem Niedergang
des einst so mächtigen Großmogulreiches zusammentraf.

Als Clive im Jahre 1744 den Boden Indiens betrat, da fand er das
Land in einer Verfassung, die lebhaft an die derzeitigen Zustände im heiligen
römischen Reiche erinnerten. Hier wie dort bestand eine Zentralgewalt, die
zwar auf eine lange ruhmreiche Vergangenheit zurückblickte, deren innerer Verfall
aber nur noch mühsam durch die glänzende äußere Hülle verdeckt wurde. Lange
blutige Kriege hatten in beiden Reichen die Hilfsquellen der Zentralregierung
erschöpft. Die immer mächtiger gewordenen Feudalherren nannten sich zwar
noch Vasallen des Reiches, trugen indessen nie Bedenken, sich gegenseitig zu
bekriegen oder gar sich mit den Reichsfeinden gegen ihr Oberhaupt zu verbinden.
Viele Parallelen ließen sich hier ziehen. Die ewigen Kriege zwischen den Maha-
radschahs von Maisor und Arkot, den Maharatten, dem Nvzam von Hnderabad
und anderen gleichen fast vollständig den innerdeutschen Wirren des siebzehnten
und achtzehnten Jahrhunderts. Während deutsche Fürsten sich mit Franzosen
und Schweden verbanden, um die kaiserliche Gewalt zu schwächen, halfen die
Sikhs und die Fürsten von Nadschputhana dem Perser Nadir-Schah und dem
Afghanen Ahmed-Schah Durani bei ihren Einfällen nach Indien. 1789 eroberten
die Maharatten sogar Delhi und blendeten den Großmogul Schah Elam, so
daß der Nachkomme des großen Kaisers Akbar zu einem Spielball in den
Händen seiner Vasallen herabsank.

Das alte Deutsche Reich war aber wenigstens von einer einheitlichen Nation
bewohnt; überall sprach man dieselbe Sprache und betrachtete sich trotz allen
äußeren Gegensätzen immer als ein Volk von Brüdern. In Indien dagegen
sprach man -- und spricht man noch heute -- gegen dreihundertundfunfzig ver¬
schiedene Sprachen und Dialekte. Die Mannigfaltigkeit der Rassen, der Sprachen
und der Religionen schafft dort so schroffe Gegensätze, daß Europa im Vergleich
dazu fast wie ein einheitliches Ganzes erscheint. Tatsächlich ist auch Indien
vor der englischen Invasion nie ganz in einer Hand vereinigt gewesen. Gelang
es einmal einer starken Dynastie, wie den Guptas und Baders, große Teile
des Landes unter ihrem Zepter zu vereinigen und die inneren Streitigkeiten zu
unterdrücken, so folgte doch bald unweigerlich eine Periode des Niedergangs
und des Zerfalls, die meist erst mit dem Erscheinen eines neuen fremden
Eroberers ihr Ende fand.

Die Geschichte Indiens ist die Geschichte seiner Eroberung durch Fremde.
Derselbe Drang, der die Germanen der Völkerwanderung und die deutschen
Kaiser des Mittelalters zum sonnigen Süden und zur ewigen Stadt zog, der
lockte die kriegerischen Stämme Zentralasiens aus ihren wilden Gebirgen, von
ihren rauhen Hochplateaus hinab in die fruchtbare Ebene Indiens. Dort
wohnte zwar ein Volk, dessen Kopfzahl in die vielen Millionen ging, aber ent¬
nervt durch das Klima, erdrückt durch die Sorge ums tägliche Brot, ahnte die
Mehrzahl nicht, welche unwiderstehliche Gewalt in ihrer vereinigten Masse


Die Engländer in Indien

zuschreiben, daß das Aufsteigen der britischen Seemacht gerade mit dem Niedergang
des einst so mächtigen Großmogulreiches zusammentraf.

Als Clive im Jahre 1744 den Boden Indiens betrat, da fand er das
Land in einer Verfassung, die lebhaft an die derzeitigen Zustände im heiligen
römischen Reiche erinnerten. Hier wie dort bestand eine Zentralgewalt, die
zwar auf eine lange ruhmreiche Vergangenheit zurückblickte, deren innerer Verfall
aber nur noch mühsam durch die glänzende äußere Hülle verdeckt wurde. Lange
blutige Kriege hatten in beiden Reichen die Hilfsquellen der Zentralregierung
erschöpft. Die immer mächtiger gewordenen Feudalherren nannten sich zwar
noch Vasallen des Reiches, trugen indessen nie Bedenken, sich gegenseitig zu
bekriegen oder gar sich mit den Reichsfeinden gegen ihr Oberhaupt zu verbinden.
Viele Parallelen ließen sich hier ziehen. Die ewigen Kriege zwischen den Maha-
radschahs von Maisor und Arkot, den Maharatten, dem Nvzam von Hnderabad
und anderen gleichen fast vollständig den innerdeutschen Wirren des siebzehnten
und achtzehnten Jahrhunderts. Während deutsche Fürsten sich mit Franzosen
und Schweden verbanden, um die kaiserliche Gewalt zu schwächen, halfen die
Sikhs und die Fürsten von Nadschputhana dem Perser Nadir-Schah und dem
Afghanen Ahmed-Schah Durani bei ihren Einfällen nach Indien. 1789 eroberten
die Maharatten sogar Delhi und blendeten den Großmogul Schah Elam, so
daß der Nachkomme des großen Kaisers Akbar zu einem Spielball in den
Händen seiner Vasallen herabsank.

Das alte Deutsche Reich war aber wenigstens von einer einheitlichen Nation
bewohnt; überall sprach man dieselbe Sprache und betrachtete sich trotz allen
äußeren Gegensätzen immer als ein Volk von Brüdern. In Indien dagegen
sprach man — und spricht man noch heute — gegen dreihundertundfunfzig ver¬
schiedene Sprachen und Dialekte. Die Mannigfaltigkeit der Rassen, der Sprachen
und der Religionen schafft dort so schroffe Gegensätze, daß Europa im Vergleich
dazu fast wie ein einheitliches Ganzes erscheint. Tatsächlich ist auch Indien
vor der englischen Invasion nie ganz in einer Hand vereinigt gewesen. Gelang
es einmal einer starken Dynastie, wie den Guptas und Baders, große Teile
des Landes unter ihrem Zepter zu vereinigen und die inneren Streitigkeiten zu
unterdrücken, so folgte doch bald unweigerlich eine Periode des Niedergangs
und des Zerfalls, die meist erst mit dem Erscheinen eines neuen fremden
Eroberers ihr Ende fand.

Die Geschichte Indiens ist die Geschichte seiner Eroberung durch Fremde.
Derselbe Drang, der die Germanen der Völkerwanderung und die deutschen
Kaiser des Mittelalters zum sonnigen Süden und zur ewigen Stadt zog, der
lockte die kriegerischen Stämme Zentralasiens aus ihren wilden Gebirgen, von
ihren rauhen Hochplateaus hinab in die fruchtbare Ebene Indiens. Dort
wohnte zwar ein Volk, dessen Kopfzahl in die vielen Millionen ging, aber ent¬
nervt durch das Klima, erdrückt durch die Sorge ums tägliche Brot, ahnte die
Mehrzahl nicht, welche unwiderstehliche Gewalt in ihrer vereinigten Masse


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[0092] Die Engländer in Indien zuschreiben, daß das Aufsteigen der britischen Seemacht gerade mit dem Niedergang des einst so mächtigen Großmogulreiches zusammentraf. Als Clive im Jahre 1744 den Boden Indiens betrat, da fand er das Land in einer Verfassung, die lebhaft an die derzeitigen Zustände im heiligen römischen Reiche erinnerten. Hier wie dort bestand eine Zentralgewalt, die zwar auf eine lange ruhmreiche Vergangenheit zurückblickte, deren innerer Verfall aber nur noch mühsam durch die glänzende äußere Hülle verdeckt wurde. Lange blutige Kriege hatten in beiden Reichen die Hilfsquellen der Zentralregierung erschöpft. Die immer mächtiger gewordenen Feudalherren nannten sich zwar noch Vasallen des Reiches, trugen indessen nie Bedenken, sich gegenseitig zu bekriegen oder gar sich mit den Reichsfeinden gegen ihr Oberhaupt zu verbinden. Viele Parallelen ließen sich hier ziehen. Die ewigen Kriege zwischen den Maha- radschahs von Maisor und Arkot, den Maharatten, dem Nvzam von Hnderabad und anderen gleichen fast vollständig den innerdeutschen Wirren des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts. Während deutsche Fürsten sich mit Franzosen und Schweden verbanden, um die kaiserliche Gewalt zu schwächen, halfen die Sikhs und die Fürsten von Nadschputhana dem Perser Nadir-Schah und dem Afghanen Ahmed-Schah Durani bei ihren Einfällen nach Indien. 1789 eroberten die Maharatten sogar Delhi und blendeten den Großmogul Schah Elam, so daß der Nachkomme des großen Kaisers Akbar zu einem Spielball in den Händen seiner Vasallen herabsank. Das alte Deutsche Reich war aber wenigstens von einer einheitlichen Nation bewohnt; überall sprach man dieselbe Sprache und betrachtete sich trotz allen äußeren Gegensätzen immer als ein Volk von Brüdern. In Indien dagegen sprach man — und spricht man noch heute — gegen dreihundertundfunfzig ver¬ schiedene Sprachen und Dialekte. Die Mannigfaltigkeit der Rassen, der Sprachen und der Religionen schafft dort so schroffe Gegensätze, daß Europa im Vergleich dazu fast wie ein einheitliches Ganzes erscheint. Tatsächlich ist auch Indien vor der englischen Invasion nie ganz in einer Hand vereinigt gewesen. Gelang es einmal einer starken Dynastie, wie den Guptas und Baders, große Teile des Landes unter ihrem Zepter zu vereinigen und die inneren Streitigkeiten zu unterdrücken, so folgte doch bald unweigerlich eine Periode des Niedergangs und des Zerfalls, die meist erst mit dem Erscheinen eines neuen fremden Eroberers ihr Ende fand. Die Geschichte Indiens ist die Geschichte seiner Eroberung durch Fremde. Derselbe Drang, der die Germanen der Völkerwanderung und die deutschen Kaiser des Mittelalters zum sonnigen Süden und zur ewigen Stadt zog, der lockte die kriegerischen Stämme Zentralasiens aus ihren wilden Gebirgen, von ihren rauhen Hochplateaus hinab in die fruchtbare Ebene Indiens. Dort wohnte zwar ein Volk, dessen Kopfzahl in die vielen Millionen ging, aber ent¬ nervt durch das Klima, erdrückt durch die Sorge ums tägliche Brot, ahnte die Mehrzahl nicht, welche unwiderstehliche Gewalt in ihrer vereinigten Masse

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/92>, abgerufen am 22.12.2024.