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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Die Engländer in Indien

steigen und fallen sah, die auf viele Kilometer mit den Trümmern versunkener
Städte und Paläste bedeckt ist, eine neue glänzende Residenz entsteht.

Ob sie länger dauern wird wie ihre Vorgänger? Diese Frage könnte nach¬
denklich stimmen, wenn man hört, daß noch ein anderer wichtiger Grund bei
der Verlegung der Residenz angesprochen hat. Dieser zweite Grund paßte
schlecht in die Feststimmung des Krönungsdurbars; man hat seiner daher auch
möglichst wenig Erwähnung getan. Trotzdem konnte es kein Geheimnis bleiben,
daß der Zentralregierung der Boden in dem unruhigen Bengalen recht heiß
geworden war. Wer kann schließlich in dem Menschengewimmel der Pettah
(Eingeborenenstadt) Kalkuttas alle die politischen Fanatiker überwachen, welche
die revolutionäre Propaganda Bengalens hervorbringt? Daß es bisher der
Polizei gelungen ist, auf den Eisenbahnlinien, die sich gerade in der Nähe
Kalkuttas auf lange Strecken durch Sumpf, Busch und Wald hinziehen, Attentate
aus den vizeköniglichen Zug zu verhüten, kann man fast als einen glücklichen
Zufall bezeichnen. Die Gelegenheit, unter einem verständlichen Vorwande nach
dem loyaleren Delhi überzusiedeln, mag daher Lord Hardinge gar nicht so
unwillkommen sein.

Dem Fernerstehenden könnte diese Entwicklung der Dinge in Bengalen fast
widersinnig erscheinen. Gerade die Provinz, die am längsten unter englischer
Herrschaft steht, bereitet jetzt der Verwaltung die größten Schwierigkeiten; gerade
die Bengalis, die sich fast widerstandslos der englischen Invasion fügten, die
fast sprichwörtlich geworden waren für ihre Unterwürfigkeit und Energielosigkeit,
sind jetzt das unruhigste und widersetzlichste Element im indischen Völkerchaos.
Die kriegssrohen Sikhs aber, die stolzen Feudalherren Rädschputanas, die erst
nach einem Verzweiflungskampf ihren Nacken dem fremden Joch beugten, halfen
in den dunklen Tagen der "mutiny" die englische Herrschaft retten und können
heute loyale Untertanen von oft erprobter Treue genannt werden. Fast könnte
man daraus den Schluß ziehen: nicht trotzdem, sondern weil das Volk
solange unter europäischer Herrschaft gestanden hat, lehnt es sich
gegen seine Herren auf. Das wären keine angenehmen Aussichten für die
heutigen Kolonialmächte. "

Ich entsinne mich, vor mehreren Jahren in einer der großen französischen
Zeitschriften einen Artikel gelesen zu haben, in dem ein Franzose diese Er¬
scheinung an der Hand seiner in Tonking gesammelten Erfahrungen besprach.
Der Verfasser meinte: je länger ein asiatisches Volk unter europäischer Herrschaft
stehe, um so mehr verlöre es angesichts der Fehler und Mißgriffe der fremden
Regierungen alle Illusionen. Die ehrlichen und guten Elemente zögen sich bald
entmutigt und abgestoßen zurück; die anderen aber, welche die Sprache der
Eroberer gelernt hätten, welche mit den Fremden verkehrten, mit ihnen Geschäfte
trieben und in ihre Dienste träten, also scheinbar der fremden Zivilisation
freundlich gegenüber ständen, seien gerade die allergeführlichsten; nur die schlechtesten
Elemente gäben sich dazu her. Da sie im eigenen Volke kein Ansehen genössen.


Die Engländer in Indien

steigen und fallen sah, die auf viele Kilometer mit den Trümmern versunkener
Städte und Paläste bedeckt ist, eine neue glänzende Residenz entsteht.

Ob sie länger dauern wird wie ihre Vorgänger? Diese Frage könnte nach¬
denklich stimmen, wenn man hört, daß noch ein anderer wichtiger Grund bei
der Verlegung der Residenz angesprochen hat. Dieser zweite Grund paßte
schlecht in die Feststimmung des Krönungsdurbars; man hat seiner daher auch
möglichst wenig Erwähnung getan. Trotzdem konnte es kein Geheimnis bleiben,
daß der Zentralregierung der Boden in dem unruhigen Bengalen recht heiß
geworden war. Wer kann schließlich in dem Menschengewimmel der Pettah
(Eingeborenenstadt) Kalkuttas alle die politischen Fanatiker überwachen, welche
die revolutionäre Propaganda Bengalens hervorbringt? Daß es bisher der
Polizei gelungen ist, auf den Eisenbahnlinien, die sich gerade in der Nähe
Kalkuttas auf lange Strecken durch Sumpf, Busch und Wald hinziehen, Attentate
aus den vizeköniglichen Zug zu verhüten, kann man fast als einen glücklichen
Zufall bezeichnen. Die Gelegenheit, unter einem verständlichen Vorwande nach
dem loyaleren Delhi überzusiedeln, mag daher Lord Hardinge gar nicht so
unwillkommen sein.

Dem Fernerstehenden könnte diese Entwicklung der Dinge in Bengalen fast
widersinnig erscheinen. Gerade die Provinz, die am längsten unter englischer
Herrschaft steht, bereitet jetzt der Verwaltung die größten Schwierigkeiten; gerade
die Bengalis, die sich fast widerstandslos der englischen Invasion fügten, die
fast sprichwörtlich geworden waren für ihre Unterwürfigkeit und Energielosigkeit,
sind jetzt das unruhigste und widersetzlichste Element im indischen Völkerchaos.
Die kriegssrohen Sikhs aber, die stolzen Feudalherren Rädschputanas, die erst
nach einem Verzweiflungskampf ihren Nacken dem fremden Joch beugten, halfen
in den dunklen Tagen der „mutiny" die englische Herrschaft retten und können
heute loyale Untertanen von oft erprobter Treue genannt werden. Fast könnte
man daraus den Schluß ziehen: nicht trotzdem, sondern weil das Volk
solange unter europäischer Herrschaft gestanden hat, lehnt es sich
gegen seine Herren auf. Das wären keine angenehmen Aussichten für die
heutigen Kolonialmächte. »

Ich entsinne mich, vor mehreren Jahren in einer der großen französischen
Zeitschriften einen Artikel gelesen zu haben, in dem ein Franzose diese Er¬
scheinung an der Hand seiner in Tonking gesammelten Erfahrungen besprach.
Der Verfasser meinte: je länger ein asiatisches Volk unter europäischer Herrschaft
stehe, um so mehr verlöre es angesichts der Fehler und Mißgriffe der fremden
Regierungen alle Illusionen. Die ehrlichen und guten Elemente zögen sich bald
entmutigt und abgestoßen zurück; die anderen aber, welche die Sprache der
Eroberer gelernt hätten, welche mit den Fremden verkehrten, mit ihnen Geschäfte
trieben und in ihre Dienste träten, also scheinbar der fremden Zivilisation
freundlich gegenüber ständen, seien gerade die allergeführlichsten; nur die schlechtesten
Elemente gäben sich dazu her. Da sie im eigenen Volke kein Ansehen genössen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/90>, abgerufen am 22.07.2024.