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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Das seltenste Fremdwort

erlebten Sinn eines deutschen Schlagkräftigen verhält wie die platonische Idee
zur Erscheinung. So sehr diese Entrealisierung der Form zu der oben skizzierten
Sphäre der Wissenschaft paßt, so wenig eignet sie sich natürlich für die Kunst,
die überall eine einzige und zwar unmittelbar realistische Anschaulichkeit fordert.
Ich begegne damit von vornherein dem Einwand, daß in Konsequenz meiner
Theorie des Schlagkräftigen dem Dichter, der auf dieses Moment seines Aus¬
drucks vor allem fortgesetzt bedacht sein muß, weil er von innen nach außen
wirkt, doch unmöglich zugemutet werden kann, er solle sein Heil in Fremd¬
wörtern suchen. Gewiß nicht! Selbst in Schillers philosophischen Gedichten
geht doch das dichterische Forminteresse so sehr jedem anderen vor, daß wir
Fremdwörter in ihnen nur in dem zuerst dargelegten Sinne als unveräußerliche
Bestandteile der Terminologie finden, nicht in dem formgebenden Sinne, der
hier in Frage steht. Als inhaltlich lauterste Repräsentanten des philosophischen
Elements sind sie hier zugleich mit diesem Element für die tragenden Pfeiler
des Gedankengebäudes ebenso gefordert, wie sie sich direkt schädlich an den
"nur" ausschmückenden, formgebenden Bestandteilen erweisen würden, die in
einem Gedicht um so ausschließlicher den künstlerischen Formgesetzen der Real¬
anschauung unterworfen sind, je reiner sich das eigentlich künstlerische Interesse
des Dichters darin offenbart, daß er diese inhaltlich "unbedeutenden" Bestandteile
in den Vordergrund rückt.

Es sei bei der Gelegenheit darauf hingewiesen, durch welche Mittel sich
der Dichter die Schlagkraft des Ausdrucks erhalten kann. Halbwegs entgegen
kommt ihm dabei ein stillschweigendes Übereinkommen, nach dem der poetische
Leser alle vorkommenden, auch die scheinbar durchsichtigsten Wörter so körperlich,
wie ihm nur irgend möglich aufzufassen sich anheischig macht. Auch äußerlich wird
von verständigen Verlegern die poetische Grundstimmung des Lesers durch Ver¬
wendung einer künstlerischen Drucktype befestigt, die ihn zum intensiven Genuß
der formalen Sprachschatze einlädt, indem sie sich durch ihre ungewohnten
Charaktere der flüchtigen Lektüre widersetzt. Nun braucht der Dichter auch nur
seinerseits der Vertragspflicht zu genügen und jedes Wort in seiner eigensten,
konkreten Bedeutung anzuwenden, indem er nicht mehr und nicht weniger hin¬
einlegt, als es unmittelbar ausdrückt. Um die von dem Leser halb und halb
schon von vornherein geschenkte, reine Empfänglichkeit für den Lautsinn auch
bei den Wörtern wachzuerhalten, bei denen er durch den Staub des Alltags
blind geworden ist, wendet er den alten Kunstgriff an: er überrascht. Er
haucht die unscheinbare Münze an mit dem Odem des Schöpfers und im
Nu strahlt sie in dem Glanz, den sie hatte, als sie eben aus dem Stempel
hervorging. D. h. er setzt das Wort zu seiner Umgebung mit naiver Selbst¬
verständlichkeit auf einmal so in Beziehung, daß seine scheinbar entlegene, ihm
aber lautlich allein natürliche Bedeutung in das hellste Licht tritt. Daß also
einem solchen Wort, dessen Form für gewöhnlich das Körperliche abgestreift
hat, eine neue, schlagkräftige Form nur zugleich durch eine inhaltliche Neu-


Das seltenste Fremdwort

erlebten Sinn eines deutschen Schlagkräftigen verhält wie die platonische Idee
zur Erscheinung. So sehr diese Entrealisierung der Form zu der oben skizzierten
Sphäre der Wissenschaft paßt, so wenig eignet sie sich natürlich für die Kunst,
die überall eine einzige und zwar unmittelbar realistische Anschaulichkeit fordert.
Ich begegne damit von vornherein dem Einwand, daß in Konsequenz meiner
Theorie des Schlagkräftigen dem Dichter, der auf dieses Moment seines Aus¬
drucks vor allem fortgesetzt bedacht sein muß, weil er von innen nach außen
wirkt, doch unmöglich zugemutet werden kann, er solle sein Heil in Fremd¬
wörtern suchen. Gewiß nicht! Selbst in Schillers philosophischen Gedichten
geht doch das dichterische Forminteresse so sehr jedem anderen vor, daß wir
Fremdwörter in ihnen nur in dem zuerst dargelegten Sinne als unveräußerliche
Bestandteile der Terminologie finden, nicht in dem formgebenden Sinne, der
hier in Frage steht. Als inhaltlich lauterste Repräsentanten des philosophischen
Elements sind sie hier zugleich mit diesem Element für die tragenden Pfeiler
des Gedankengebäudes ebenso gefordert, wie sie sich direkt schädlich an den
„nur" ausschmückenden, formgebenden Bestandteilen erweisen würden, die in
einem Gedicht um so ausschließlicher den künstlerischen Formgesetzen der Real¬
anschauung unterworfen sind, je reiner sich das eigentlich künstlerische Interesse
des Dichters darin offenbart, daß er diese inhaltlich „unbedeutenden" Bestandteile
in den Vordergrund rückt.

Es sei bei der Gelegenheit darauf hingewiesen, durch welche Mittel sich
der Dichter die Schlagkraft des Ausdrucks erhalten kann. Halbwegs entgegen
kommt ihm dabei ein stillschweigendes Übereinkommen, nach dem der poetische
Leser alle vorkommenden, auch die scheinbar durchsichtigsten Wörter so körperlich,
wie ihm nur irgend möglich aufzufassen sich anheischig macht. Auch äußerlich wird
von verständigen Verlegern die poetische Grundstimmung des Lesers durch Ver¬
wendung einer künstlerischen Drucktype befestigt, die ihn zum intensiven Genuß
der formalen Sprachschatze einlädt, indem sie sich durch ihre ungewohnten
Charaktere der flüchtigen Lektüre widersetzt. Nun braucht der Dichter auch nur
seinerseits der Vertragspflicht zu genügen und jedes Wort in seiner eigensten,
konkreten Bedeutung anzuwenden, indem er nicht mehr und nicht weniger hin¬
einlegt, als es unmittelbar ausdrückt. Um die von dem Leser halb und halb
schon von vornherein geschenkte, reine Empfänglichkeit für den Lautsinn auch
bei den Wörtern wachzuerhalten, bei denen er durch den Staub des Alltags
blind geworden ist, wendet er den alten Kunstgriff an: er überrascht. Er
haucht die unscheinbare Münze an mit dem Odem des Schöpfers und im
Nu strahlt sie in dem Glanz, den sie hatte, als sie eben aus dem Stempel
hervorging. D. h. er setzt das Wort zu seiner Umgebung mit naiver Selbst¬
verständlichkeit auf einmal so in Beziehung, daß seine scheinbar entlegene, ihm
aber lautlich allein natürliche Bedeutung in das hellste Licht tritt. Daß also
einem solchen Wort, dessen Form für gewöhnlich das Körperliche abgestreift
hat, eine neue, schlagkräftige Form nur zugleich durch eine inhaltliche Neu-


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[0083] Das seltenste Fremdwort erlebten Sinn eines deutschen Schlagkräftigen verhält wie die platonische Idee zur Erscheinung. So sehr diese Entrealisierung der Form zu der oben skizzierten Sphäre der Wissenschaft paßt, so wenig eignet sie sich natürlich für die Kunst, die überall eine einzige und zwar unmittelbar realistische Anschaulichkeit fordert. Ich begegne damit von vornherein dem Einwand, daß in Konsequenz meiner Theorie des Schlagkräftigen dem Dichter, der auf dieses Moment seines Aus¬ drucks vor allem fortgesetzt bedacht sein muß, weil er von innen nach außen wirkt, doch unmöglich zugemutet werden kann, er solle sein Heil in Fremd¬ wörtern suchen. Gewiß nicht! Selbst in Schillers philosophischen Gedichten geht doch das dichterische Forminteresse so sehr jedem anderen vor, daß wir Fremdwörter in ihnen nur in dem zuerst dargelegten Sinne als unveräußerliche Bestandteile der Terminologie finden, nicht in dem formgebenden Sinne, der hier in Frage steht. Als inhaltlich lauterste Repräsentanten des philosophischen Elements sind sie hier zugleich mit diesem Element für die tragenden Pfeiler des Gedankengebäudes ebenso gefordert, wie sie sich direkt schädlich an den „nur" ausschmückenden, formgebenden Bestandteilen erweisen würden, die in einem Gedicht um so ausschließlicher den künstlerischen Formgesetzen der Real¬ anschauung unterworfen sind, je reiner sich das eigentlich künstlerische Interesse des Dichters darin offenbart, daß er diese inhaltlich „unbedeutenden" Bestandteile in den Vordergrund rückt. Es sei bei der Gelegenheit darauf hingewiesen, durch welche Mittel sich der Dichter die Schlagkraft des Ausdrucks erhalten kann. Halbwegs entgegen kommt ihm dabei ein stillschweigendes Übereinkommen, nach dem der poetische Leser alle vorkommenden, auch die scheinbar durchsichtigsten Wörter so körperlich, wie ihm nur irgend möglich aufzufassen sich anheischig macht. Auch äußerlich wird von verständigen Verlegern die poetische Grundstimmung des Lesers durch Ver¬ wendung einer künstlerischen Drucktype befestigt, die ihn zum intensiven Genuß der formalen Sprachschatze einlädt, indem sie sich durch ihre ungewohnten Charaktere der flüchtigen Lektüre widersetzt. Nun braucht der Dichter auch nur seinerseits der Vertragspflicht zu genügen und jedes Wort in seiner eigensten, konkreten Bedeutung anzuwenden, indem er nicht mehr und nicht weniger hin¬ einlegt, als es unmittelbar ausdrückt. Um die von dem Leser halb und halb schon von vornherein geschenkte, reine Empfänglichkeit für den Lautsinn auch bei den Wörtern wachzuerhalten, bei denen er durch den Staub des Alltags blind geworden ist, wendet er den alten Kunstgriff an: er überrascht. Er haucht die unscheinbare Münze an mit dem Odem des Schöpfers und im Nu strahlt sie in dem Glanz, den sie hatte, als sie eben aus dem Stempel hervorging. D. h. er setzt das Wort zu seiner Umgebung mit naiver Selbst¬ verständlichkeit auf einmal so in Beziehung, daß seine scheinbar entlegene, ihm aber lautlich allein natürliche Bedeutung in das hellste Licht tritt. Daß also einem solchen Wort, dessen Form für gewöhnlich das Körperliche abgestreift hat, eine neue, schlagkräftige Form nur zugleich durch eine inhaltliche Neu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/83>, abgerufen am 22.07.2024.