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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Zur Lntvölkerungsfrage

gelassenen Reste brachte der König nach einem unter Ludwig XIV. geprägten
Worte in die Ehe mit.

Die Geburtenminderung hängt vielleicht auch mit der in Frankreich indes
nicht stärker als in anderen Ländern hervorgetretenen Abwanderung der länd¬
lichen Bevölkerung in die Städte zusammen, da die Landbevölkerung kräftiger,
enthaltsamer und neuen Lehren wie dem Neumalthusianismus weniger zugäng¬
lich zu sein pflegt als die städtische.

2. Diese Tatsache, die körperliche und willensgemäße Gründe in sich ver¬
einigt, leitet über zu der erheblich größeren Gruppe der freiwilligen Kinder¬
beschränkung, namentlich infolge der in Frankreich weit verbreiteten Lehren des
Neumalthusianismus, der nicht nur, wie Malthus, die geschlechtliche Enthaltsam¬
keit, sondern die Verhinderung der Empfängnis und Geburt sowie das Hinaus¬
schieben der Heirat in Zeitungen, Anschlägen und Versammlungen predigt und
namentlich auch in die Kreise der Arbeiterschaft trägt, die seit alters als "Prole¬
tarier" eine zahlreiche prols8 (Nachkommenschaft) in die Welt setzten. Von
der Ausbreitung dieser Grundsätze, deren Erzeugnis noch auf einer Pariser
Hygieneausstellung im Jahre 1904 mit einer goldenen Medaille gekrönt wurde,
haben die kürzlichen Senatsverhandlungen ein erschreckendes Bild geliefert.

Die willensmäßigen Gründe, die sämtlich das Wohl des einzelnen dem
der Gesamtheit überordnen, lassen sich im übrigen in verschiedenen Erwägungen
finden:

a) Wirtschaftliche Ursachen, vermischt mit juristischen, scheinen den ersten
Rang einzunehmen. Wer nicht die Mittel hat, für Unterhalt seiner Kinder zu
sorgen, muß ihre Zahl zu beschränken suchen. Diese Begründung wird aller¬
dings durch die Statistik scheinbar Lügen gestraft. Denn die arme Bevölkerung
zeigt überall die höchste Geburtenziffer. So überwiegt diejenige der Fischer¬
und Arbeiterdepartements der Bretagne und des übrigen Nordens bei weitem
die der übrigen Teile Frankreichs, so weisen die armen Viertel von Berlin,
Paris und Wien die verhältnismäßig doppelte bis dreifache Geburtenzahl auf
wie die Stadtteile der Reichen. Die Tatsache, daß sich in diesen viel Dienst¬
personal ohne Kinder findet, genügt nicht zur Ausgleichung des Unterschiedes.
Indes dürfte die Erscheinung ihre Erklärung in dem Umstände finden, daß
vorwiegend die Gebildeten an die Zukunft ihrer Kinder denken, über die sich
'' die Armen weniger Sorge machen. So ist denn auch in den Gegenden Deutsch¬
lands und Frankreichs, wo das Versicherungs- und Sparkassenwesen stark aus¬
gebildet, die Bevölkerung also daran gewöhnt ist, vorauszuschauen, die Geburten¬
ziffer verhältnismäßig gering. Da nun in der Erziehung des Volkes zur Für¬
sorge sür künftige Fälle der Not kein Rückschritt gemacht, der Gedanke an das
spätere Wohlergehen der Kinder also nicht unterdrückt, vielmehr auch bei den
niederen Klassen erweckt und erhalten werden muß, ist nach den Gründen zu
forschen, die bei Vorhandensein dieser Voraussicht zur Beschränkung der Ge¬
burten führen, um ihnen dann wirksam zu begegnen.


Zur Lntvölkerungsfrage

gelassenen Reste brachte der König nach einem unter Ludwig XIV. geprägten
Worte in die Ehe mit.

Die Geburtenminderung hängt vielleicht auch mit der in Frankreich indes
nicht stärker als in anderen Ländern hervorgetretenen Abwanderung der länd¬
lichen Bevölkerung in die Städte zusammen, da die Landbevölkerung kräftiger,
enthaltsamer und neuen Lehren wie dem Neumalthusianismus weniger zugäng¬
lich zu sein pflegt als die städtische.

2. Diese Tatsache, die körperliche und willensgemäße Gründe in sich ver¬
einigt, leitet über zu der erheblich größeren Gruppe der freiwilligen Kinder¬
beschränkung, namentlich infolge der in Frankreich weit verbreiteten Lehren des
Neumalthusianismus, der nicht nur, wie Malthus, die geschlechtliche Enthaltsam¬
keit, sondern die Verhinderung der Empfängnis und Geburt sowie das Hinaus¬
schieben der Heirat in Zeitungen, Anschlägen und Versammlungen predigt und
namentlich auch in die Kreise der Arbeiterschaft trägt, die seit alters als „Prole¬
tarier" eine zahlreiche prols8 (Nachkommenschaft) in die Welt setzten. Von
der Ausbreitung dieser Grundsätze, deren Erzeugnis noch auf einer Pariser
Hygieneausstellung im Jahre 1904 mit einer goldenen Medaille gekrönt wurde,
haben die kürzlichen Senatsverhandlungen ein erschreckendes Bild geliefert.

Die willensmäßigen Gründe, die sämtlich das Wohl des einzelnen dem
der Gesamtheit überordnen, lassen sich im übrigen in verschiedenen Erwägungen
finden:

a) Wirtschaftliche Ursachen, vermischt mit juristischen, scheinen den ersten
Rang einzunehmen. Wer nicht die Mittel hat, für Unterhalt seiner Kinder zu
sorgen, muß ihre Zahl zu beschränken suchen. Diese Begründung wird aller¬
dings durch die Statistik scheinbar Lügen gestraft. Denn die arme Bevölkerung
zeigt überall die höchste Geburtenziffer. So überwiegt diejenige der Fischer¬
und Arbeiterdepartements der Bretagne und des übrigen Nordens bei weitem
die der übrigen Teile Frankreichs, so weisen die armen Viertel von Berlin,
Paris und Wien die verhältnismäßig doppelte bis dreifache Geburtenzahl auf
wie die Stadtteile der Reichen. Die Tatsache, daß sich in diesen viel Dienst¬
personal ohne Kinder findet, genügt nicht zur Ausgleichung des Unterschiedes.
Indes dürfte die Erscheinung ihre Erklärung in dem Umstände finden, daß
vorwiegend die Gebildeten an die Zukunft ihrer Kinder denken, über die sich
'' die Armen weniger Sorge machen. So ist denn auch in den Gegenden Deutsch¬
lands und Frankreichs, wo das Versicherungs- und Sparkassenwesen stark aus¬
gebildet, die Bevölkerung also daran gewöhnt ist, vorauszuschauen, die Geburten¬
ziffer verhältnismäßig gering. Da nun in der Erziehung des Volkes zur Für¬
sorge sür künftige Fälle der Not kein Rückschritt gemacht, der Gedanke an das
spätere Wohlergehen der Kinder also nicht unterdrückt, vielmehr auch bei den
niederen Klassen erweckt und erhalten werden muß, ist nach den Gründen zu
forschen, die bei Vorhandensein dieser Voraussicht zur Beschränkung der Ge¬
burten führen, um ihnen dann wirksam zu begegnen.


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[0633] Zur Lntvölkerungsfrage gelassenen Reste brachte der König nach einem unter Ludwig XIV. geprägten Worte in die Ehe mit. Die Geburtenminderung hängt vielleicht auch mit der in Frankreich indes nicht stärker als in anderen Ländern hervorgetretenen Abwanderung der länd¬ lichen Bevölkerung in die Städte zusammen, da die Landbevölkerung kräftiger, enthaltsamer und neuen Lehren wie dem Neumalthusianismus weniger zugäng¬ lich zu sein pflegt als die städtische. 2. Diese Tatsache, die körperliche und willensgemäße Gründe in sich ver¬ einigt, leitet über zu der erheblich größeren Gruppe der freiwilligen Kinder¬ beschränkung, namentlich infolge der in Frankreich weit verbreiteten Lehren des Neumalthusianismus, der nicht nur, wie Malthus, die geschlechtliche Enthaltsam¬ keit, sondern die Verhinderung der Empfängnis und Geburt sowie das Hinaus¬ schieben der Heirat in Zeitungen, Anschlägen und Versammlungen predigt und namentlich auch in die Kreise der Arbeiterschaft trägt, die seit alters als „Prole¬ tarier" eine zahlreiche prols8 (Nachkommenschaft) in die Welt setzten. Von der Ausbreitung dieser Grundsätze, deren Erzeugnis noch auf einer Pariser Hygieneausstellung im Jahre 1904 mit einer goldenen Medaille gekrönt wurde, haben die kürzlichen Senatsverhandlungen ein erschreckendes Bild geliefert. Die willensmäßigen Gründe, die sämtlich das Wohl des einzelnen dem der Gesamtheit überordnen, lassen sich im übrigen in verschiedenen Erwägungen finden: a) Wirtschaftliche Ursachen, vermischt mit juristischen, scheinen den ersten Rang einzunehmen. Wer nicht die Mittel hat, für Unterhalt seiner Kinder zu sorgen, muß ihre Zahl zu beschränken suchen. Diese Begründung wird aller¬ dings durch die Statistik scheinbar Lügen gestraft. Denn die arme Bevölkerung zeigt überall die höchste Geburtenziffer. So überwiegt diejenige der Fischer¬ und Arbeiterdepartements der Bretagne und des übrigen Nordens bei weitem die der übrigen Teile Frankreichs, so weisen die armen Viertel von Berlin, Paris und Wien die verhältnismäßig doppelte bis dreifache Geburtenzahl auf wie die Stadtteile der Reichen. Die Tatsache, daß sich in diesen viel Dienst¬ personal ohne Kinder findet, genügt nicht zur Ausgleichung des Unterschiedes. Indes dürfte die Erscheinung ihre Erklärung in dem Umstände finden, daß vorwiegend die Gebildeten an die Zukunft ihrer Kinder denken, über die sich '' die Armen weniger Sorge machen. So ist denn auch in den Gegenden Deutsch¬ lands und Frankreichs, wo das Versicherungs- und Sparkassenwesen stark aus¬ gebildet, die Bevölkerung also daran gewöhnt ist, vorauszuschauen, die Geburten¬ ziffer verhältnismäßig gering. Da nun in der Erziehung des Volkes zur Für¬ sorge sür künftige Fälle der Not kein Rückschritt gemacht, der Gedanke an das spätere Wohlergehen der Kinder also nicht unterdrückt, vielmehr auch bei den niederen Klassen erweckt und erhalten werden muß, ist nach den Gründen zu forschen, die bei Vorhandensein dieser Voraussicht zur Beschränkung der Ge¬ burten führen, um ihnen dann wirksam zu begegnen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/633>, abgerufen am 24.07.2024.