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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Die Überwindung des europäischen Nihilismus

Tagewerkes oder mitten im Trubel eines Festes wird sie laut. Sie fällt dich
an, plötzlich, unerwartet, und fortan wirst du sie nicht mehr los; mit Lachen
und Lärmen, mit Gleichgültigkeit und Willenskraft kannst du sie nicht zum
Schweigen bringen: sie tönt und heischt Antwort, sie schwillt an mit mächtiger
Stimme, sie dröhnt und donnert -- diese uralte Frage nach dem Sinne des
Lebens.

So klang sie den Indern an ihren Riesenströmen; unter den Nomaden
zwischen Euphrat und Tigris war sie laut; um die Küsten des Mittelmeeres,
vis Rom die Beherrscherin der bekannten Welt geworden war und die Menschheit
in unerhörter Machtfülle und nie gesehenem Reichtum sich jeden Luxus und
jeden Rausch der Sinne gönnte, hörte man sie so schneidend und so lange fragen,
bis die Herrschaft der alten Götter zerbrach und der neue Gott, der die Ant¬
wort war, Europa beherrschte.

Fast zweitausend Jahre lang hat diese Antwort uns genügt, die Antwort:
der Sinn, Zweck und Wert von Welt und Leben sei der Eine Gott, der das
Gute ist. Fast zweitausend Jahre lang haben wir in seinem Namen Gutes
und Schlimmes, Alltag und Feiertag, Leben und Tod auf uns genommen und
haben uns getröstet, daß nichts verloren gehen könne, keiner von uns und
nichts von unseren Taten und Gedanken, da Er ja wachte und zählte. Heute
genügt sie nicht mehr. Von neuem fragt es in allen Gassen, und atemlos
wartet die Welt auf eine neue Antwort.

Mit dem neunzehnten Jahrhundert tritt das Problem vom Sinn und
Wert des Lebens in den Mittelpunkt der geistigen Arbeit Europas. Nicht nur
ist die Philosophie Schopenhauers und Nietzsches zugestandenermaßen Wert¬
philosophie, sondern auch hinter Ibsens Dichtung steht das Problem, wenn er
das Schicksal des verfehlten Lebens, diese tragischste Tragik, die wir kennen,
dramatisch hin und her wendet; aus Zolas und Dostojewskys naturalistischen
Gemälden gähnt die Schauerlichkeit dieser Nacht, und wenn die neueste Lyrik
die vollkommene Sinnlosigkeit, das Chaos als ästhetischen Reiz empfindet und
darstellt, so handelt auch sie unausgesprochen von demselben Problem.

Es gibt aber Naturen, die so leidenschaftlich fragen, daß sie zerbrechen
müßten, wenn sie nicht stark genug wären, sich selber zu antworten. Zu ihnen
gehörte Tolstoi. Er war zu ungeduldig, um zu warten, bis Philosophie oder
Kunst oder irgendeine andere Instanz den Knoten gelöst Hütte; er zerhieb ihn
und wurde aus einem Weltkind und Dichter mitten im Sonnenschein des Er¬
folges zu einem Büßer und Prediger. Die Frage nach dem Sinne seines
Lebens hatte ihn gepackt, und um die Qual loszuwerden, gab er ihm einen
Sinn, indem er, gegen alle Vernunft, gegen Familie und Umgebung, gegen
fein eigenes Wissen und seine ganze Zeit sich einem primitiven Urchristentum
in die Arme warf.

Wir anderen, die wir mehr Geduld besitzen, haben indessen eine sehr neue,
sehr ernste, sehr nüchterne Instanz aufgerufen, über alle religiösen künstlerischen


Die Überwindung des europäischen Nihilismus

Tagewerkes oder mitten im Trubel eines Festes wird sie laut. Sie fällt dich
an, plötzlich, unerwartet, und fortan wirst du sie nicht mehr los; mit Lachen
und Lärmen, mit Gleichgültigkeit und Willenskraft kannst du sie nicht zum
Schweigen bringen: sie tönt und heischt Antwort, sie schwillt an mit mächtiger
Stimme, sie dröhnt und donnert — diese uralte Frage nach dem Sinne des
Lebens.

So klang sie den Indern an ihren Riesenströmen; unter den Nomaden
zwischen Euphrat und Tigris war sie laut; um die Küsten des Mittelmeeres,
vis Rom die Beherrscherin der bekannten Welt geworden war und die Menschheit
in unerhörter Machtfülle und nie gesehenem Reichtum sich jeden Luxus und
jeden Rausch der Sinne gönnte, hörte man sie so schneidend und so lange fragen,
bis die Herrschaft der alten Götter zerbrach und der neue Gott, der die Ant¬
wort war, Europa beherrschte.

Fast zweitausend Jahre lang hat diese Antwort uns genügt, die Antwort:
der Sinn, Zweck und Wert von Welt und Leben sei der Eine Gott, der das
Gute ist. Fast zweitausend Jahre lang haben wir in seinem Namen Gutes
und Schlimmes, Alltag und Feiertag, Leben und Tod auf uns genommen und
haben uns getröstet, daß nichts verloren gehen könne, keiner von uns und
nichts von unseren Taten und Gedanken, da Er ja wachte und zählte. Heute
genügt sie nicht mehr. Von neuem fragt es in allen Gassen, und atemlos
wartet die Welt auf eine neue Antwort.

Mit dem neunzehnten Jahrhundert tritt das Problem vom Sinn und
Wert des Lebens in den Mittelpunkt der geistigen Arbeit Europas. Nicht nur
ist die Philosophie Schopenhauers und Nietzsches zugestandenermaßen Wert¬
philosophie, sondern auch hinter Ibsens Dichtung steht das Problem, wenn er
das Schicksal des verfehlten Lebens, diese tragischste Tragik, die wir kennen,
dramatisch hin und her wendet; aus Zolas und Dostojewskys naturalistischen
Gemälden gähnt die Schauerlichkeit dieser Nacht, und wenn die neueste Lyrik
die vollkommene Sinnlosigkeit, das Chaos als ästhetischen Reiz empfindet und
darstellt, so handelt auch sie unausgesprochen von demselben Problem.

Es gibt aber Naturen, die so leidenschaftlich fragen, daß sie zerbrechen
müßten, wenn sie nicht stark genug wären, sich selber zu antworten. Zu ihnen
gehörte Tolstoi. Er war zu ungeduldig, um zu warten, bis Philosophie oder
Kunst oder irgendeine andere Instanz den Knoten gelöst Hütte; er zerhieb ihn
und wurde aus einem Weltkind und Dichter mitten im Sonnenschein des Er¬
folges zu einem Büßer und Prediger. Die Frage nach dem Sinne seines
Lebens hatte ihn gepackt, und um die Qual loszuwerden, gab er ihm einen
Sinn, indem er, gegen alle Vernunft, gegen Familie und Umgebung, gegen
fein eigenes Wissen und seine ganze Zeit sich einem primitiven Urchristentum
in die Arme warf.

Wir anderen, die wir mehr Geduld besitzen, haben indessen eine sehr neue,
sehr ernste, sehr nüchterne Instanz aufgerufen, über alle religiösen künstlerischen


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[0611] Die Überwindung des europäischen Nihilismus Tagewerkes oder mitten im Trubel eines Festes wird sie laut. Sie fällt dich an, plötzlich, unerwartet, und fortan wirst du sie nicht mehr los; mit Lachen und Lärmen, mit Gleichgültigkeit und Willenskraft kannst du sie nicht zum Schweigen bringen: sie tönt und heischt Antwort, sie schwillt an mit mächtiger Stimme, sie dröhnt und donnert — diese uralte Frage nach dem Sinne des Lebens. So klang sie den Indern an ihren Riesenströmen; unter den Nomaden zwischen Euphrat und Tigris war sie laut; um die Küsten des Mittelmeeres, vis Rom die Beherrscherin der bekannten Welt geworden war und die Menschheit in unerhörter Machtfülle und nie gesehenem Reichtum sich jeden Luxus und jeden Rausch der Sinne gönnte, hörte man sie so schneidend und so lange fragen, bis die Herrschaft der alten Götter zerbrach und der neue Gott, der die Ant¬ wort war, Europa beherrschte. Fast zweitausend Jahre lang hat diese Antwort uns genügt, die Antwort: der Sinn, Zweck und Wert von Welt und Leben sei der Eine Gott, der das Gute ist. Fast zweitausend Jahre lang haben wir in seinem Namen Gutes und Schlimmes, Alltag und Feiertag, Leben und Tod auf uns genommen und haben uns getröstet, daß nichts verloren gehen könne, keiner von uns und nichts von unseren Taten und Gedanken, da Er ja wachte und zählte. Heute genügt sie nicht mehr. Von neuem fragt es in allen Gassen, und atemlos wartet die Welt auf eine neue Antwort. Mit dem neunzehnten Jahrhundert tritt das Problem vom Sinn und Wert des Lebens in den Mittelpunkt der geistigen Arbeit Europas. Nicht nur ist die Philosophie Schopenhauers und Nietzsches zugestandenermaßen Wert¬ philosophie, sondern auch hinter Ibsens Dichtung steht das Problem, wenn er das Schicksal des verfehlten Lebens, diese tragischste Tragik, die wir kennen, dramatisch hin und her wendet; aus Zolas und Dostojewskys naturalistischen Gemälden gähnt die Schauerlichkeit dieser Nacht, und wenn die neueste Lyrik die vollkommene Sinnlosigkeit, das Chaos als ästhetischen Reiz empfindet und darstellt, so handelt auch sie unausgesprochen von demselben Problem. Es gibt aber Naturen, die so leidenschaftlich fragen, daß sie zerbrechen müßten, wenn sie nicht stark genug wären, sich selber zu antworten. Zu ihnen gehörte Tolstoi. Er war zu ungeduldig, um zu warten, bis Philosophie oder Kunst oder irgendeine andere Instanz den Knoten gelöst Hütte; er zerhieb ihn und wurde aus einem Weltkind und Dichter mitten im Sonnenschein des Er¬ folges zu einem Büßer und Prediger. Die Frage nach dem Sinne seines Lebens hatte ihn gepackt, und um die Qual loszuwerden, gab er ihm einen Sinn, indem er, gegen alle Vernunft, gegen Familie und Umgebung, gegen fein eigenes Wissen und seine ganze Zeit sich einem primitiven Urchristentum in die Arme warf. Wir anderen, die wir mehr Geduld besitzen, haben indessen eine sehr neue, sehr ernste, sehr nüchterne Instanz aufgerufen, über alle religiösen künstlerischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/611>, abgerufen am 22.12.2024.