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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Die Engländer in Indien

Hungersnöte hat es zu allen Zeiten in Indien gegeben. Ihre Ursache ist
fast immer das Ausbleiben der in normalen Jahren Mitte Mai einsetzenden
Monsunregen. Von dieser Regenperiode hängt nicht nur das Gedeihen einer
einzigen Ernte (in Indien wird zwei- bis dreimal im Jahre geerntet), sondern
auch die Speisung der kleineren Wasserläufe, der Brunnen und "Tanks" ab,
welche zur Bewässerung der Felder während der regenlosen Monate dienen.
Wenn man nun bedenkt, welche ungeheuren Menschenmengen in den großen
Flußebenen Indiens zusammengedrängt find, wenn man ferner bedenkt, daß
diese Massen auch in normalen Jahren nur gerade ihr Leben fristen können
und Vorräte an Geld und Lebensmitteln fast nie besitzen, so kann man sich eine
Vorstellung davon machen, welche Katastrophen das Ausbleiben des Monsuns
zur Folge haben muß. Früher, als es noch keine Eisenbahnen in Indien gab,
blieb den von einer Mißernte betroffenen Leuten eigentlich keine andere Wahl,
als rechtzeitig auszuwandern oder Hungers zu sterben. Mochte auch in anderen
Teilen des weiten Landes die Ernte gut geraten sein, es gab keine Möglichkeit,
die überschüssigen Lebensmittel durch das weithin verdorrte, wasserlose Land
bis in die Zentren der Hungersnotbezirke zu bringen. Seit es Eisenbahnen,
Straßen und Kanäle in Indien gibt, hat sich das alles geändert.

Meist werden nur einzelne, begrenzte Teile Indiens von Mißwachs betroffen,
so daß das Land im ganzen genommen selbst in schlechten Jahren mehr Lebens¬
mittel produziert, als der eigene Bedarf erfordert. Theoretisch besteht also die
Möglichkeit, jeden Hungersnotbezirk ohne Einfuhr vom Ausland mit den nötigen
Lebensmitteln zu versorgen. Nun kann den Hungerleidenden das billigste Brot
nichts nützen, weil es ihnen an Geld fehlt, um es zu kaufen*). Hier setzt nun
die englische Regierung mit den sogenannten "iamine relisk >port8" ein, d. h. sie
schreibt Notftandsarbeiten für die Bevölkerung aus. Der Umfang dieser Arbeiten
-- es handelt sich meist um Straßen- und Kanalbauten, also dem Gemeinwohl
zugute kommende Arbeiten -- richtet sich ganz nach der Zahl der Leute, welche
Arbeit suchen. Damit der ganze Apparat im Notfall sofort zu spielen beginnt,
ist alles wie ein Mobilmachungsplan vorbereitet. Für jeden "kamins ciistrict"
ist ein englischer Aufseher in Aussicht genommen; die Pläne für die Notstands¬
arbeiten sind in besondere Karten eingezeichnet; für jeden Bezirk liegt ein Fond
bereit, der die Auslagen der ersten Tage deckt; kurz es bedarf bloß des Stich¬
wortes und jeder Beteiligte weiß, was er zu tun hat. Jede Person, die an
den öffentlichen Arbeiten teilnimmt, erhält entweder eine Tagesportion in natura,
oder so viel Geld, daß sie sich nach dem Stand der Lebensmittelpretse für einen
Tag ihre Nahrung kaufen kann. Nur wer arbeitet, wird unterstützt; aus¬
genommen find nur Kranke, Arbeitsunfähige und -- als einzige Konzession an



*) In dem Bezirk Dinaschpur (nördl. Kalkutta) brach 1907 eine Hungersnot aus.
Trotzdem waren dort die Lebensmittelpreise niedriger, als im Vorjahre, welches eine sehr
gute Ernte zu verzeichnen hatte. Der Überschuß aus anderen Gegenden glich eben den
Ausfall aus.
Die Engländer in Indien

Hungersnöte hat es zu allen Zeiten in Indien gegeben. Ihre Ursache ist
fast immer das Ausbleiben der in normalen Jahren Mitte Mai einsetzenden
Monsunregen. Von dieser Regenperiode hängt nicht nur das Gedeihen einer
einzigen Ernte (in Indien wird zwei- bis dreimal im Jahre geerntet), sondern
auch die Speisung der kleineren Wasserläufe, der Brunnen und „Tanks" ab,
welche zur Bewässerung der Felder während der regenlosen Monate dienen.
Wenn man nun bedenkt, welche ungeheuren Menschenmengen in den großen
Flußebenen Indiens zusammengedrängt find, wenn man ferner bedenkt, daß
diese Massen auch in normalen Jahren nur gerade ihr Leben fristen können
und Vorräte an Geld und Lebensmitteln fast nie besitzen, so kann man sich eine
Vorstellung davon machen, welche Katastrophen das Ausbleiben des Monsuns
zur Folge haben muß. Früher, als es noch keine Eisenbahnen in Indien gab,
blieb den von einer Mißernte betroffenen Leuten eigentlich keine andere Wahl,
als rechtzeitig auszuwandern oder Hungers zu sterben. Mochte auch in anderen
Teilen des weiten Landes die Ernte gut geraten sein, es gab keine Möglichkeit,
die überschüssigen Lebensmittel durch das weithin verdorrte, wasserlose Land
bis in die Zentren der Hungersnotbezirke zu bringen. Seit es Eisenbahnen,
Straßen und Kanäle in Indien gibt, hat sich das alles geändert.

Meist werden nur einzelne, begrenzte Teile Indiens von Mißwachs betroffen,
so daß das Land im ganzen genommen selbst in schlechten Jahren mehr Lebens¬
mittel produziert, als der eigene Bedarf erfordert. Theoretisch besteht also die
Möglichkeit, jeden Hungersnotbezirk ohne Einfuhr vom Ausland mit den nötigen
Lebensmitteln zu versorgen. Nun kann den Hungerleidenden das billigste Brot
nichts nützen, weil es ihnen an Geld fehlt, um es zu kaufen*). Hier setzt nun
die englische Regierung mit den sogenannten „iamine relisk >port8" ein, d. h. sie
schreibt Notftandsarbeiten für die Bevölkerung aus. Der Umfang dieser Arbeiten
— es handelt sich meist um Straßen- und Kanalbauten, also dem Gemeinwohl
zugute kommende Arbeiten — richtet sich ganz nach der Zahl der Leute, welche
Arbeit suchen. Damit der ganze Apparat im Notfall sofort zu spielen beginnt,
ist alles wie ein Mobilmachungsplan vorbereitet. Für jeden „kamins ciistrict"
ist ein englischer Aufseher in Aussicht genommen; die Pläne für die Notstands¬
arbeiten sind in besondere Karten eingezeichnet; für jeden Bezirk liegt ein Fond
bereit, der die Auslagen der ersten Tage deckt; kurz es bedarf bloß des Stich¬
wortes und jeder Beteiligte weiß, was er zu tun hat. Jede Person, die an
den öffentlichen Arbeiten teilnimmt, erhält entweder eine Tagesportion in natura,
oder so viel Geld, daß sie sich nach dem Stand der Lebensmittelpretse für einen
Tag ihre Nahrung kaufen kann. Nur wer arbeitet, wird unterstützt; aus¬
genommen find nur Kranke, Arbeitsunfähige und — als einzige Konzession an



*) In dem Bezirk Dinaschpur (nördl. Kalkutta) brach 1907 eine Hungersnot aus.
Trotzdem waren dort die Lebensmittelpreise niedriger, als im Vorjahre, welches eine sehr
gute Ernte zu verzeichnen hatte. Der Überschuß aus anderen Gegenden glich eben den
Ausfall aus.
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[0573] Die Engländer in Indien Hungersnöte hat es zu allen Zeiten in Indien gegeben. Ihre Ursache ist fast immer das Ausbleiben der in normalen Jahren Mitte Mai einsetzenden Monsunregen. Von dieser Regenperiode hängt nicht nur das Gedeihen einer einzigen Ernte (in Indien wird zwei- bis dreimal im Jahre geerntet), sondern auch die Speisung der kleineren Wasserläufe, der Brunnen und „Tanks" ab, welche zur Bewässerung der Felder während der regenlosen Monate dienen. Wenn man nun bedenkt, welche ungeheuren Menschenmengen in den großen Flußebenen Indiens zusammengedrängt find, wenn man ferner bedenkt, daß diese Massen auch in normalen Jahren nur gerade ihr Leben fristen können und Vorräte an Geld und Lebensmitteln fast nie besitzen, so kann man sich eine Vorstellung davon machen, welche Katastrophen das Ausbleiben des Monsuns zur Folge haben muß. Früher, als es noch keine Eisenbahnen in Indien gab, blieb den von einer Mißernte betroffenen Leuten eigentlich keine andere Wahl, als rechtzeitig auszuwandern oder Hungers zu sterben. Mochte auch in anderen Teilen des weiten Landes die Ernte gut geraten sein, es gab keine Möglichkeit, die überschüssigen Lebensmittel durch das weithin verdorrte, wasserlose Land bis in die Zentren der Hungersnotbezirke zu bringen. Seit es Eisenbahnen, Straßen und Kanäle in Indien gibt, hat sich das alles geändert. Meist werden nur einzelne, begrenzte Teile Indiens von Mißwachs betroffen, so daß das Land im ganzen genommen selbst in schlechten Jahren mehr Lebens¬ mittel produziert, als der eigene Bedarf erfordert. Theoretisch besteht also die Möglichkeit, jeden Hungersnotbezirk ohne Einfuhr vom Ausland mit den nötigen Lebensmitteln zu versorgen. Nun kann den Hungerleidenden das billigste Brot nichts nützen, weil es ihnen an Geld fehlt, um es zu kaufen*). Hier setzt nun die englische Regierung mit den sogenannten „iamine relisk >port8" ein, d. h. sie schreibt Notftandsarbeiten für die Bevölkerung aus. Der Umfang dieser Arbeiten — es handelt sich meist um Straßen- und Kanalbauten, also dem Gemeinwohl zugute kommende Arbeiten — richtet sich ganz nach der Zahl der Leute, welche Arbeit suchen. Damit der ganze Apparat im Notfall sofort zu spielen beginnt, ist alles wie ein Mobilmachungsplan vorbereitet. Für jeden „kamins ciistrict" ist ein englischer Aufseher in Aussicht genommen; die Pläne für die Notstands¬ arbeiten sind in besondere Karten eingezeichnet; für jeden Bezirk liegt ein Fond bereit, der die Auslagen der ersten Tage deckt; kurz es bedarf bloß des Stich¬ wortes und jeder Beteiligte weiß, was er zu tun hat. Jede Person, die an den öffentlichen Arbeiten teilnimmt, erhält entweder eine Tagesportion in natura, oder so viel Geld, daß sie sich nach dem Stand der Lebensmittelpretse für einen Tag ihre Nahrung kaufen kann. Nur wer arbeitet, wird unterstützt; aus¬ genommen find nur Kranke, Arbeitsunfähige und — als einzige Konzession an *) In dem Bezirk Dinaschpur (nördl. Kalkutta) brach 1907 eine Hungersnot aus. Trotzdem waren dort die Lebensmittelpreise niedriger, als im Vorjahre, welches eine sehr gute Ernte zu verzeichnen hatte. Der Überschuß aus anderen Gegenden glich eben den Ausfall aus.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/573>, abgerufen am 25.08.2024.