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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Zur Gntvölkennigsfrage

oder häufig geeignet sein wird, das Kind in seiner geistigen Entwicklung und
Betätigung zu beschränken.

6. Die oft gehörte Behauptung, die wirtschaftliche Lage der arbeitenden
Klassen werde durch die Zunahme der Bevölkerung verschlechtert, wird schon
durch die Geschichte widerlegt. Denn obwohl sich die Bevölkerung Europas
im Laufe des letzten Jahrhunderts mehr als verdoppelt hat, ist doch der
Hungertod weniger häufig als einst, und die kürzlich in der Bretagne aus¬
gebrochene Hungersnot war nicht auf eine Übervölkerung jenes Landstrichs
zurückzuführen. Mit der Bevölkerung vermehren sich in der Tat die Bedürf¬
nisse und damit die Arbeitsmöglichkeiten und Erwerbsquellen auch für die
unteren Schichten des Volkes.

7. Mit wenig größerem Rechte hat man seit John Stewart Mill als
Folge der Entvölkerung eine Vermehrung des Volksreichtums angesehen. Jeder
Mensch, sagt man, koste im Durchschnitt bis zu seinem fünfundzwanzigsten
Lebensjahre in bürgerlichen Kreisen jährlich etwa 2000 Mark, entziehe also den
Eltern ungefähr 50000 Mark zu nutzbarer Anlegung in Handel und Industrie;
daher habe Deutschland mit seinem Überschuß von 1250000 jährlicher
Geburten gegenüber Frankreich eine jährliche Mehrausgabe von 2^/z Milliarden.
Der geringere Reichtum an flüssigem Kapital in Deutschland dürfte indes auf
seine geschichtliche Entwicklung und seine große industrielle Tätigkeit zurück¬
zuführen sein, in der deutscher Unternehmungsgeist die Kapitalien festgelegt hat.
Mögen die Aufwendungen für die Kinder den Eltern auch materiell verloren
sein, so stellt der erwachsene Mensch doch für das Volk als ganzes und in
manchen Kreisen auch sür seine Angehörigen eine Vermehrung der Arbeitskraft
und des Wohlstandes dar, die höher einzuschätzen ist als das für ihn veraus¬
gabte Kapital. Die ersparten Kapitalien haben denn auch von 1907 bis 1910
in Deutschland ein Anwachsen um 20 Prozent, in Frankreich dagegen nur
um 13 Prozent gezeigt.

8. Als günstige Folge der Bevölkerungsabnahme hebt man endlich das
Abnehmen der Kriegslust hervor und sucht das namentlich durch den Hinweis
auf Deutschland zu beweisen. Hoffen wir in diesem Sinne, daß die Geburten¬
minderung in möglichst vielen Ländern schon so weit gediehen sein möge, uns
den Frieden auch weiterhin zu erhalten! (Schluß folgt)




Zur Gntvölkennigsfrage

oder häufig geeignet sein wird, das Kind in seiner geistigen Entwicklung und
Betätigung zu beschränken.

6. Die oft gehörte Behauptung, die wirtschaftliche Lage der arbeitenden
Klassen werde durch die Zunahme der Bevölkerung verschlechtert, wird schon
durch die Geschichte widerlegt. Denn obwohl sich die Bevölkerung Europas
im Laufe des letzten Jahrhunderts mehr als verdoppelt hat, ist doch der
Hungertod weniger häufig als einst, und die kürzlich in der Bretagne aus¬
gebrochene Hungersnot war nicht auf eine Übervölkerung jenes Landstrichs
zurückzuführen. Mit der Bevölkerung vermehren sich in der Tat die Bedürf¬
nisse und damit die Arbeitsmöglichkeiten und Erwerbsquellen auch für die
unteren Schichten des Volkes.

7. Mit wenig größerem Rechte hat man seit John Stewart Mill als
Folge der Entvölkerung eine Vermehrung des Volksreichtums angesehen. Jeder
Mensch, sagt man, koste im Durchschnitt bis zu seinem fünfundzwanzigsten
Lebensjahre in bürgerlichen Kreisen jährlich etwa 2000 Mark, entziehe also den
Eltern ungefähr 50000 Mark zu nutzbarer Anlegung in Handel und Industrie;
daher habe Deutschland mit seinem Überschuß von 1250000 jährlicher
Geburten gegenüber Frankreich eine jährliche Mehrausgabe von 2^/z Milliarden.
Der geringere Reichtum an flüssigem Kapital in Deutschland dürfte indes auf
seine geschichtliche Entwicklung und seine große industrielle Tätigkeit zurück¬
zuführen sein, in der deutscher Unternehmungsgeist die Kapitalien festgelegt hat.
Mögen die Aufwendungen für die Kinder den Eltern auch materiell verloren
sein, so stellt der erwachsene Mensch doch für das Volk als ganzes und in
manchen Kreisen auch sür seine Angehörigen eine Vermehrung der Arbeitskraft
und des Wohlstandes dar, die höher einzuschätzen ist als das für ihn veraus¬
gabte Kapital. Die ersparten Kapitalien haben denn auch von 1907 bis 1910
in Deutschland ein Anwachsen um 20 Prozent, in Frankreich dagegen nur
um 13 Prozent gezeigt.

8. Als günstige Folge der Bevölkerungsabnahme hebt man endlich das
Abnehmen der Kriegslust hervor und sucht das namentlich durch den Hinweis
auf Deutschland zu beweisen. Hoffen wir in diesem Sinne, daß die Geburten¬
minderung in möglichst vielen Ländern schon so weit gediehen sein möge, uns
den Frieden auch weiterhin zu erhalten! (Schluß folgt)




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[0562] Zur Gntvölkennigsfrage oder häufig geeignet sein wird, das Kind in seiner geistigen Entwicklung und Betätigung zu beschränken. 6. Die oft gehörte Behauptung, die wirtschaftliche Lage der arbeitenden Klassen werde durch die Zunahme der Bevölkerung verschlechtert, wird schon durch die Geschichte widerlegt. Denn obwohl sich die Bevölkerung Europas im Laufe des letzten Jahrhunderts mehr als verdoppelt hat, ist doch der Hungertod weniger häufig als einst, und die kürzlich in der Bretagne aus¬ gebrochene Hungersnot war nicht auf eine Übervölkerung jenes Landstrichs zurückzuführen. Mit der Bevölkerung vermehren sich in der Tat die Bedürf¬ nisse und damit die Arbeitsmöglichkeiten und Erwerbsquellen auch für die unteren Schichten des Volkes. 7. Mit wenig größerem Rechte hat man seit John Stewart Mill als Folge der Entvölkerung eine Vermehrung des Volksreichtums angesehen. Jeder Mensch, sagt man, koste im Durchschnitt bis zu seinem fünfundzwanzigsten Lebensjahre in bürgerlichen Kreisen jährlich etwa 2000 Mark, entziehe also den Eltern ungefähr 50000 Mark zu nutzbarer Anlegung in Handel und Industrie; daher habe Deutschland mit seinem Überschuß von 1250000 jährlicher Geburten gegenüber Frankreich eine jährliche Mehrausgabe von 2^/z Milliarden. Der geringere Reichtum an flüssigem Kapital in Deutschland dürfte indes auf seine geschichtliche Entwicklung und seine große industrielle Tätigkeit zurück¬ zuführen sein, in der deutscher Unternehmungsgeist die Kapitalien festgelegt hat. Mögen die Aufwendungen für die Kinder den Eltern auch materiell verloren sein, so stellt der erwachsene Mensch doch für das Volk als ganzes und in manchen Kreisen auch sür seine Angehörigen eine Vermehrung der Arbeitskraft und des Wohlstandes dar, die höher einzuschätzen ist als das für ihn veraus¬ gabte Kapital. Die ersparten Kapitalien haben denn auch von 1907 bis 1910 in Deutschland ein Anwachsen um 20 Prozent, in Frankreich dagegen nur um 13 Prozent gezeigt. 8. Als günstige Folge der Bevölkerungsabnahme hebt man endlich das Abnehmen der Kriegslust hervor und sucht das namentlich durch den Hinweis auf Deutschland zu beweisen. Hoffen wir in diesem Sinne, daß die Geburten¬ minderung in möglichst vielen Ländern schon so weit gediehen sein möge, uns den Frieden auch weiterhin zu erhalten! (Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/562>, abgerufen am 24.08.2024.