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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Zur Lntvölkerungsfrage

4. Wirtschaftlich lassen sich die natürlichen Schätze des Bodens besser er¬
schließen, Kapitalien zweckmäßiger anlegen und Handelsverbindungen nutzungs¬
fähiger ausgestalten, kurz Reichtümer besser erwerben, wenn eine gewisse Be¬
völkerungsdichtigkeit vorhanden ist. Will ein Land mit dünner Bevölkerung
wie Frankreich in Kriegszeiten das gleiche Heer einem bevölkerungsreicheren
Feinde entgegenstellen, so muß es mehr Jahrgänge einberufen und ihreni beruf¬
lichen Wirken entziehen als der Gegner. Das französische Heer ist kürzlich auf
582 000 Mann vermehrt worden, zeigt somit gegenüber den 461 000 Mann des
Jahres 1872 ein Anwachsen um fast 27 Prozent, hat also dreifach schneller als die
nur um 9 Prozent gestiegene Bevölkerung zugenommen, und stellt etwa 1^/z Prozent
der Bevölkerung dar, also eine um mehr als die Hälfte schwerere Belastung
als .das nicht einmal 1 Prozent der Bevölkerung betragende deutsche Heeres¬
aufgebot. In Frankreich können demgemäß heute nicht so viele Mannschaften
als untauglich ausgeschieden werden wie in Deutschland und wie vor Jahren
in Frankreich selbst. Das bedingt eine hohe Krankheitsziffer während der Dienst¬
zeit, die in der Tat von 15 °/g" im Jahre 1872 auf 60 "/<,<, im Jahre 1912
angewachsen ist. Dadurch wird nicht nur die Brauchbarkeit des Heeres herab¬
gesetzt, sondern auch das Budget mit unnützen Ausgaben belastet. Daher ist
denn auch der Satz der direkten und der indirekten Steuern in Frankreich be¬
sonders hoch. Er beträgt auf den Kopf der Bevölkerung etwa 125 Franken,
in Deutschland dagegen nur 80 Franken, welche Zahlen indes bei der
außerordentlich komplizierten Berechnung mit besonderer Vorsicht aufzu¬
nehmen sind. Der Abgeordnete und ehemalige Minister Noche hat
z. B. die Steuerbelastung für Frankreich auf 95,45 Franken, für England
auf 79 Franken und für Preußen auf 62,26 Franken (33,80 Franken
Reichs- und 28,46 Franken Staatssteuern) auf den Kopf der Bevölkerung
berechnet.

Große industrielle und kaufmännische Unternehmungen erfordern Leiter und
Arbeiter, setzen zahlreiche Konsumenten voraus; man denke namentlich an den
Betrieb der Eisenbahnen. Absatzgebiet", zu schaffen und sich zugänglich zu machen
ist das Streben der Großmächte und ihrer Kolonial- und Handelspolitik, ist
die treibende Kraft des angeblich im .Rassen- und Religionsinteresse unter¬
nommenen Balkankrieges, wie der Vormarsch der Balkanstaaten zeigt, der sich
weniger in der Richtung nach ihren bedrohten Stammes- und Glaubensgenossen
als nach den zur Erreichung von Eisenbahnlinien erstrebten Handels- und Hafen¬
plätzen zu bewegte, wie ihre Forderungen bei den Friedensverhandlungen be¬
weisen, die sich nicht auf die vor Beginn des Krieges angekündigte Unabhängig¬
keit ihrer Brüder vom türkischen Joche beschränken; ist endlich das Interesse
Österreichs auf dem Balkan und der tiefere Grund zu der gegenwärtigen
Spannung unter den europäischen Großmächten.

Der Handel Frankreichs, einst der zweite der Welt hinter dem Englands,
ist jetzt hinter den Deutschlands (sowie der Vereinigten Staaten) erheblich zurück-


Zur Lntvölkerungsfrage

4. Wirtschaftlich lassen sich die natürlichen Schätze des Bodens besser er¬
schließen, Kapitalien zweckmäßiger anlegen und Handelsverbindungen nutzungs¬
fähiger ausgestalten, kurz Reichtümer besser erwerben, wenn eine gewisse Be¬
völkerungsdichtigkeit vorhanden ist. Will ein Land mit dünner Bevölkerung
wie Frankreich in Kriegszeiten das gleiche Heer einem bevölkerungsreicheren
Feinde entgegenstellen, so muß es mehr Jahrgänge einberufen und ihreni beruf¬
lichen Wirken entziehen als der Gegner. Das französische Heer ist kürzlich auf
582 000 Mann vermehrt worden, zeigt somit gegenüber den 461 000 Mann des
Jahres 1872 ein Anwachsen um fast 27 Prozent, hat also dreifach schneller als die
nur um 9 Prozent gestiegene Bevölkerung zugenommen, und stellt etwa 1^/z Prozent
der Bevölkerung dar, also eine um mehr als die Hälfte schwerere Belastung
als .das nicht einmal 1 Prozent der Bevölkerung betragende deutsche Heeres¬
aufgebot. In Frankreich können demgemäß heute nicht so viele Mannschaften
als untauglich ausgeschieden werden wie in Deutschland und wie vor Jahren
in Frankreich selbst. Das bedingt eine hohe Krankheitsziffer während der Dienst¬
zeit, die in der Tat von 15 °/g„ im Jahre 1872 auf 60 "/<,<, im Jahre 1912
angewachsen ist. Dadurch wird nicht nur die Brauchbarkeit des Heeres herab¬
gesetzt, sondern auch das Budget mit unnützen Ausgaben belastet. Daher ist
denn auch der Satz der direkten und der indirekten Steuern in Frankreich be¬
sonders hoch. Er beträgt auf den Kopf der Bevölkerung etwa 125 Franken,
in Deutschland dagegen nur 80 Franken, welche Zahlen indes bei der
außerordentlich komplizierten Berechnung mit besonderer Vorsicht aufzu¬
nehmen sind. Der Abgeordnete und ehemalige Minister Noche hat
z. B. die Steuerbelastung für Frankreich auf 95,45 Franken, für England
auf 79 Franken und für Preußen auf 62,26 Franken (33,80 Franken
Reichs- und 28,46 Franken Staatssteuern) auf den Kopf der Bevölkerung
berechnet.

Große industrielle und kaufmännische Unternehmungen erfordern Leiter und
Arbeiter, setzen zahlreiche Konsumenten voraus; man denke namentlich an den
Betrieb der Eisenbahnen. Absatzgebiet«, zu schaffen und sich zugänglich zu machen
ist das Streben der Großmächte und ihrer Kolonial- und Handelspolitik, ist
die treibende Kraft des angeblich im .Rassen- und Religionsinteresse unter¬
nommenen Balkankrieges, wie der Vormarsch der Balkanstaaten zeigt, der sich
weniger in der Richtung nach ihren bedrohten Stammes- und Glaubensgenossen
als nach den zur Erreichung von Eisenbahnlinien erstrebten Handels- und Hafen¬
plätzen zu bewegte, wie ihre Forderungen bei den Friedensverhandlungen be¬
weisen, die sich nicht auf die vor Beginn des Krieges angekündigte Unabhängig¬
keit ihrer Brüder vom türkischen Joche beschränken; ist endlich das Interesse
Österreichs auf dem Balkan und der tiefere Grund zu der gegenwärtigen
Spannung unter den europäischen Großmächten.

Der Handel Frankreichs, einst der zweite der Welt hinter dem Englands,
ist jetzt hinter den Deutschlands (sowie der Vereinigten Staaten) erheblich zurück-


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[0560] Zur Lntvölkerungsfrage 4. Wirtschaftlich lassen sich die natürlichen Schätze des Bodens besser er¬ schließen, Kapitalien zweckmäßiger anlegen und Handelsverbindungen nutzungs¬ fähiger ausgestalten, kurz Reichtümer besser erwerben, wenn eine gewisse Be¬ völkerungsdichtigkeit vorhanden ist. Will ein Land mit dünner Bevölkerung wie Frankreich in Kriegszeiten das gleiche Heer einem bevölkerungsreicheren Feinde entgegenstellen, so muß es mehr Jahrgänge einberufen und ihreni beruf¬ lichen Wirken entziehen als der Gegner. Das französische Heer ist kürzlich auf 582 000 Mann vermehrt worden, zeigt somit gegenüber den 461 000 Mann des Jahres 1872 ein Anwachsen um fast 27 Prozent, hat also dreifach schneller als die nur um 9 Prozent gestiegene Bevölkerung zugenommen, und stellt etwa 1^/z Prozent der Bevölkerung dar, also eine um mehr als die Hälfte schwerere Belastung als .das nicht einmal 1 Prozent der Bevölkerung betragende deutsche Heeres¬ aufgebot. In Frankreich können demgemäß heute nicht so viele Mannschaften als untauglich ausgeschieden werden wie in Deutschland und wie vor Jahren in Frankreich selbst. Das bedingt eine hohe Krankheitsziffer während der Dienst¬ zeit, die in der Tat von 15 °/g„ im Jahre 1872 auf 60 "/<,<, im Jahre 1912 angewachsen ist. Dadurch wird nicht nur die Brauchbarkeit des Heeres herab¬ gesetzt, sondern auch das Budget mit unnützen Ausgaben belastet. Daher ist denn auch der Satz der direkten und der indirekten Steuern in Frankreich be¬ sonders hoch. Er beträgt auf den Kopf der Bevölkerung etwa 125 Franken, in Deutschland dagegen nur 80 Franken, welche Zahlen indes bei der außerordentlich komplizierten Berechnung mit besonderer Vorsicht aufzu¬ nehmen sind. Der Abgeordnete und ehemalige Minister Noche hat z. B. die Steuerbelastung für Frankreich auf 95,45 Franken, für England auf 79 Franken und für Preußen auf 62,26 Franken (33,80 Franken Reichs- und 28,46 Franken Staatssteuern) auf den Kopf der Bevölkerung berechnet. Große industrielle und kaufmännische Unternehmungen erfordern Leiter und Arbeiter, setzen zahlreiche Konsumenten voraus; man denke namentlich an den Betrieb der Eisenbahnen. Absatzgebiet«, zu schaffen und sich zugänglich zu machen ist das Streben der Großmächte und ihrer Kolonial- und Handelspolitik, ist die treibende Kraft des angeblich im .Rassen- und Religionsinteresse unter¬ nommenen Balkankrieges, wie der Vormarsch der Balkanstaaten zeigt, der sich weniger in der Richtung nach ihren bedrohten Stammes- und Glaubensgenossen als nach den zur Erreichung von Eisenbahnlinien erstrebten Handels- und Hafen¬ plätzen zu bewegte, wie ihre Forderungen bei den Friedensverhandlungen be¬ weisen, die sich nicht auf die vor Beginn des Krieges angekündigte Unabhängig¬ keit ihrer Brüder vom türkischen Joche beschränken; ist endlich das Interesse Österreichs auf dem Balkan und der tiefere Grund zu der gegenwärtigen Spannung unter den europäischen Großmächten. Der Handel Frankreichs, einst der zweite der Welt hinter dem Englands, ist jetzt hinter den Deutschlands (sowie der Vereinigten Staaten) erheblich zurück-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/560>, abgerufen am 04.07.2024.