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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Gegensätze: bei Hebbel ist der Staat als die
umfassendere Gemeinschaft auch die über¬
geordnete, der das Individuum sich zu fügen,
im Notfalle zu opfern hat; bei Ibsen ist das
Individuum das wertvollere, das die um¬
fassendere Gemeinschaft, Staat oder Gesellschaft,
seinen Ansprüchen unterordnen darf.

Hebbel hat diesen Staatsbegriff, der sich
vor allen, in den beiden Dramen "Agnes
Berncmer" (1861) und dem nicht ganz voll¬
endeten "Demetrius" spiegelt, an Hegels
Rechtsphilosophie geschärft. Er hat zwar nicht
systematisch Philosophie studiert, hat aber nach
Ausweis seiner Tagebücher sich gerade mit
Hegel viel beschäftigt und durchaus nicht in
kritikloser Weise. Seiner Auffassung vom
Recht und von der Schuld, wie vom Staat
kam aber Hegels Lehre so entgegen, daß er
davon höchst überrascht war, als er sie 1843
kennen lernte. So wunderbar ist das nicht,
denn Hebbels geistige Entwicklung fällt in
eine Zeit, die von Hegelschen Geist so durch¬
tränkt war, das; dessen Grundgedanken ge¬
wissermaßen in der Luft lagen. Und gerade
Hegels 1821 erschienene "Rechtsphilosophie", die
hier in erster Linie in Betracht kommt, wirkte
weit über die Kreise hinaus, die sich mit
Philosophie beschäftigten, was damals unter
den Gebildeten bedeutend mehr als heute
taten.

In Hegels imposanter Konstruktion aber
nimmt der Staat eine ganz andere Stellung
°in, als ihm die damalige demokratische und
liberale Welt -- es ging auf 1848 zu --
gewähren wollte. Er ist für den logischen
Idealismus des großen Philosophen, der in
der Welt und ihren Erscheinungen eine stufen¬
mäßig zur Idee aufsteigende Objektivierung
der Idee sieht, eine den, Individuum nicht
bloß logisch, sondern auch ethisch übergeordnete
Stufe, der sogar die größere Wirklichkeit zu¬
kommt. Denn das Individuum hat sein
Daseinsrecht bloß als ein Moment des Staates,
der wieder bloß ein Moment der allumfassen¬
den Idee ist. So ist es klar, daß bei einem
Zusammenstoß zwischen Staat und Individuum
das Recht grundsätzlich beim Staat ist, daß,
wo keine Unterordnung mehr anerkannt wird,
der Tod im Interesse des Staates notwendig
und gerechtfertigt erscheint. Ja im Anklang
an uralte Gedanken der griechischen Natur-

[Spaltenumbruch]

Philosophen wird das individuelle Dasein an
sich schon als eine Art Schuld, als frevelhafte
Loslösung von der Idee bezeichnet, deren
Sühne der Tod ist.

Bergleicht man mit diesen Gedanken die
Handlung der "Agnes Bernauer", so ist man
erstaunt über die völlige Übereinstimmung.
Das Drama erscheint geradezu als ein Schul¬
beispiel für die Hegelsche Lehre. Da ist der
alte Bayernherzog, der diesen strengen sitt¬
lichen Begriff des Staats in sich verkörpert.
Ihm steht der Sohn gegenüber, der sich
individualistisch auflehnt gegen den über¬
ragenden Kreis der staatlichen Ordnung und
ihrer Forderungen. Denn die Legitimität
seiner Ehe ist für den mittelalterlichen Staat
die unbedingte und unverletzliche Voraussetzung
dafür, daß die Heiligkeit des Staatsbcgriffs
gewahrt bleibt. Da auf dem jungen Herzog
allein die Dynastie, damit der Hort des Staates
ruht, bleibt nichts übrig, als daß das Hinder¬
nis, die unebenbürtige Gemahlin, so schuldlos
sie persönlich ist, geopfert werde. Ihre über das
Maß hinausgehende Schönheit und Reinheit
haben sie in den Konflikt mit den Forderungen
des StaatSwohls gebracht, das ist ihr tra¬
gisches Verhängnis, und zuletzt muß der ins
Herz getroffene Gemahl selbst die sittliche
Forderung anerkennen.

Verwickelter ist die Sache in dem Prä¬
tendentendrama "Demetrius". Im Gegensatz
zu Schiller gibt bei Hebbel Demetrius in
demi Augenblick seinen Anspruch auf die Zaren¬
krone auf, da er erfährt, daß sein Prä-
tendententum, obwohl der Erfolg sich an ihn
heftete, auf einer Täuschung, am Ende gar
auf einem Betrug beruhte. Denn "mit dem
Recht erlischt der Anspruch". Der Staat ist
auch ihm eine heilige Sache, eine Wirklichkeit,
der gegenüber der einzelne nur ein Glied,
ein Teil ist. So lange er glaubt, der 'echte
Prinz zu sein, so lange bringt ihn nichts ab,
den Anspruch des Rechts, der Legitimität zu
verfechten; mit dem Glauben schwindet alles.
Es ist ihm undenkbar, daß er auf Grund
individuellen Rechts, weil er zugleich doch
noch immer der Edelste und Stärkste ist, den
Anspruch weiter verfechten könnte, dem die
Legitimität, die Notwendigkeit fehlt. Im
Unterschied zur "Agnes Bernauer" ist im
"Demetrius" der Konflikt zwischen Jndivi-

[Ende Spaltensatz]
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

Gegensätze: bei Hebbel ist der Staat als die
umfassendere Gemeinschaft auch die über¬
geordnete, der das Individuum sich zu fügen,
im Notfalle zu opfern hat; bei Ibsen ist das
Individuum das wertvollere, das die um¬
fassendere Gemeinschaft, Staat oder Gesellschaft,
seinen Ansprüchen unterordnen darf.

Hebbel hat diesen Staatsbegriff, der sich
vor allen, in den beiden Dramen „Agnes
Berncmer" (1861) und dem nicht ganz voll¬
endeten „Demetrius" spiegelt, an Hegels
Rechtsphilosophie geschärft. Er hat zwar nicht
systematisch Philosophie studiert, hat aber nach
Ausweis seiner Tagebücher sich gerade mit
Hegel viel beschäftigt und durchaus nicht in
kritikloser Weise. Seiner Auffassung vom
Recht und von der Schuld, wie vom Staat
kam aber Hegels Lehre so entgegen, daß er
davon höchst überrascht war, als er sie 1843
kennen lernte. So wunderbar ist das nicht,
denn Hebbels geistige Entwicklung fällt in
eine Zeit, die von Hegelschen Geist so durch¬
tränkt war, das; dessen Grundgedanken ge¬
wissermaßen in der Luft lagen. Und gerade
Hegels 1821 erschienene „Rechtsphilosophie", die
hier in erster Linie in Betracht kommt, wirkte
weit über die Kreise hinaus, die sich mit
Philosophie beschäftigten, was damals unter
den Gebildeten bedeutend mehr als heute
taten.

In Hegels imposanter Konstruktion aber
nimmt der Staat eine ganz andere Stellung
°in, als ihm die damalige demokratische und
liberale Welt — es ging auf 1848 zu —
gewähren wollte. Er ist für den logischen
Idealismus des großen Philosophen, der in
der Welt und ihren Erscheinungen eine stufen¬
mäßig zur Idee aufsteigende Objektivierung
der Idee sieht, eine den, Individuum nicht
bloß logisch, sondern auch ethisch übergeordnete
Stufe, der sogar die größere Wirklichkeit zu¬
kommt. Denn das Individuum hat sein
Daseinsrecht bloß als ein Moment des Staates,
der wieder bloß ein Moment der allumfassen¬
den Idee ist. So ist es klar, daß bei einem
Zusammenstoß zwischen Staat und Individuum
das Recht grundsätzlich beim Staat ist, daß,
wo keine Unterordnung mehr anerkannt wird,
der Tod im Interesse des Staates notwendig
und gerechtfertigt erscheint. Ja im Anklang
an uralte Gedanken der griechischen Natur-

[Spaltenumbruch]

Philosophen wird das individuelle Dasein an
sich schon als eine Art Schuld, als frevelhafte
Loslösung von der Idee bezeichnet, deren
Sühne der Tod ist.

Bergleicht man mit diesen Gedanken die
Handlung der „Agnes Bernauer", so ist man
erstaunt über die völlige Übereinstimmung.
Das Drama erscheint geradezu als ein Schul¬
beispiel für die Hegelsche Lehre. Da ist der
alte Bayernherzog, der diesen strengen sitt¬
lichen Begriff des Staats in sich verkörpert.
Ihm steht der Sohn gegenüber, der sich
individualistisch auflehnt gegen den über¬
ragenden Kreis der staatlichen Ordnung und
ihrer Forderungen. Denn die Legitimität
seiner Ehe ist für den mittelalterlichen Staat
die unbedingte und unverletzliche Voraussetzung
dafür, daß die Heiligkeit des Staatsbcgriffs
gewahrt bleibt. Da auf dem jungen Herzog
allein die Dynastie, damit der Hort des Staates
ruht, bleibt nichts übrig, als daß das Hinder¬
nis, die unebenbürtige Gemahlin, so schuldlos
sie persönlich ist, geopfert werde. Ihre über das
Maß hinausgehende Schönheit und Reinheit
haben sie in den Konflikt mit den Forderungen
des StaatSwohls gebracht, das ist ihr tra¬
gisches Verhängnis, und zuletzt muß der ins
Herz getroffene Gemahl selbst die sittliche
Forderung anerkennen.

Verwickelter ist die Sache in dem Prä¬
tendentendrama „Demetrius". Im Gegensatz
zu Schiller gibt bei Hebbel Demetrius in
demi Augenblick seinen Anspruch auf die Zaren¬
krone auf, da er erfährt, daß sein Prä-
tendententum, obwohl der Erfolg sich an ihn
heftete, auf einer Täuschung, am Ende gar
auf einem Betrug beruhte. Denn „mit dem
Recht erlischt der Anspruch". Der Staat ist
auch ihm eine heilige Sache, eine Wirklichkeit,
der gegenüber der einzelne nur ein Glied,
ein Teil ist. So lange er glaubt, der 'echte
Prinz zu sein, so lange bringt ihn nichts ab,
den Anspruch des Rechts, der Legitimität zu
verfechten; mit dem Glauben schwindet alles.
Es ist ihm undenkbar, daß er auf Grund
individuellen Rechts, weil er zugleich doch
noch immer der Edelste und Stärkste ist, den
Anspruch weiter verfechten könnte, dem die
Legitimität, die Notwendigkeit fehlt. Im
Unterschied zur „Agnes Bernauer" ist im
„Demetrius" der Konflikt zwischen Jndivi-

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[0545] Maßgebliches und Unmaßgebliches Gegensätze: bei Hebbel ist der Staat als die umfassendere Gemeinschaft auch die über¬ geordnete, der das Individuum sich zu fügen, im Notfalle zu opfern hat; bei Ibsen ist das Individuum das wertvollere, das die um¬ fassendere Gemeinschaft, Staat oder Gesellschaft, seinen Ansprüchen unterordnen darf. Hebbel hat diesen Staatsbegriff, der sich vor allen, in den beiden Dramen „Agnes Berncmer" (1861) und dem nicht ganz voll¬ endeten „Demetrius" spiegelt, an Hegels Rechtsphilosophie geschärft. Er hat zwar nicht systematisch Philosophie studiert, hat aber nach Ausweis seiner Tagebücher sich gerade mit Hegel viel beschäftigt und durchaus nicht in kritikloser Weise. Seiner Auffassung vom Recht und von der Schuld, wie vom Staat kam aber Hegels Lehre so entgegen, daß er davon höchst überrascht war, als er sie 1843 kennen lernte. So wunderbar ist das nicht, denn Hebbels geistige Entwicklung fällt in eine Zeit, die von Hegelschen Geist so durch¬ tränkt war, das; dessen Grundgedanken ge¬ wissermaßen in der Luft lagen. Und gerade Hegels 1821 erschienene „Rechtsphilosophie", die hier in erster Linie in Betracht kommt, wirkte weit über die Kreise hinaus, die sich mit Philosophie beschäftigten, was damals unter den Gebildeten bedeutend mehr als heute taten. In Hegels imposanter Konstruktion aber nimmt der Staat eine ganz andere Stellung °in, als ihm die damalige demokratische und liberale Welt — es ging auf 1848 zu — gewähren wollte. Er ist für den logischen Idealismus des großen Philosophen, der in der Welt und ihren Erscheinungen eine stufen¬ mäßig zur Idee aufsteigende Objektivierung der Idee sieht, eine den, Individuum nicht bloß logisch, sondern auch ethisch übergeordnete Stufe, der sogar die größere Wirklichkeit zu¬ kommt. Denn das Individuum hat sein Daseinsrecht bloß als ein Moment des Staates, der wieder bloß ein Moment der allumfassen¬ den Idee ist. So ist es klar, daß bei einem Zusammenstoß zwischen Staat und Individuum das Recht grundsätzlich beim Staat ist, daß, wo keine Unterordnung mehr anerkannt wird, der Tod im Interesse des Staates notwendig und gerechtfertigt erscheint. Ja im Anklang an uralte Gedanken der griechischen Natur- Philosophen wird das individuelle Dasein an sich schon als eine Art Schuld, als frevelhafte Loslösung von der Idee bezeichnet, deren Sühne der Tod ist. Bergleicht man mit diesen Gedanken die Handlung der „Agnes Bernauer", so ist man erstaunt über die völlige Übereinstimmung. Das Drama erscheint geradezu als ein Schul¬ beispiel für die Hegelsche Lehre. Da ist der alte Bayernherzog, der diesen strengen sitt¬ lichen Begriff des Staats in sich verkörpert. Ihm steht der Sohn gegenüber, der sich individualistisch auflehnt gegen den über¬ ragenden Kreis der staatlichen Ordnung und ihrer Forderungen. Denn die Legitimität seiner Ehe ist für den mittelalterlichen Staat die unbedingte und unverletzliche Voraussetzung dafür, daß die Heiligkeit des Staatsbcgriffs gewahrt bleibt. Da auf dem jungen Herzog allein die Dynastie, damit der Hort des Staates ruht, bleibt nichts übrig, als daß das Hinder¬ nis, die unebenbürtige Gemahlin, so schuldlos sie persönlich ist, geopfert werde. Ihre über das Maß hinausgehende Schönheit und Reinheit haben sie in den Konflikt mit den Forderungen des StaatSwohls gebracht, das ist ihr tra¬ gisches Verhängnis, und zuletzt muß der ins Herz getroffene Gemahl selbst die sittliche Forderung anerkennen. Verwickelter ist die Sache in dem Prä¬ tendentendrama „Demetrius". Im Gegensatz zu Schiller gibt bei Hebbel Demetrius in demi Augenblick seinen Anspruch auf die Zaren¬ krone auf, da er erfährt, daß sein Prä- tendententum, obwohl der Erfolg sich an ihn heftete, auf einer Täuschung, am Ende gar auf einem Betrug beruhte. Denn „mit dem Recht erlischt der Anspruch". Der Staat ist auch ihm eine heilige Sache, eine Wirklichkeit, der gegenüber der einzelne nur ein Glied, ein Teil ist. So lange er glaubt, der 'echte Prinz zu sein, so lange bringt ihn nichts ab, den Anspruch des Rechts, der Legitimität zu verfechten; mit dem Glauben schwindet alles. Es ist ihm undenkbar, daß er auf Grund individuellen Rechts, weil er zugleich doch noch immer der Edelste und Stärkste ist, den Anspruch weiter verfechten könnte, dem die Legitimität, die Notwendigkeit fehlt. Im Unterschied zur „Agnes Bernauer" ist im „Demetrius" der Konflikt zwischen Jndivi-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/545>, abgerufen am 22.12.2024.