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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

auch von der Unbegründetheit des Anspruchs
fest überzeugt ist.

Es gibt sogar noch krassere Fälle des
Mißbrauchs mit dem vereinbarten Gerichts¬
stand. Eine zweifelhafte Persönlichkeit hat in
Berlin ein Unternehmen zum Drucke eines
Adreßbuches gegründet, hat Agenten in alle
Provinz- bzw. Landeshauptstädte Deutschlands
gesetzt, diese haben wiederum Reisende an¬
genommen, welche die kleineren Städte der
Provinzen bzw. Bundesstaaten bereisten und
dort unter der Borspiegelung, dieses Adreßbuch
sei ein amtliches und die Eintragung koste
nichts, Kaufleute und Handwerker zur Aus¬
stellung und unterschriftliche Vollziehung eines
Formulars veranlaßten. In diesem For¬
mular stand natürlich auch darin, daß für
alle Streitigkeiten das Amtsgericht Berlin-
Mitte zuständig sei. Einige Tage, nachdem
sich der Reisende mit dem unterschriebenen
Formular entfernt hatte, erschien ein anderer
Reisender, um 3 bis 6 Mark einzukassieren.
Wenn die Unterzeichner der Formulare die
Zahlung verweigerten, weil ihnen Kosten-
losigkeit zugesichert worden sei, erfolgte als¬
bald die Klage. Und nun ist es kennzeich¬
nend, aus dem Munde einiger hundert dieser
Betrogenen zu hören, daß sie, trotz der Über¬
zeugung von ihrem guten Recht, die 3 bis
6 Mark eingeschickt haben, weil sie, die
in Dortmund oder Karlsruhe, Kiel oder
Hirschberg saßen, sich wegen eines solchen
Betrages auf einen Prozeß in Berlin nicht
einlassen wollten. Dies ist durchaus ver¬
ständlich; denn der Anwalt, den sie in Berlin
bevollmächtigt hätten, hätte wahrscheinlich zu¬
nächst schon mehr Vorschuß verlangt, als das
ganze Objekt betrug.

Also bei erlaubten wie unerlaubten Ge¬
schäften wird die Vereinbarung des Gerichts¬
standes gemißbraucht. Dies liegt daran, daß
die Abrede, welche das Gesetz als eine Aus¬
nahme hat zulassen wollen, zur Regel ge¬
worden ist. Alte Erbweisheit der Römer ist:
"ÄLtor sequitur iorum roi," d. h. willst du
jemanden verklagen, mußt du ihn an dem
Gerichte seines Wohnsitzes aufsuchen. So
regelt auch unsere Zivilprozeßordnung die
Zuständigkeit: wo einer wohnt, da soll er
auch verklagt werden. Freilich läßt die Pro¬
zeßordnung zu, daß die Parteien etwas Ab¬

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weichendes vereinbaren dürfen. Aber die
geschäftsunerfahrenen Leute, welche die For¬
mulare unterschreiben, lesen sie erfahrungs¬
gemäß nicht durch oder, wenn sie sie lesen,
verstehen sie die Wendung vom vereinbarten
Gerichtsstande nicht. So vereinbaren sie
diesen und werden dann, man kann
es, glaube ich, ohne Übertreibung sagen,
Tausende jährlich ohne rechtliches Gehör ver¬
urteilt. Es gibt dagegen nur eine Abhilfe,
die vom Gesetz festgelegten Gerichtsstände
müssen zwingende werden, jede abweichende
Regelung durch Privatvereinbarung ist zu ver¬
bieten. Ich verkenne nicht, daß dies in manchen
Fällen auch zu unnötigen Härten führen wird,
aber in der überwiegenden Anzahl der Fälle
wird es einen segensreichen Schutz schutz¬
bedürftiger Bevölkerungsklassen schaffen.

Meiner Überzeugung nach werden wir
auch auf anderen Gebieten immer mehr dazu
kommen, die vom Gesetz für den Regelfall
gewallte und heute noch zu durchbrechende
Normierung als die ausschließliche einzu¬
führen, weil sich die wirtschaftlich überlegenen
Kreise der Vergünstigung, welche ihnen solche
Paragraphen gelassen haben, nicht würdig ge¬
zeigt haben, indem sie das, was Ausnahme
für besonders geartete Fälle sein sollte, durch
gedruckte Meth-, Kauf- und Leihverträge zur
Regel erhoben haben. So ist Wohltat Plage
gewordenl Eine Plage aber soll beseitigt
werden.

Landrichter Dr. Sontag
Schöne Literatur

Der konservative Staatsvegriff inHevbels
Dramen. Der moderne Realismus wird in
diesen Tagen der Hebbelfeier den großen
Friesen als seinen Borläufer feiern, die Freunde
Jbsenscher Kunst werden ihn als den Vater
des Magiers aus dem Norden für sich be¬
anspruchen, aber denselben Mann dürfen auch
die Konservativen ehren als den Dramatiker,
der in seinen Politischen Dramen den konser¬
vativen Staatsbegriff in fast schroffer Aus¬
prägung als den Fels aufgestellthat, an dem
die übergreifenden Bestrebungen des Einzel¬
menschen zerschellen. Ist Ibsen im Stil und
in der Anlage seiner dramatischen Konflikte
auch ein Nachfolger des deutschen Seelen-
zerfaserers, darin sind die beiden schroffe

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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auch von der Unbegründetheit des Anspruchs
fest überzeugt ist.

Es gibt sogar noch krassere Fälle des
Mißbrauchs mit dem vereinbarten Gerichts¬
stand. Eine zweifelhafte Persönlichkeit hat in
Berlin ein Unternehmen zum Drucke eines
Adreßbuches gegründet, hat Agenten in alle
Provinz- bzw. Landeshauptstädte Deutschlands
gesetzt, diese haben wiederum Reisende an¬
genommen, welche die kleineren Städte der
Provinzen bzw. Bundesstaaten bereisten und
dort unter der Borspiegelung, dieses Adreßbuch
sei ein amtliches und die Eintragung koste
nichts, Kaufleute und Handwerker zur Aus¬
stellung und unterschriftliche Vollziehung eines
Formulars veranlaßten. In diesem For¬
mular stand natürlich auch darin, daß für
alle Streitigkeiten das Amtsgericht Berlin-
Mitte zuständig sei. Einige Tage, nachdem
sich der Reisende mit dem unterschriebenen
Formular entfernt hatte, erschien ein anderer
Reisender, um 3 bis 6 Mark einzukassieren.
Wenn die Unterzeichner der Formulare die
Zahlung verweigerten, weil ihnen Kosten-
losigkeit zugesichert worden sei, erfolgte als¬
bald die Klage. Und nun ist es kennzeich¬
nend, aus dem Munde einiger hundert dieser
Betrogenen zu hören, daß sie, trotz der Über¬
zeugung von ihrem guten Recht, die 3 bis
6 Mark eingeschickt haben, weil sie, die
in Dortmund oder Karlsruhe, Kiel oder
Hirschberg saßen, sich wegen eines solchen
Betrages auf einen Prozeß in Berlin nicht
einlassen wollten. Dies ist durchaus ver¬
ständlich; denn der Anwalt, den sie in Berlin
bevollmächtigt hätten, hätte wahrscheinlich zu¬
nächst schon mehr Vorschuß verlangt, als das
ganze Objekt betrug.

Also bei erlaubten wie unerlaubten Ge¬
schäften wird die Vereinbarung des Gerichts¬
standes gemißbraucht. Dies liegt daran, daß
die Abrede, welche das Gesetz als eine Aus¬
nahme hat zulassen wollen, zur Regel ge¬
worden ist. Alte Erbweisheit der Römer ist:
„ÄLtor sequitur iorum roi," d. h. willst du
jemanden verklagen, mußt du ihn an dem
Gerichte seines Wohnsitzes aufsuchen. So
regelt auch unsere Zivilprozeßordnung die
Zuständigkeit: wo einer wohnt, da soll er
auch verklagt werden. Freilich läßt die Pro¬
zeßordnung zu, daß die Parteien etwas Ab¬

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weichendes vereinbaren dürfen. Aber die
geschäftsunerfahrenen Leute, welche die For¬
mulare unterschreiben, lesen sie erfahrungs¬
gemäß nicht durch oder, wenn sie sie lesen,
verstehen sie die Wendung vom vereinbarten
Gerichtsstande nicht. So vereinbaren sie
diesen und werden dann, man kann
es, glaube ich, ohne Übertreibung sagen,
Tausende jährlich ohne rechtliches Gehör ver¬
urteilt. Es gibt dagegen nur eine Abhilfe,
die vom Gesetz festgelegten Gerichtsstände
müssen zwingende werden, jede abweichende
Regelung durch Privatvereinbarung ist zu ver¬
bieten. Ich verkenne nicht, daß dies in manchen
Fällen auch zu unnötigen Härten führen wird,
aber in der überwiegenden Anzahl der Fälle
wird es einen segensreichen Schutz schutz¬
bedürftiger Bevölkerungsklassen schaffen.

Meiner Überzeugung nach werden wir
auch auf anderen Gebieten immer mehr dazu
kommen, die vom Gesetz für den Regelfall
gewallte und heute noch zu durchbrechende
Normierung als die ausschließliche einzu¬
führen, weil sich die wirtschaftlich überlegenen
Kreise der Vergünstigung, welche ihnen solche
Paragraphen gelassen haben, nicht würdig ge¬
zeigt haben, indem sie das, was Ausnahme
für besonders geartete Fälle sein sollte, durch
gedruckte Meth-, Kauf- und Leihverträge zur
Regel erhoben haben. So ist Wohltat Plage
gewordenl Eine Plage aber soll beseitigt
werden.

Landrichter Dr. Sontag
Schöne Literatur

Der konservative Staatsvegriff inHevbels
Dramen. Der moderne Realismus wird in
diesen Tagen der Hebbelfeier den großen
Friesen als seinen Borläufer feiern, die Freunde
Jbsenscher Kunst werden ihn als den Vater
des Magiers aus dem Norden für sich be¬
anspruchen, aber denselben Mann dürfen auch
die Konservativen ehren als den Dramatiker,
der in seinen Politischen Dramen den konser¬
vativen Staatsbegriff in fast schroffer Aus¬
prägung als den Fels aufgestellthat, an dem
die übergreifenden Bestrebungen des Einzel¬
menschen zerschellen. Ist Ibsen im Stil und
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auch ein Nachfolger des deutschen Seelen-
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/544>, abgerufen am 22.12.2024.