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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Englisches und deutsches Friedenspräsenzrecht

geblieben, sondern hat sich aus dem ursprünglichen Fremdkörper zu einem
organischen Bestandteile des Staatsorganismus fortentwickelt. Hierzu zwang
schon die bittere Not der geographischen Lage, da man nicht wie in England
sich auf den Schutz der Flotte verlassen konnte. Die alte ständische Verfassung
ist freilich darüber zugrunde gegangen, während das englische Parlament sich
behauptete und ein neues Königtum von Parlamentes Gnaden berief.

In Preußen war schon Friedrich Wilhelm der Erste in dem Kantonsysteme
von 1733 von der Werbung grundsätzlich zur Rekrutierung übergegangen.
Jedem Regimente wurde ein bestimmter Rekrutierungsbezirk, Kanton, an¬
gewiesen, in dem es seinen Ersatz zu suchen hatte. Innerhalb jedes Kantons
wurde jeder Wehrpflichtige als Kantonist auch für wehrpflichtig erklärt. Befreit
von der allgemeinen Wehrpflicht waren anfangs nur die Adligen, die auf Grund
der LehnsallodifMion ein ^U8 8peeiali titulo aequi8kenn auf Befreiung von
allem Heeresdienste hatten, aber tatsächlich zu den Offizierstellen gepreßt wurden,
und aus merkantilistischen Gründen, um reiche Leute im Lande zu halten, die
Söhne der Kapitalisten von wenigstens 10000 Talern Vermögen. Die Wehr¬
pflicht war rechtlich der Zeit nach unbeschränkt, solange der Betreffende über¬
haupt dienstfähig war. Aber ein ausgedehntes Beurlaubungssystem für die
ausgebildeten Leute mit alljährlichen kürzeren Übungen suchte die volkswirt¬
schaftlichen Interessen mit dieser ausgedehnten Wehrpflicht zu vereinigen. Nur
die unsicheren Kantonisten hielt man dauernd bei der Fahne. Neben der in¬
ländischen Rekrutierung bestand ergänzend die ausländische Werbung sort, so
daß etwa zwei Drittel des Heeres rekrutierte Inländer, ein Drittel geworbene
Ausländer waren, beide zusammengehalten durch das aus dem Adel des Landes
hervorgegangene Offizierkorps. Mit diesem Heere hat Friedrich der Große seine
Kriege geführt.

Nur die Ausnahmen von der Kantonpflicht wurden aus volkswirtschaftlichen
Gründen immer zahlreicher. Demgemäß verschob sich auch das Verhältnis von
Inländern und Ausländern zu Halb und Halb. Die Höhe des Präsenzstandes
zu bestimmen, lag natürlich lediglich im Ermessen der absoluten Krone.

Mit dem Tilsiter Frieden hörte zunächst die ausländische Werbung auf,
zumal Preußen sich durch Vertrag von 1808 Frankreich gegenüber verpflichtet
hatte, den Friedenspräsenzstand von 42000 Mann nicht zu überschreiten. Dieser
Bestand wurde jetzt nur noch aus Kantonisten entnommen. Man konnte diese
in dem sogenannten Krümpersystem nach kurzer Ausbildungszeit entlassen, um
andere Kantonisten einzustellen und später möglichst viele ausgebildete Mann¬
schaften zu haben. Aber der Heeresersatz blieb auf die Kantonisten beschränkt.
Alle höheren Klassen der Bevölkerung waren in einem unendlichen Kataloge
von Ausnahmen von der allgemeinen Wehrpflicht befreit. Aber die ausländische
Werbung war man wenigstens losgeworden.

Die Befreiungskriege führen endlich zu dem letzten Schritte. Zunächst für
die Zeit des Krieges und seit 1814 dauernd werden die bisherigen Befrei-


Englisches und deutsches Friedenspräsenzrecht

geblieben, sondern hat sich aus dem ursprünglichen Fremdkörper zu einem
organischen Bestandteile des Staatsorganismus fortentwickelt. Hierzu zwang
schon die bittere Not der geographischen Lage, da man nicht wie in England
sich auf den Schutz der Flotte verlassen konnte. Die alte ständische Verfassung
ist freilich darüber zugrunde gegangen, während das englische Parlament sich
behauptete und ein neues Königtum von Parlamentes Gnaden berief.

In Preußen war schon Friedrich Wilhelm der Erste in dem Kantonsysteme
von 1733 von der Werbung grundsätzlich zur Rekrutierung übergegangen.
Jedem Regimente wurde ein bestimmter Rekrutierungsbezirk, Kanton, an¬
gewiesen, in dem es seinen Ersatz zu suchen hatte. Innerhalb jedes Kantons
wurde jeder Wehrpflichtige als Kantonist auch für wehrpflichtig erklärt. Befreit
von der allgemeinen Wehrpflicht waren anfangs nur die Adligen, die auf Grund
der LehnsallodifMion ein ^U8 8peeiali titulo aequi8kenn auf Befreiung von
allem Heeresdienste hatten, aber tatsächlich zu den Offizierstellen gepreßt wurden,
und aus merkantilistischen Gründen, um reiche Leute im Lande zu halten, die
Söhne der Kapitalisten von wenigstens 10000 Talern Vermögen. Die Wehr¬
pflicht war rechtlich der Zeit nach unbeschränkt, solange der Betreffende über¬
haupt dienstfähig war. Aber ein ausgedehntes Beurlaubungssystem für die
ausgebildeten Leute mit alljährlichen kürzeren Übungen suchte die volkswirt¬
schaftlichen Interessen mit dieser ausgedehnten Wehrpflicht zu vereinigen. Nur
die unsicheren Kantonisten hielt man dauernd bei der Fahne. Neben der in¬
ländischen Rekrutierung bestand ergänzend die ausländische Werbung sort, so
daß etwa zwei Drittel des Heeres rekrutierte Inländer, ein Drittel geworbene
Ausländer waren, beide zusammengehalten durch das aus dem Adel des Landes
hervorgegangene Offizierkorps. Mit diesem Heere hat Friedrich der Große seine
Kriege geführt.

Nur die Ausnahmen von der Kantonpflicht wurden aus volkswirtschaftlichen
Gründen immer zahlreicher. Demgemäß verschob sich auch das Verhältnis von
Inländern und Ausländern zu Halb und Halb. Die Höhe des Präsenzstandes
zu bestimmen, lag natürlich lediglich im Ermessen der absoluten Krone.

Mit dem Tilsiter Frieden hörte zunächst die ausländische Werbung auf,
zumal Preußen sich durch Vertrag von 1808 Frankreich gegenüber verpflichtet
hatte, den Friedenspräsenzstand von 42000 Mann nicht zu überschreiten. Dieser
Bestand wurde jetzt nur noch aus Kantonisten entnommen. Man konnte diese
in dem sogenannten Krümpersystem nach kurzer Ausbildungszeit entlassen, um
andere Kantonisten einzustellen und später möglichst viele ausgebildete Mann¬
schaften zu haben. Aber der Heeresersatz blieb auf die Kantonisten beschränkt.
Alle höheren Klassen der Bevölkerung waren in einem unendlichen Kataloge
von Ausnahmen von der allgemeinen Wehrpflicht befreit. Aber die ausländische
Werbung war man wenigstens losgeworden.

Die Befreiungskriege führen endlich zu dem letzten Schritte. Zunächst für
die Zeit des Krieges und seit 1814 dauernd werden die bisherigen Befrei-


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[0507] Englisches und deutsches Friedenspräsenzrecht geblieben, sondern hat sich aus dem ursprünglichen Fremdkörper zu einem organischen Bestandteile des Staatsorganismus fortentwickelt. Hierzu zwang schon die bittere Not der geographischen Lage, da man nicht wie in England sich auf den Schutz der Flotte verlassen konnte. Die alte ständische Verfassung ist freilich darüber zugrunde gegangen, während das englische Parlament sich behauptete und ein neues Königtum von Parlamentes Gnaden berief. In Preußen war schon Friedrich Wilhelm der Erste in dem Kantonsysteme von 1733 von der Werbung grundsätzlich zur Rekrutierung übergegangen. Jedem Regimente wurde ein bestimmter Rekrutierungsbezirk, Kanton, an¬ gewiesen, in dem es seinen Ersatz zu suchen hatte. Innerhalb jedes Kantons wurde jeder Wehrpflichtige als Kantonist auch für wehrpflichtig erklärt. Befreit von der allgemeinen Wehrpflicht waren anfangs nur die Adligen, die auf Grund der LehnsallodifMion ein ^U8 8peeiali titulo aequi8kenn auf Befreiung von allem Heeresdienste hatten, aber tatsächlich zu den Offizierstellen gepreßt wurden, und aus merkantilistischen Gründen, um reiche Leute im Lande zu halten, die Söhne der Kapitalisten von wenigstens 10000 Talern Vermögen. Die Wehr¬ pflicht war rechtlich der Zeit nach unbeschränkt, solange der Betreffende über¬ haupt dienstfähig war. Aber ein ausgedehntes Beurlaubungssystem für die ausgebildeten Leute mit alljährlichen kürzeren Übungen suchte die volkswirt¬ schaftlichen Interessen mit dieser ausgedehnten Wehrpflicht zu vereinigen. Nur die unsicheren Kantonisten hielt man dauernd bei der Fahne. Neben der in¬ ländischen Rekrutierung bestand ergänzend die ausländische Werbung sort, so daß etwa zwei Drittel des Heeres rekrutierte Inländer, ein Drittel geworbene Ausländer waren, beide zusammengehalten durch das aus dem Adel des Landes hervorgegangene Offizierkorps. Mit diesem Heere hat Friedrich der Große seine Kriege geführt. Nur die Ausnahmen von der Kantonpflicht wurden aus volkswirtschaftlichen Gründen immer zahlreicher. Demgemäß verschob sich auch das Verhältnis von Inländern und Ausländern zu Halb und Halb. Die Höhe des Präsenzstandes zu bestimmen, lag natürlich lediglich im Ermessen der absoluten Krone. Mit dem Tilsiter Frieden hörte zunächst die ausländische Werbung auf, zumal Preußen sich durch Vertrag von 1808 Frankreich gegenüber verpflichtet hatte, den Friedenspräsenzstand von 42000 Mann nicht zu überschreiten. Dieser Bestand wurde jetzt nur noch aus Kantonisten entnommen. Man konnte diese in dem sogenannten Krümpersystem nach kurzer Ausbildungszeit entlassen, um andere Kantonisten einzustellen und später möglichst viele ausgebildete Mann¬ schaften zu haben. Aber der Heeresersatz blieb auf die Kantonisten beschränkt. Alle höheren Klassen der Bevölkerung waren in einem unendlichen Kataloge von Ausnahmen von der allgemeinen Wehrpflicht befreit. Aber die ausländische Werbung war man wenigstens losgeworden. Die Befreiungskriege führen endlich zu dem letzten Schritte. Zunächst für die Zeit des Krieges und seit 1814 dauernd werden die bisherigen Befrei-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/507>, abgerufen am 22.07.2024.