Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Briefe aus Trebeldorf

Trebeldorf, den 15. Januar 19 . .


Lieber Cunz,

sämtliche Schleusen stehen offen, und durch das großlöcherigste Sieb kleckert der
Himmel auf uns schlammgeborene Wesen alle seine Wasser herab. Ein Wetter,
um das man keinen Nachtwächter beneidet. Und dennoch ist ganz Trebeldorf
auf den Beinen, selbst ich, wenn auch nur von Amts wegen.

Stabwankende Greise und hüpfende Jugend, kahlköpfige Großmütterchen
und lockige Mägdlein, Väter und Mütter mit Kindern an beiden Händen, alle,
alle strömen zum Tore hinaus. Sie drängen, schieben, stoßen sich und stauen
schließlich fest an demselben Endpunkte, an dem die Urvorsührung des ersten
Eisenbahnzuges stattfinden soll. Mit ihm kommt der Herr Landrat. Er hat
sichs nicht nehmen lassen, seinen Einzug verständnisvoll zu verknoten mit diesem
Ereignis, um so noch den fernsten Geschlechtern in der Erinnerung zu haften
als einer der großen Bringer der Kultur.

Die Suppe verbrodelt auf dem Herd, das Essen zerkocht, die unbehüteten
Ratten und Mäuslein huschen aus ihren Winkeln und haben Tanzfreiheit auf
allen Tischen. -- Wer wird hinter dem Ofen hocken? Dieser Moment ist
historisch, lieber das halbe Leben verträumen, als den Augenblick verpassen.

Die Stunden verrinnen. Der Boden unter unseren Füßen wird weicher
und glitschiger. Dicksträhniger säuselt der Regen.

Die Menschenmauer steht unverrückbar. Hier und da gelegentlich ein halb¬
lauter Fluch, wenn eine Schirmtraufe allzu rücksichtslos den nachbarlichen
Sonntagsrock berieselt. -- Der Drechsler Hahne beginnt über Schmerzen im
äußersten Südwesten seines Körpers zu klagen. Er fühlt, daß das Zipperlein
wieder im Anrücken ist, prophezeit für die nächsten drei Tage Sturm und
versucht unter Anlehnung an den Glaser Fielitz all die Zeit über auf dem
rechten Bein zu stehen. Dazwischen Gelächter und Mahnen zur Geduld: "Er
muß doch endlich kommen."

Kein Dach, unter das man fliehen könnte. Vom Bahnhof noch nicht eine
Spur; nicht einmal die Bausteine dazu sind angefahren. Von links her, quer
auf die Chaussee zu laufen die Schienen, deren letztes Ende erst am Tage
vorher in hetzender Hast gelegt worden ist. Hart am Wege soll der Zug halten.
"Station Freienfelde", sagt Dachdecker Kunkel.

Endlich, endlich ein ferner Pfiff, durch den leichten Nordwest kaum hörbar
zu uns herübergetragen. Aus allen Kehlen ein brausendes Hurra. Jetzt,
von der linken Seite ein kräuselnder Dampf. Die Lokomotive wird sichtbar.
Hinter ihr zwei Wagen. Schon hört man das Rackern auf den Schienen.
Immer näher, immer näher. Immer mächtiger das Jubelgeschrei. Der alte
Kantor stimmt mit seiner Schuljugend den Choral an:


31*
Briefe aus Trebeldorf

Trebeldorf, den 15. Januar 19 . .


Lieber Cunz,

sämtliche Schleusen stehen offen, und durch das großlöcherigste Sieb kleckert der
Himmel auf uns schlammgeborene Wesen alle seine Wasser herab. Ein Wetter,
um das man keinen Nachtwächter beneidet. Und dennoch ist ganz Trebeldorf
auf den Beinen, selbst ich, wenn auch nur von Amts wegen.

Stabwankende Greise und hüpfende Jugend, kahlköpfige Großmütterchen
und lockige Mägdlein, Väter und Mütter mit Kindern an beiden Händen, alle,
alle strömen zum Tore hinaus. Sie drängen, schieben, stoßen sich und stauen
schließlich fest an demselben Endpunkte, an dem die Urvorsührung des ersten
Eisenbahnzuges stattfinden soll. Mit ihm kommt der Herr Landrat. Er hat
sichs nicht nehmen lassen, seinen Einzug verständnisvoll zu verknoten mit diesem
Ereignis, um so noch den fernsten Geschlechtern in der Erinnerung zu haften
als einer der großen Bringer der Kultur.

Die Suppe verbrodelt auf dem Herd, das Essen zerkocht, die unbehüteten
Ratten und Mäuslein huschen aus ihren Winkeln und haben Tanzfreiheit auf
allen Tischen. — Wer wird hinter dem Ofen hocken? Dieser Moment ist
historisch, lieber das halbe Leben verträumen, als den Augenblick verpassen.

Die Stunden verrinnen. Der Boden unter unseren Füßen wird weicher
und glitschiger. Dicksträhniger säuselt der Regen.

Die Menschenmauer steht unverrückbar. Hier und da gelegentlich ein halb¬
lauter Fluch, wenn eine Schirmtraufe allzu rücksichtslos den nachbarlichen
Sonntagsrock berieselt. — Der Drechsler Hahne beginnt über Schmerzen im
äußersten Südwesten seines Körpers zu klagen. Er fühlt, daß das Zipperlein
wieder im Anrücken ist, prophezeit für die nächsten drei Tage Sturm und
versucht unter Anlehnung an den Glaser Fielitz all die Zeit über auf dem
rechten Bein zu stehen. Dazwischen Gelächter und Mahnen zur Geduld: „Er
muß doch endlich kommen."

Kein Dach, unter das man fliehen könnte. Vom Bahnhof noch nicht eine
Spur; nicht einmal die Bausteine dazu sind angefahren. Von links her, quer
auf die Chaussee zu laufen die Schienen, deren letztes Ende erst am Tage
vorher in hetzender Hast gelegt worden ist. Hart am Wege soll der Zug halten.
„Station Freienfelde", sagt Dachdecker Kunkel.

Endlich, endlich ein ferner Pfiff, durch den leichten Nordwest kaum hörbar
zu uns herübergetragen. Aus allen Kehlen ein brausendes Hurra. Jetzt,
von der linken Seite ein kräuselnder Dampf. Die Lokomotive wird sichtbar.
Hinter ihr zwei Wagen. Schon hört man das Rackern auf den Schienen.
Immer näher, immer näher. Immer mächtiger das Jubelgeschrei. Der alte
Kantor stimmt mit seiner Schuljugend den Choral an:


31*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0487" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325357"/>
          <fw type="header" place="top"> Briefe aus Trebeldorf</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2213"> Trebeldorf, den 15. Januar 19 . .</p><lb/>
          <note type="salute"> Lieber Cunz,</note><lb/>
          <p xml:id="ID_2214"> sämtliche Schleusen stehen offen, und durch das großlöcherigste Sieb kleckert der<lb/>
Himmel auf uns schlammgeborene Wesen alle seine Wasser herab. Ein Wetter,<lb/>
um das man keinen Nachtwächter beneidet. Und dennoch ist ganz Trebeldorf<lb/>
auf den Beinen, selbst ich, wenn auch nur von Amts wegen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2215"> Stabwankende Greise und hüpfende Jugend, kahlköpfige Großmütterchen<lb/>
und lockige Mägdlein, Väter und Mütter mit Kindern an beiden Händen, alle,<lb/>
alle strömen zum Tore hinaus. Sie drängen, schieben, stoßen sich und stauen<lb/>
schließlich fest an demselben Endpunkte, an dem die Urvorsührung des ersten<lb/>
Eisenbahnzuges stattfinden soll. Mit ihm kommt der Herr Landrat. Er hat<lb/>
sichs nicht nehmen lassen, seinen Einzug verständnisvoll zu verknoten mit diesem<lb/>
Ereignis, um so noch den fernsten Geschlechtern in der Erinnerung zu haften<lb/>
als einer der großen Bringer der Kultur.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2216"> Die Suppe verbrodelt auf dem Herd, das Essen zerkocht, die unbehüteten<lb/>
Ratten und Mäuslein huschen aus ihren Winkeln und haben Tanzfreiheit auf<lb/>
allen Tischen. &#x2014; Wer wird hinter dem Ofen hocken? Dieser Moment ist<lb/>
historisch, lieber das halbe Leben verträumen, als den Augenblick verpassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2217"> Die Stunden verrinnen. Der Boden unter unseren Füßen wird weicher<lb/>
und glitschiger. Dicksträhniger säuselt der Regen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2218"> Die Menschenmauer steht unverrückbar. Hier und da gelegentlich ein halb¬<lb/>
lauter Fluch, wenn eine Schirmtraufe allzu rücksichtslos den nachbarlichen<lb/>
Sonntagsrock berieselt. &#x2014; Der Drechsler Hahne beginnt über Schmerzen im<lb/>
äußersten Südwesten seines Körpers zu klagen. Er fühlt, daß das Zipperlein<lb/>
wieder im Anrücken ist, prophezeit für die nächsten drei Tage Sturm und<lb/>
versucht unter Anlehnung an den Glaser Fielitz all die Zeit über auf dem<lb/>
rechten Bein zu stehen. Dazwischen Gelächter und Mahnen zur Geduld: &#x201E;Er<lb/>
muß doch endlich kommen."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2219"> Kein Dach, unter das man fliehen könnte. Vom Bahnhof noch nicht eine<lb/>
Spur; nicht einmal die Bausteine dazu sind angefahren. Von links her, quer<lb/>
auf die Chaussee zu laufen die Schienen, deren letztes Ende erst am Tage<lb/>
vorher in hetzender Hast gelegt worden ist. Hart am Wege soll der Zug halten.<lb/>
&#x201E;Station Freienfelde", sagt Dachdecker Kunkel.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2220"> Endlich, endlich ein ferner Pfiff, durch den leichten Nordwest kaum hörbar<lb/>
zu uns herübergetragen. Aus allen Kehlen ein brausendes Hurra. Jetzt,<lb/>
von der linken Seite ein kräuselnder Dampf. Die Lokomotive wird sichtbar.<lb/>
Hinter ihr zwei Wagen. Schon hört man das Rackern auf den Schienen.<lb/>
Immer näher, immer näher. Immer mächtiger das Jubelgeschrei. Der alte<lb/>
Kantor stimmt mit seiner Schuljugend den Choral an:</p><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_27" type="poem">
            <l/>
          </lg><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 31*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0487] Briefe aus Trebeldorf Trebeldorf, den 15. Januar 19 . . Lieber Cunz, sämtliche Schleusen stehen offen, und durch das großlöcherigste Sieb kleckert der Himmel auf uns schlammgeborene Wesen alle seine Wasser herab. Ein Wetter, um das man keinen Nachtwächter beneidet. Und dennoch ist ganz Trebeldorf auf den Beinen, selbst ich, wenn auch nur von Amts wegen. Stabwankende Greise und hüpfende Jugend, kahlköpfige Großmütterchen und lockige Mägdlein, Väter und Mütter mit Kindern an beiden Händen, alle, alle strömen zum Tore hinaus. Sie drängen, schieben, stoßen sich und stauen schließlich fest an demselben Endpunkte, an dem die Urvorsührung des ersten Eisenbahnzuges stattfinden soll. Mit ihm kommt der Herr Landrat. Er hat sichs nicht nehmen lassen, seinen Einzug verständnisvoll zu verknoten mit diesem Ereignis, um so noch den fernsten Geschlechtern in der Erinnerung zu haften als einer der großen Bringer der Kultur. Die Suppe verbrodelt auf dem Herd, das Essen zerkocht, die unbehüteten Ratten und Mäuslein huschen aus ihren Winkeln und haben Tanzfreiheit auf allen Tischen. — Wer wird hinter dem Ofen hocken? Dieser Moment ist historisch, lieber das halbe Leben verträumen, als den Augenblick verpassen. Die Stunden verrinnen. Der Boden unter unseren Füßen wird weicher und glitschiger. Dicksträhniger säuselt der Regen. Die Menschenmauer steht unverrückbar. Hier und da gelegentlich ein halb¬ lauter Fluch, wenn eine Schirmtraufe allzu rücksichtslos den nachbarlichen Sonntagsrock berieselt. — Der Drechsler Hahne beginnt über Schmerzen im äußersten Südwesten seines Körpers zu klagen. Er fühlt, daß das Zipperlein wieder im Anrücken ist, prophezeit für die nächsten drei Tage Sturm und versucht unter Anlehnung an den Glaser Fielitz all die Zeit über auf dem rechten Bein zu stehen. Dazwischen Gelächter und Mahnen zur Geduld: „Er muß doch endlich kommen." Kein Dach, unter das man fliehen könnte. Vom Bahnhof noch nicht eine Spur; nicht einmal die Bausteine dazu sind angefahren. Von links her, quer auf die Chaussee zu laufen die Schienen, deren letztes Ende erst am Tage vorher in hetzender Hast gelegt worden ist. Hart am Wege soll der Zug halten. „Station Freienfelde", sagt Dachdecker Kunkel. Endlich, endlich ein ferner Pfiff, durch den leichten Nordwest kaum hörbar zu uns herübergetragen. Aus allen Kehlen ein brausendes Hurra. Jetzt, von der linken Seite ein kräuselnder Dampf. Die Lokomotive wird sichtbar. Hinter ihr zwei Wagen. Schon hört man das Rackern auf den Schienen. Immer näher, immer näher. Immer mächtiger das Jubelgeschrei. Der alte Kantor stimmt mit seiner Schuljugend den Choral an: 31*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/487
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/487>, abgerufen am 22.07.2024.