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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Lhamberlains Goethe

vom Autor bei den Haaren herbeigezogen werden mußte. Dem Berge bewußter
und unbewußter Geschichtsfälschung, den Seen trivialster Redensarten, die in
der Judenfrage seit einiger Zeit hüben und drüben zusammengetragen wurde,
will ich schweigend die Worte des Apostels entgegensetzen, die als Motto meinen
Ausführungen vorangehen. Hier sei einfach die Tatsache festgestellt, daß das
achthunderteinundfünfzig Seiten starke Buch Chamberlains den Titel: "Goethe"
mit Unrecht trägt, denn zu einem Drittel ist dieses Werk eine Streitschrift über
Rassenpolitik, Rassenhygiene, Rassenwertung unter dem antisemitischen Gesichts¬
punkt. Richtigkeit, Wert, Berechtigung einer solchen Schrift, wie der sich darauf
beziehenden Gegenmeinungen der anderen Partei, haben mit Goetheliteratur
schlechtweg nichts zu schaffen. Da nun Chamberlain sowieso allen Leuten, die
fachgemäß dem wissenschaftlichen "Betrieb" der Universität angehören, ohne
weiteres Beschränktheit vorwirft, so will ich daraus wenigstens das Recht der
Beschränkung ableiten und mich nur mit jenem Drittel seines Werkes beschäftigen,
das sich wirklich auf Goethe bezieht. Wir müssen daher eine kräftige Amputation
vornehmen und genau bezeichnen, was in Chamberlains Buch dem Kreise dieser
Betrachtung fern steht. Kurz: alles, was sich auf feststehende, nicht erforschte und
deshalb nicht erörterungsfähige Dogmen der Chamberlainschen Gefühlswelt be¬
zieht. Hierher gehören: die Judenfrage, will sagen alles, was in Goethes Werden
mit der Bibel, mit dem Christentum und mit Spinoza zusammenhängt, -- beileibe
nicht, als gehörte dieses alles wirklich zur Judenfrage, sondern weil Chamberlain
diese Probleme nicht unter dem Gesichtspunkt "Goethe", sondern unter dem der
mehr oder weniger akuten Judenfrage behandelt; ferner gehört hierher die durch¬
aus selbstherrliche, jeder wissenschaftlichen Begründung (von Beweis gar nicht zu
sprechen) bare Darlegung seiner sehr persönlichen Meinung über Richard Wagner,
über Beschaffenheit der Universität sowie ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit, und
über den Monismus.

Stunde das übrigbleibende Drittel des Chamberlainschen Goethebuches nicht
weit höher als die durchschnittliche Goetheliteratur, so verdiente es die sorgfältige
Scheidung nicht. Was aber teils nach Ausschaltung ganzer Kapitel, teils nach
strenger Sichtung einzelner Parteien übrig bleibt, ist aller Aufmerksamkeit und
aller Anerkennung würdig, ungeachtet all des Widerspruchs, den ich auch dazu
erheben gedenke. Die ersten drei Abschnitte: Das Leben, die Persönlichkeit, der
praktisch Tätige, haben eigentlich die deutende Psychologie zur Methode. Das
bekannte historische Material deutet Chamberlain vielfach neu, er betätigt daran
seine eigene intuitive Psychologie. Das Ergebnis dieser Betätigung ist in positiver
Richtung Null, sofern eine Darstellung des Lebens oder der Persönlichkeit an¬
gestrebt wurde. Bei einer ähnlichen Inkonsequenz der Methode überstiege die
Widerlegung im einzelnen die Maße einer Besprechung. Wir beschränken uns
daher auf das Grundsätzliche. Eine Tatsachenreihe kann methodisch entweder als
Folge der historischen Notwendigkeit oder aber als die zufälliger Ergebnisse betrachtet
werden. Ersterenfalls darf ich der Kausalität auch Schlüsse entnehmen, im zweiten


Lhamberlains Goethe

vom Autor bei den Haaren herbeigezogen werden mußte. Dem Berge bewußter
und unbewußter Geschichtsfälschung, den Seen trivialster Redensarten, die in
der Judenfrage seit einiger Zeit hüben und drüben zusammengetragen wurde,
will ich schweigend die Worte des Apostels entgegensetzen, die als Motto meinen
Ausführungen vorangehen. Hier sei einfach die Tatsache festgestellt, daß das
achthunderteinundfünfzig Seiten starke Buch Chamberlains den Titel: „Goethe"
mit Unrecht trägt, denn zu einem Drittel ist dieses Werk eine Streitschrift über
Rassenpolitik, Rassenhygiene, Rassenwertung unter dem antisemitischen Gesichts¬
punkt. Richtigkeit, Wert, Berechtigung einer solchen Schrift, wie der sich darauf
beziehenden Gegenmeinungen der anderen Partei, haben mit Goetheliteratur
schlechtweg nichts zu schaffen. Da nun Chamberlain sowieso allen Leuten, die
fachgemäß dem wissenschaftlichen „Betrieb" der Universität angehören, ohne
weiteres Beschränktheit vorwirft, so will ich daraus wenigstens das Recht der
Beschränkung ableiten und mich nur mit jenem Drittel seines Werkes beschäftigen,
das sich wirklich auf Goethe bezieht. Wir müssen daher eine kräftige Amputation
vornehmen und genau bezeichnen, was in Chamberlains Buch dem Kreise dieser
Betrachtung fern steht. Kurz: alles, was sich auf feststehende, nicht erforschte und
deshalb nicht erörterungsfähige Dogmen der Chamberlainschen Gefühlswelt be¬
zieht. Hierher gehören: die Judenfrage, will sagen alles, was in Goethes Werden
mit der Bibel, mit dem Christentum und mit Spinoza zusammenhängt, — beileibe
nicht, als gehörte dieses alles wirklich zur Judenfrage, sondern weil Chamberlain
diese Probleme nicht unter dem Gesichtspunkt „Goethe", sondern unter dem der
mehr oder weniger akuten Judenfrage behandelt; ferner gehört hierher die durch¬
aus selbstherrliche, jeder wissenschaftlichen Begründung (von Beweis gar nicht zu
sprechen) bare Darlegung seiner sehr persönlichen Meinung über Richard Wagner,
über Beschaffenheit der Universität sowie ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit, und
über den Monismus.

Stunde das übrigbleibende Drittel des Chamberlainschen Goethebuches nicht
weit höher als die durchschnittliche Goetheliteratur, so verdiente es die sorgfältige
Scheidung nicht. Was aber teils nach Ausschaltung ganzer Kapitel, teils nach
strenger Sichtung einzelner Parteien übrig bleibt, ist aller Aufmerksamkeit und
aller Anerkennung würdig, ungeachtet all des Widerspruchs, den ich auch dazu
erheben gedenke. Die ersten drei Abschnitte: Das Leben, die Persönlichkeit, der
praktisch Tätige, haben eigentlich die deutende Psychologie zur Methode. Das
bekannte historische Material deutet Chamberlain vielfach neu, er betätigt daran
seine eigene intuitive Psychologie. Das Ergebnis dieser Betätigung ist in positiver
Richtung Null, sofern eine Darstellung des Lebens oder der Persönlichkeit an¬
gestrebt wurde. Bei einer ähnlichen Inkonsequenz der Methode überstiege die
Widerlegung im einzelnen die Maße einer Besprechung. Wir beschränken uns
daher auf das Grundsätzliche. Eine Tatsachenreihe kann methodisch entweder als
Folge der historischen Notwendigkeit oder aber als die zufälliger Ergebnisse betrachtet
werden. Ersterenfalls darf ich der Kausalität auch Schlüsse entnehmen, im zweiten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/454>, abgerufen am 29.06.2024.