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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Alte und neue Hamletforschung

Gewissensbedenken, das ihm die eigene Unentschlossenheit verhüllen soll. Diese
Kompromisse mit seinem Pflichtgefühl und die immer wieder gemachte Er¬
fahrung, daß er trotz aller guten Vorsätze doch nicht handelt, das alles bringt
ihn in jenen seiner eigenen Umgebung so rätselhafter und verderblichen Zustand,
in dem er zwischen bleierner Schwermut und exaltierten Handlungen hin und
herschwankt. Der am Ende des ersten Aktes gefaßte Entschluß, sich wahn¬
sinnig zu stellen, findet -- eine geniale Variation des entsprechenden Tat¬
bestandes bei 8axa> (Zrammaticus -- in seinem überreizten Gemüt nur zu
günstige Voraussetzungen. Es entstehen aus seinem Willen, sich zu verstellen,
seinem Haß gegen den verrotteten Hof, seiner überspannten, misanthropischen
Bitterkeit, seinem Witz und der Überreizung seiner Psyche jene Dialoge, die
bei aller Maßlosigkeit immer einen bestimmten Willen und vor allem einen
geistvollen Sarkasmus erkennen lassen, in dem der alte Polonius "bei aller
Tollheit Methode" findet.

Unerbittlich geht sein Schicksal seinen Weg. Die Psychose unterwühlt ihn
immer mehr und so sehen wir ihn zur Schuld getrieben, sehen den mählichen
Abbau der zarten sympathischen Seele. Ein qualvolles Bild! Bis das
Schicksal eingreift und Schuld tilgt und Schmerzen tilgt und Sünder und
Unschuldige ins Grab reißt.

>Es ist nicht meine Absicht, einen Hamletkommentar zu schreiben. Was ich
zeigte, ist ja nur eine grobstrichige Skizze zu dem Bilde, das uns Menschen
von heute das wahrscheinlichste ist. Ein Produkt der psychopathologischen
Arbeit der letzten dreißig Jahre und der Tatsache, daß wir vermöge unserer
Zeit klarer sehen, was in dem rätselhaften Charakter steckt, als die Generationen
vor uns es vermochten.

Im Auslande beschäftigt sich direkt die Psychiatrie mit Shakespeare und
seinen Figuren. Die Arbeiten des Engländers Moundsley, der beiden Ameri¬
kaner Connolly und Kellog, des Franzosen Boismont behandeln diese Frage
zum Teil äußerst feinsinnig. Für den Fachmann, der in ihnen zu Worte kommt,
liegt ja die Versuchung nahe, bei der kritischen Betätigung das einmal betretene
Feld für sich allein in Anspruch zu nehmen, die fein gezeichneten, intimen
psychischen Vorgänge mit dem doch immer sehr summarischen Wort der ärzt¬
lichen Diagnose totzuschlagen und jede, aber auch jede Lebensäußerung der
kritisierten Gestalt unter dem Gesichtswinkel des beobachtenden Neurologen zu
betrachten. Ich weiß sehr wohl, daß das von mir eben flüchtig skizzierte
psychische Zustandbild soweit vervollständigt werden kann, daß man es mit
einer bestimmten neurologischen Diagnose belegen kann: ein Vorgehen, das
berechtigten Widerspruch wecken würde. Mit medizinischen Schlagworten um¬
spannt man kein warmes Menschenleben, wohl aber zertrümmert man leicht dabei
Sympathien und alles Unwägbare, das wir bei einem Kunstwerke erleben.
Diese Gefahren vermeiden die oben angeführten Kommentare zum Teil glücklich:
leider find sie darin ein Gegensatz zu den deutschen Arbeiten derselben medizinischen


Alte und neue Hamletforschung

Gewissensbedenken, das ihm die eigene Unentschlossenheit verhüllen soll. Diese
Kompromisse mit seinem Pflichtgefühl und die immer wieder gemachte Er¬
fahrung, daß er trotz aller guten Vorsätze doch nicht handelt, das alles bringt
ihn in jenen seiner eigenen Umgebung so rätselhafter und verderblichen Zustand,
in dem er zwischen bleierner Schwermut und exaltierten Handlungen hin und
herschwankt. Der am Ende des ersten Aktes gefaßte Entschluß, sich wahn¬
sinnig zu stellen, findet — eine geniale Variation des entsprechenden Tat¬
bestandes bei 8axa> (Zrammaticus — in seinem überreizten Gemüt nur zu
günstige Voraussetzungen. Es entstehen aus seinem Willen, sich zu verstellen,
seinem Haß gegen den verrotteten Hof, seiner überspannten, misanthropischen
Bitterkeit, seinem Witz und der Überreizung seiner Psyche jene Dialoge, die
bei aller Maßlosigkeit immer einen bestimmten Willen und vor allem einen
geistvollen Sarkasmus erkennen lassen, in dem der alte Polonius „bei aller
Tollheit Methode" findet.

Unerbittlich geht sein Schicksal seinen Weg. Die Psychose unterwühlt ihn
immer mehr und so sehen wir ihn zur Schuld getrieben, sehen den mählichen
Abbau der zarten sympathischen Seele. Ein qualvolles Bild! Bis das
Schicksal eingreift und Schuld tilgt und Schmerzen tilgt und Sünder und
Unschuldige ins Grab reißt.

>Es ist nicht meine Absicht, einen Hamletkommentar zu schreiben. Was ich
zeigte, ist ja nur eine grobstrichige Skizze zu dem Bilde, das uns Menschen
von heute das wahrscheinlichste ist. Ein Produkt der psychopathologischen
Arbeit der letzten dreißig Jahre und der Tatsache, daß wir vermöge unserer
Zeit klarer sehen, was in dem rätselhaften Charakter steckt, als die Generationen
vor uns es vermochten.

Im Auslande beschäftigt sich direkt die Psychiatrie mit Shakespeare und
seinen Figuren. Die Arbeiten des Engländers Moundsley, der beiden Ameri¬
kaner Connolly und Kellog, des Franzosen Boismont behandeln diese Frage
zum Teil äußerst feinsinnig. Für den Fachmann, der in ihnen zu Worte kommt,
liegt ja die Versuchung nahe, bei der kritischen Betätigung das einmal betretene
Feld für sich allein in Anspruch zu nehmen, die fein gezeichneten, intimen
psychischen Vorgänge mit dem doch immer sehr summarischen Wort der ärzt¬
lichen Diagnose totzuschlagen und jede, aber auch jede Lebensäußerung der
kritisierten Gestalt unter dem Gesichtswinkel des beobachtenden Neurologen zu
betrachten. Ich weiß sehr wohl, daß das von mir eben flüchtig skizzierte
psychische Zustandbild soweit vervollständigt werden kann, daß man es mit
einer bestimmten neurologischen Diagnose belegen kann: ein Vorgehen, das
berechtigten Widerspruch wecken würde. Mit medizinischen Schlagworten um¬
spannt man kein warmes Menschenleben, wohl aber zertrümmert man leicht dabei
Sympathien und alles Unwägbare, das wir bei einem Kunstwerke erleben.
Diese Gefahren vermeiden die oben angeführten Kommentare zum Teil glücklich:
leider find sie darin ein Gegensatz zu den deutschen Arbeiten derselben medizinischen


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[0441] Alte und neue Hamletforschung Gewissensbedenken, das ihm die eigene Unentschlossenheit verhüllen soll. Diese Kompromisse mit seinem Pflichtgefühl und die immer wieder gemachte Er¬ fahrung, daß er trotz aller guten Vorsätze doch nicht handelt, das alles bringt ihn in jenen seiner eigenen Umgebung so rätselhafter und verderblichen Zustand, in dem er zwischen bleierner Schwermut und exaltierten Handlungen hin und herschwankt. Der am Ende des ersten Aktes gefaßte Entschluß, sich wahn¬ sinnig zu stellen, findet — eine geniale Variation des entsprechenden Tat¬ bestandes bei 8axa> (Zrammaticus — in seinem überreizten Gemüt nur zu günstige Voraussetzungen. Es entstehen aus seinem Willen, sich zu verstellen, seinem Haß gegen den verrotteten Hof, seiner überspannten, misanthropischen Bitterkeit, seinem Witz und der Überreizung seiner Psyche jene Dialoge, die bei aller Maßlosigkeit immer einen bestimmten Willen und vor allem einen geistvollen Sarkasmus erkennen lassen, in dem der alte Polonius „bei aller Tollheit Methode" findet. Unerbittlich geht sein Schicksal seinen Weg. Die Psychose unterwühlt ihn immer mehr und so sehen wir ihn zur Schuld getrieben, sehen den mählichen Abbau der zarten sympathischen Seele. Ein qualvolles Bild! Bis das Schicksal eingreift und Schuld tilgt und Schmerzen tilgt und Sünder und Unschuldige ins Grab reißt. >Es ist nicht meine Absicht, einen Hamletkommentar zu schreiben. Was ich zeigte, ist ja nur eine grobstrichige Skizze zu dem Bilde, das uns Menschen von heute das wahrscheinlichste ist. Ein Produkt der psychopathologischen Arbeit der letzten dreißig Jahre und der Tatsache, daß wir vermöge unserer Zeit klarer sehen, was in dem rätselhaften Charakter steckt, als die Generationen vor uns es vermochten. Im Auslande beschäftigt sich direkt die Psychiatrie mit Shakespeare und seinen Figuren. Die Arbeiten des Engländers Moundsley, der beiden Ameri¬ kaner Connolly und Kellog, des Franzosen Boismont behandeln diese Frage zum Teil äußerst feinsinnig. Für den Fachmann, der in ihnen zu Worte kommt, liegt ja die Versuchung nahe, bei der kritischen Betätigung das einmal betretene Feld für sich allein in Anspruch zu nehmen, die fein gezeichneten, intimen psychischen Vorgänge mit dem doch immer sehr summarischen Wort der ärzt¬ lichen Diagnose totzuschlagen und jede, aber auch jede Lebensäußerung der kritisierten Gestalt unter dem Gesichtswinkel des beobachtenden Neurologen zu betrachten. Ich weiß sehr wohl, daß das von mir eben flüchtig skizzierte psychische Zustandbild soweit vervollständigt werden kann, daß man es mit einer bestimmten neurologischen Diagnose belegen kann: ein Vorgehen, das berechtigten Widerspruch wecken würde. Mit medizinischen Schlagworten um¬ spannt man kein warmes Menschenleben, wohl aber zertrümmert man leicht dabei Sympathien und alles Unwägbare, das wir bei einem Kunstwerke erleben. Diese Gefahren vermeiden die oben angeführten Kommentare zum Teil glücklich: leider find sie darin ein Gegensatz zu den deutschen Arbeiten derselben medizinischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/441>, abgerufen am 23.06.2024.