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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Alte und neue Hamletforschung

Man denke: alles in allem ein Leben, wie wir es oft genug sehen. Gerade
der kraftvolle, tatenfrohe Mann ist oft Vater eines fein organisierten Sohnes>
dessen überzarte Psyche in bewunderungswürdiger Weise subtilste Gedanken¬
arbeit leistet, vielleicht genial im Aufnehmen künstlerischer Eindrücke ist, die aber
versagt, wo es gilt, eine Welt von Schwierigkeiten zu überwinden. Gerade in
glänzenden Familien ist oft so die Entartung über Nacht gekommen, man weiß
nicht woher, und mit solchem feingeistiger, überzarten letzten Sproß ist schon
manch strahlender Name verschollen. Überempfindliche Instrumente, die als
Gelehrte, Philosophen, als Interpreten ästhetischer Werke oft wundervolles leisten
und auch leidlich durchs Leben kommen, beläßt sie ein günstiges Geschick auf
diesen Wegen, auf denen sie nicht straucheln. Man denke aber: ein Leben, das
die rauhe Tat verlangt, bei der tausend Gewissensbedenken schweigen müssen!

Gewissensbedenken, das ist est

Diese Feinen, sensiblen, denen auf jeden Eindruck, der den Robusteren
unbeeinflußt läßt, eine Flut von Empfindungen zuströmt, sie sind fast alle
Menschen mit leicht erregbaren ästhetischen, ethischen . . . religiösen Bedenken.
In unzählige Bedenken verstrickt, kommen sie da, wo sie verlangt wird, nie
zur raschen Tat, die ein entschiedenes Wollen oder Nichtwollen erfordert. Ist
es nun gar ein Vorsatz, wie ihn in einer gegebenen Situation solche Naturen
viel leichter sassen, als Robustere, etwa /in Entschluß aus Pietät, aus irgend¬
welchen edlen Motiven, ein Entschluß, den sie ihrer Ansicht nach bei Verlust
der Selbstachtung verwirklichen müssen, so sind sie oft völlig in ein verderb¬
liches Netz verstrickt: einerseits ist die Tat gehemmt durch Gewissensbedenken,
anderseits treibt ihr einmal gewecktes mächtiges Pflichtgefühl sie vorwärts. Tausend
Pläne werden entworfen und verworfen: es kommt nie zu einer Ausführung.
Und damit ist ein neues Moment gegeben: es setzt die allzuleicht bereite Selbst¬
kritik ein, und das Ende ist wütende, nagende Selbstverachtung und damit
völlige Verzweiflung. Die moderne Psychiatrie kennt dieses Zustandbild sehr
wohl: sie kennt auch seinen periodischen Wechsel zwischen der Thesis brütender
Melancholie und der Arsis exaltierter Verzweiflung. Und sie kennt auch jene
raschen, entsetzlichen Taten (vgl. im "Hamlet" den Tod des Polonius), die in
der Erregungsphase oft nur durch einen relativ unbedeutenden Reiz ausgelöst
werden. Taten, vor deren scheinbarer Sinnlosigkeit die Umgebung dann
fassungslos dasteht.

Man sieht, ein Bild, in das sich die Geschehnisse der Tragödie trefflich
einfügen: der Prinz, durch den plötzlichen Tod des Vaters, die taktlos schnelle
Heirat der Mutter schon aus seinem psychischen Gleichgewicht gebracht, wird
von einer Geisterstimme zu einer Tat gemahnt, der er sich, anfangs voller
exaltierten Enthusiasmus, selber nicht gewachsen fühlt. Das eigene Ehrgefühl
aber mahnt im Inneren immer quälender und dringlicher zur Tat. Der Prinz
stellt mehrfach zwischen sich und die Ausführung, selbst da, wo die Gelegenheit
ihm so günstig ist, wie in der Szene des betenden Königs, ein konstruiertes


Alte und neue Hamletforschung

Man denke: alles in allem ein Leben, wie wir es oft genug sehen. Gerade
der kraftvolle, tatenfrohe Mann ist oft Vater eines fein organisierten Sohnes>
dessen überzarte Psyche in bewunderungswürdiger Weise subtilste Gedanken¬
arbeit leistet, vielleicht genial im Aufnehmen künstlerischer Eindrücke ist, die aber
versagt, wo es gilt, eine Welt von Schwierigkeiten zu überwinden. Gerade in
glänzenden Familien ist oft so die Entartung über Nacht gekommen, man weiß
nicht woher, und mit solchem feingeistiger, überzarten letzten Sproß ist schon
manch strahlender Name verschollen. Überempfindliche Instrumente, die als
Gelehrte, Philosophen, als Interpreten ästhetischer Werke oft wundervolles leisten
und auch leidlich durchs Leben kommen, beläßt sie ein günstiges Geschick auf
diesen Wegen, auf denen sie nicht straucheln. Man denke aber: ein Leben, das
die rauhe Tat verlangt, bei der tausend Gewissensbedenken schweigen müssen!

Gewissensbedenken, das ist est

Diese Feinen, sensiblen, denen auf jeden Eindruck, der den Robusteren
unbeeinflußt läßt, eine Flut von Empfindungen zuströmt, sie sind fast alle
Menschen mit leicht erregbaren ästhetischen, ethischen . . . religiösen Bedenken.
In unzählige Bedenken verstrickt, kommen sie da, wo sie verlangt wird, nie
zur raschen Tat, die ein entschiedenes Wollen oder Nichtwollen erfordert. Ist
es nun gar ein Vorsatz, wie ihn in einer gegebenen Situation solche Naturen
viel leichter sassen, als Robustere, etwa /in Entschluß aus Pietät, aus irgend¬
welchen edlen Motiven, ein Entschluß, den sie ihrer Ansicht nach bei Verlust
der Selbstachtung verwirklichen müssen, so sind sie oft völlig in ein verderb¬
liches Netz verstrickt: einerseits ist die Tat gehemmt durch Gewissensbedenken,
anderseits treibt ihr einmal gewecktes mächtiges Pflichtgefühl sie vorwärts. Tausend
Pläne werden entworfen und verworfen: es kommt nie zu einer Ausführung.
Und damit ist ein neues Moment gegeben: es setzt die allzuleicht bereite Selbst¬
kritik ein, und das Ende ist wütende, nagende Selbstverachtung und damit
völlige Verzweiflung. Die moderne Psychiatrie kennt dieses Zustandbild sehr
wohl: sie kennt auch seinen periodischen Wechsel zwischen der Thesis brütender
Melancholie und der Arsis exaltierter Verzweiflung. Und sie kennt auch jene
raschen, entsetzlichen Taten (vgl. im „Hamlet" den Tod des Polonius), die in
der Erregungsphase oft nur durch einen relativ unbedeutenden Reiz ausgelöst
werden. Taten, vor deren scheinbarer Sinnlosigkeit die Umgebung dann
fassungslos dasteht.

Man sieht, ein Bild, in das sich die Geschehnisse der Tragödie trefflich
einfügen: der Prinz, durch den plötzlichen Tod des Vaters, die taktlos schnelle
Heirat der Mutter schon aus seinem psychischen Gleichgewicht gebracht, wird
von einer Geisterstimme zu einer Tat gemahnt, der er sich, anfangs voller
exaltierten Enthusiasmus, selber nicht gewachsen fühlt. Das eigene Ehrgefühl
aber mahnt im Inneren immer quälender und dringlicher zur Tat. Der Prinz
stellt mehrfach zwischen sich und die Ausführung, selbst da, wo die Gelegenheit
ihm so günstig ist, wie in der Szene des betenden Königs, ein konstruiertes


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[0440] Alte und neue Hamletforschung Man denke: alles in allem ein Leben, wie wir es oft genug sehen. Gerade der kraftvolle, tatenfrohe Mann ist oft Vater eines fein organisierten Sohnes> dessen überzarte Psyche in bewunderungswürdiger Weise subtilste Gedanken¬ arbeit leistet, vielleicht genial im Aufnehmen künstlerischer Eindrücke ist, die aber versagt, wo es gilt, eine Welt von Schwierigkeiten zu überwinden. Gerade in glänzenden Familien ist oft so die Entartung über Nacht gekommen, man weiß nicht woher, und mit solchem feingeistiger, überzarten letzten Sproß ist schon manch strahlender Name verschollen. Überempfindliche Instrumente, die als Gelehrte, Philosophen, als Interpreten ästhetischer Werke oft wundervolles leisten und auch leidlich durchs Leben kommen, beläßt sie ein günstiges Geschick auf diesen Wegen, auf denen sie nicht straucheln. Man denke aber: ein Leben, das die rauhe Tat verlangt, bei der tausend Gewissensbedenken schweigen müssen! Gewissensbedenken, das ist est Diese Feinen, sensiblen, denen auf jeden Eindruck, der den Robusteren unbeeinflußt läßt, eine Flut von Empfindungen zuströmt, sie sind fast alle Menschen mit leicht erregbaren ästhetischen, ethischen . . . religiösen Bedenken. In unzählige Bedenken verstrickt, kommen sie da, wo sie verlangt wird, nie zur raschen Tat, die ein entschiedenes Wollen oder Nichtwollen erfordert. Ist es nun gar ein Vorsatz, wie ihn in einer gegebenen Situation solche Naturen viel leichter sassen, als Robustere, etwa /in Entschluß aus Pietät, aus irgend¬ welchen edlen Motiven, ein Entschluß, den sie ihrer Ansicht nach bei Verlust der Selbstachtung verwirklichen müssen, so sind sie oft völlig in ein verderb¬ liches Netz verstrickt: einerseits ist die Tat gehemmt durch Gewissensbedenken, anderseits treibt ihr einmal gewecktes mächtiges Pflichtgefühl sie vorwärts. Tausend Pläne werden entworfen und verworfen: es kommt nie zu einer Ausführung. Und damit ist ein neues Moment gegeben: es setzt die allzuleicht bereite Selbst¬ kritik ein, und das Ende ist wütende, nagende Selbstverachtung und damit völlige Verzweiflung. Die moderne Psychiatrie kennt dieses Zustandbild sehr wohl: sie kennt auch seinen periodischen Wechsel zwischen der Thesis brütender Melancholie und der Arsis exaltierter Verzweiflung. Und sie kennt auch jene raschen, entsetzlichen Taten (vgl. im „Hamlet" den Tod des Polonius), die in der Erregungsphase oft nur durch einen relativ unbedeutenden Reiz ausgelöst werden. Taten, vor deren scheinbarer Sinnlosigkeit die Umgebung dann fassungslos dasteht. Man sieht, ein Bild, in das sich die Geschehnisse der Tragödie trefflich einfügen: der Prinz, durch den plötzlichen Tod des Vaters, die taktlos schnelle Heirat der Mutter schon aus seinem psychischen Gleichgewicht gebracht, wird von einer Geisterstimme zu einer Tat gemahnt, der er sich, anfangs voller exaltierten Enthusiasmus, selber nicht gewachsen fühlt. Das eigene Ehrgefühl aber mahnt im Inneren immer quälender und dringlicher zur Tat. Der Prinz stellt mehrfach zwischen sich und die Ausführung, selbst da, wo die Gelegenheit ihm so günstig ist, wie in der Szene des betenden Königs, ein konstruiertes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/440>, abgerufen am 22.12.2024.