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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Alte und neue Hamletforschung
Dr. Fritz R cet-Malleczewen i von n

Über dem Gemälde hängt ein Flor; wir möchten
ihn wegziehen, das Gemälde genauer betrachten; aber
Börne. der Flor selbst ist gemalt.

rst mit Goethes Wilhelm Meister erwächst in Deutschland weiten
Kreisen das Interesse für Hamlet. Und erst sein Erscheinen er¬
schließt den Quell kritischer Produktion, der zunächst spärlich, all¬
mählich aber immer energischer fließt. Heute scheint er langsam
zu versiegen, nachdem inzwischen die Hamletliteratur zu einer
kleinen Bibliothek herangewachsen ist.

Die Frage, das Hamletproblem I Welches Rätsel stellt diese Sphinx, an
der heißes Bemühen sich so lange Jahre vergebens versuchte? . . . Vielleicht
ist es das Rätselhafteste am Hamlet, daß die Fülle der Probleme eine Beant¬
wortung der Hauptfragen immer unzulänglich und einseitig erscheinen läßt. Es
ist fo, wie es immer ist, wenn man das innerste Wesen eines komplizierten
Menschen ergründen will: glaubt man eine Formel dafür gesunden zu haben,
sofort tauchen tausend neue Fragen auf und harren der Beantwortung.

Der Hamletforschung stand durch alle Zeiten ein Problem vornan:
weshalb zaudert dieser sympathische, ethisch hochstehende Mensch mit der Aus¬
führung eines Vorhabens, das ihm selbst von einem geliebten Munde, vor
allem aber von dem eigenen Gewissen als sittliche Pflicht anbefohlen wird?
Und weiter: weshalb dieser exzentrische Wechsel in den Äußerungen seines
Temperamentes, die Periodizität dieser unvermittelter Übergänge aus tiefem
Phlegma zur rasenden Exaltation?

' Wir wissen heute befriedigende Antworten auf diese Fragen. Nur müssen
wir dabei immer daran denken, daß es zu solchen Problemen nicht absolut
richtige Lösungen gibt und daß andere Zeiten sie vielleicht anders lösen werden,
je nach den Ideen, die den Menschen eben dieser Zeiten nahe liegen.

Genial hat, bevor Kleinere sich mit ihr beschäftigten, Goethe im großen
und ganzen die Frage beantwortet, weshalb Hamlet so lange zögert und wes¬
wegen er schließlich zugrunde geht: "eine große Tat auf eine Seele gelegt,
die der Tat nicht gewachsen ist."




Alte und neue Hamletforschung
Dr. Fritz R cet-Malleczewen i von n

Über dem Gemälde hängt ein Flor; wir möchten
ihn wegziehen, das Gemälde genauer betrachten; aber
Börne. der Flor selbst ist gemalt.

rst mit Goethes Wilhelm Meister erwächst in Deutschland weiten
Kreisen das Interesse für Hamlet. Und erst sein Erscheinen er¬
schließt den Quell kritischer Produktion, der zunächst spärlich, all¬
mählich aber immer energischer fließt. Heute scheint er langsam
zu versiegen, nachdem inzwischen die Hamletliteratur zu einer
kleinen Bibliothek herangewachsen ist.

Die Frage, das Hamletproblem I Welches Rätsel stellt diese Sphinx, an
der heißes Bemühen sich so lange Jahre vergebens versuchte? . . . Vielleicht
ist es das Rätselhafteste am Hamlet, daß die Fülle der Probleme eine Beant¬
wortung der Hauptfragen immer unzulänglich und einseitig erscheinen läßt. Es
ist fo, wie es immer ist, wenn man das innerste Wesen eines komplizierten
Menschen ergründen will: glaubt man eine Formel dafür gesunden zu haben,
sofort tauchen tausend neue Fragen auf und harren der Beantwortung.

Der Hamletforschung stand durch alle Zeiten ein Problem vornan:
weshalb zaudert dieser sympathische, ethisch hochstehende Mensch mit der Aus¬
führung eines Vorhabens, das ihm selbst von einem geliebten Munde, vor
allem aber von dem eigenen Gewissen als sittliche Pflicht anbefohlen wird?
Und weiter: weshalb dieser exzentrische Wechsel in den Äußerungen seines
Temperamentes, die Periodizität dieser unvermittelter Übergänge aus tiefem
Phlegma zur rasenden Exaltation?

' Wir wissen heute befriedigende Antworten auf diese Fragen. Nur müssen
wir dabei immer daran denken, daß es zu solchen Problemen nicht absolut
richtige Lösungen gibt und daß andere Zeiten sie vielleicht anders lösen werden,
je nach den Ideen, die den Menschen eben dieser Zeiten nahe liegen.

Genial hat, bevor Kleinere sich mit ihr beschäftigten, Goethe im großen
und ganzen die Frage beantwortet, weshalb Hamlet so lange zögert und wes¬
wegen er schließlich zugrunde geht: „eine große Tat auf eine Seele gelegt,
die der Tat nicht gewachsen ist."


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[0438] [Abbildung] Alte und neue Hamletforschung Dr. Fritz R cet-Malleczewen i von n Über dem Gemälde hängt ein Flor; wir möchten ihn wegziehen, das Gemälde genauer betrachten; aber Börne. der Flor selbst ist gemalt. rst mit Goethes Wilhelm Meister erwächst in Deutschland weiten Kreisen das Interesse für Hamlet. Und erst sein Erscheinen er¬ schließt den Quell kritischer Produktion, der zunächst spärlich, all¬ mählich aber immer energischer fließt. Heute scheint er langsam zu versiegen, nachdem inzwischen die Hamletliteratur zu einer kleinen Bibliothek herangewachsen ist. Die Frage, das Hamletproblem I Welches Rätsel stellt diese Sphinx, an der heißes Bemühen sich so lange Jahre vergebens versuchte? . . . Vielleicht ist es das Rätselhafteste am Hamlet, daß die Fülle der Probleme eine Beant¬ wortung der Hauptfragen immer unzulänglich und einseitig erscheinen läßt. Es ist fo, wie es immer ist, wenn man das innerste Wesen eines komplizierten Menschen ergründen will: glaubt man eine Formel dafür gesunden zu haben, sofort tauchen tausend neue Fragen auf und harren der Beantwortung. Der Hamletforschung stand durch alle Zeiten ein Problem vornan: weshalb zaudert dieser sympathische, ethisch hochstehende Mensch mit der Aus¬ führung eines Vorhabens, das ihm selbst von einem geliebten Munde, vor allem aber von dem eigenen Gewissen als sittliche Pflicht anbefohlen wird? Und weiter: weshalb dieser exzentrische Wechsel in den Äußerungen seines Temperamentes, die Periodizität dieser unvermittelter Übergänge aus tiefem Phlegma zur rasenden Exaltation? ' Wir wissen heute befriedigende Antworten auf diese Fragen. Nur müssen wir dabei immer daran denken, daß es zu solchen Problemen nicht absolut richtige Lösungen gibt und daß andere Zeiten sie vielleicht anders lösen werden, je nach den Ideen, die den Menschen eben dieser Zeiten nahe liegen. Genial hat, bevor Kleinere sich mit ihr beschäftigten, Goethe im großen und ganzen die Frage beantwortet, weshalb Hamlet so lange zögert und wes¬ wegen er schließlich zugrunde geht: „eine große Tat auf eine Seele gelegt, die der Tat nicht gewachsen ist."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/438>, abgerufen am 22.12.2024.