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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Kolonialer Fortschritt im I"hre 59^2

gegeben. Dieser Standpunkt war auch dem Verwaltungskörper der Kolonien
daheim und draußen in Fleisch und Blut übergegangen. Kein Wunder, denn
erst mit Dernburg war die Kolonialverwaltung unabhängig, ein mit den
nötigen Machtmitteln und Finanzkrästen ausgestattetes R?lassant geworden.
In diese Rolle mußte sie sich erst allmählich hineinfinden. Und natürlich ging
die Anschauungsweise ihres Herrn und Meisters unwillkürlich auch auf die
"Nachgeordneten Organe" über. Der gesamte Organismus war bald auf einen
gewissen autokratischen Ton gestimmt, wenn auch ein Teil der Beamten,
namentlich manche von denjenigen, die draußen im praktischen Leben standen,
mit der Zeit einen vermittelnden Standpunkt einnahmen und der Politik der
Zentralverwaltung die schärfsten Spitzen abzubrechen suchten. Bei der etwas
schroffen Gemütsart des damaligen Staatssekretärs half das nur einige Zeit,
zumal sich auch in dem Vorgehen der vielleicht etwas zu hastig vorwärts
strebenden weißen Bevölkerung der Kolonien mehr und mehr eine ausgesprochene
Verbissenheit geltend machte, die sogar in offenen Haß ausartete. An diesen
Verhältnissen mußte der verdienteste Staatssekretär scheitern. Obwohl sein
Nachfolger, Herr von Lindequist, wieder freundlichere Beziehungen zwischen den
Kolonien und der Kolonialverwaltung herzustellen wußte, so vermochte doch er,
der politischem Hervortreten, programmatischen Erklärungen u. tgi. abhold
war, nicht, in der kurzen Zeit seiner Amtstätigkeit eine neue Richtung ein¬
zuschlagen und die koloniale Verwaltungspolitik auf einen neuen Ton zu stimmen.
Noch in neuester Zeit hat man z. B. in Ostafrika Dernburgschen Geistes einen
Hauch verspürt, als es sich um die Einführung einer Städteordnung für
Dar-es-Salam und Tanga handelte. Nicht einen eigenen selbstgewählten
Bürgermeister sollten diese Gemeinwesen erhalten, sondern an seine Stelle sollte
der Bezirksamtmann, der Vertreter des Gouverneurs treten. Das diese Städte¬
ordnung von der weißen Bevölkerung abgelehnt wurde, ist verständlich, denn
eine Selbstverwaltung mit dem Vertreter der Staatsgewalt als maßgebender
Spitze ist keine Selbstverwaltung. Das soll kein Vorwurf gegen den neuen
Gouverneur sein. Auch er kann nach seiner bisherigen Tätigkeit an ma߬
gebender Stelle nicht ohne weiteres aus seiner Haut heraus und seine Wirk¬
samkeit in Ostafrika ist zu kurz, als daß er schon auf die besonders auto¬
kratische und dem Selbständigkeitsdrang der weißen Bevölkerung abholde Politik
des Herrn von Rechenberg hätte mildernd einwirken können.

Seit einem Jahre, im Verlauf unseres Berichtsjahres, haben nun erhebliche
Verschiebungen an den wichtigsten Stellen der Kolonialverwaltung stattgefunden.
Ein neuer Staatssekretär, neue Gouverneure in Ostafrika, Kamerun, Togo und
Samoa. Solchen Neubesetzungen pflegt in der Regel die Versicherung auf dem
Fuße zu folgen, daß nicht beabsichtigt sei, an der bewährten Politik des Herrn
Amtsvorgängers etwas zu ändern. Abgesehen davon, daß bei Neubesetzung
politisch wichtiger Posten heutzutage selten mehr "Gesundheitsrücksichten" der
Zurücktretenden ausschlaggebend sind, als vielmehr der Wunsch auf feiten der


Kolonialer Fortschritt im I«hre 59^2

gegeben. Dieser Standpunkt war auch dem Verwaltungskörper der Kolonien
daheim und draußen in Fleisch und Blut übergegangen. Kein Wunder, denn
erst mit Dernburg war die Kolonialverwaltung unabhängig, ein mit den
nötigen Machtmitteln und Finanzkrästen ausgestattetes R?lassant geworden.
In diese Rolle mußte sie sich erst allmählich hineinfinden. Und natürlich ging
die Anschauungsweise ihres Herrn und Meisters unwillkürlich auch auf die
„Nachgeordneten Organe" über. Der gesamte Organismus war bald auf einen
gewissen autokratischen Ton gestimmt, wenn auch ein Teil der Beamten,
namentlich manche von denjenigen, die draußen im praktischen Leben standen,
mit der Zeit einen vermittelnden Standpunkt einnahmen und der Politik der
Zentralverwaltung die schärfsten Spitzen abzubrechen suchten. Bei der etwas
schroffen Gemütsart des damaligen Staatssekretärs half das nur einige Zeit,
zumal sich auch in dem Vorgehen der vielleicht etwas zu hastig vorwärts
strebenden weißen Bevölkerung der Kolonien mehr und mehr eine ausgesprochene
Verbissenheit geltend machte, die sogar in offenen Haß ausartete. An diesen
Verhältnissen mußte der verdienteste Staatssekretär scheitern. Obwohl sein
Nachfolger, Herr von Lindequist, wieder freundlichere Beziehungen zwischen den
Kolonien und der Kolonialverwaltung herzustellen wußte, so vermochte doch er,
der politischem Hervortreten, programmatischen Erklärungen u. tgi. abhold
war, nicht, in der kurzen Zeit seiner Amtstätigkeit eine neue Richtung ein¬
zuschlagen und die koloniale Verwaltungspolitik auf einen neuen Ton zu stimmen.
Noch in neuester Zeit hat man z. B. in Ostafrika Dernburgschen Geistes einen
Hauch verspürt, als es sich um die Einführung einer Städteordnung für
Dar-es-Salam und Tanga handelte. Nicht einen eigenen selbstgewählten
Bürgermeister sollten diese Gemeinwesen erhalten, sondern an seine Stelle sollte
der Bezirksamtmann, der Vertreter des Gouverneurs treten. Das diese Städte¬
ordnung von der weißen Bevölkerung abgelehnt wurde, ist verständlich, denn
eine Selbstverwaltung mit dem Vertreter der Staatsgewalt als maßgebender
Spitze ist keine Selbstverwaltung. Das soll kein Vorwurf gegen den neuen
Gouverneur sein. Auch er kann nach seiner bisherigen Tätigkeit an ma߬
gebender Stelle nicht ohne weiteres aus seiner Haut heraus und seine Wirk¬
samkeit in Ostafrika ist zu kurz, als daß er schon auf die besonders auto¬
kratische und dem Selbständigkeitsdrang der weißen Bevölkerung abholde Politik
des Herrn von Rechenberg hätte mildernd einwirken können.

Seit einem Jahre, im Verlauf unseres Berichtsjahres, haben nun erhebliche
Verschiebungen an den wichtigsten Stellen der Kolonialverwaltung stattgefunden.
Ein neuer Staatssekretär, neue Gouverneure in Ostafrika, Kamerun, Togo und
Samoa. Solchen Neubesetzungen pflegt in der Regel die Versicherung auf dem
Fuße zu folgen, daß nicht beabsichtigt sei, an der bewährten Politik des Herrn
Amtsvorgängers etwas zu ändern. Abgesehen davon, daß bei Neubesetzung
politisch wichtiger Posten heutzutage selten mehr „Gesundheitsrücksichten" der
Zurücktretenden ausschlaggebend sind, als vielmehr der Wunsch auf feiten der


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[0406] Kolonialer Fortschritt im I«hre 59^2 gegeben. Dieser Standpunkt war auch dem Verwaltungskörper der Kolonien daheim und draußen in Fleisch und Blut übergegangen. Kein Wunder, denn erst mit Dernburg war die Kolonialverwaltung unabhängig, ein mit den nötigen Machtmitteln und Finanzkrästen ausgestattetes R?lassant geworden. In diese Rolle mußte sie sich erst allmählich hineinfinden. Und natürlich ging die Anschauungsweise ihres Herrn und Meisters unwillkürlich auch auf die „Nachgeordneten Organe" über. Der gesamte Organismus war bald auf einen gewissen autokratischen Ton gestimmt, wenn auch ein Teil der Beamten, namentlich manche von denjenigen, die draußen im praktischen Leben standen, mit der Zeit einen vermittelnden Standpunkt einnahmen und der Politik der Zentralverwaltung die schärfsten Spitzen abzubrechen suchten. Bei der etwas schroffen Gemütsart des damaligen Staatssekretärs half das nur einige Zeit, zumal sich auch in dem Vorgehen der vielleicht etwas zu hastig vorwärts strebenden weißen Bevölkerung der Kolonien mehr und mehr eine ausgesprochene Verbissenheit geltend machte, die sogar in offenen Haß ausartete. An diesen Verhältnissen mußte der verdienteste Staatssekretär scheitern. Obwohl sein Nachfolger, Herr von Lindequist, wieder freundlichere Beziehungen zwischen den Kolonien und der Kolonialverwaltung herzustellen wußte, so vermochte doch er, der politischem Hervortreten, programmatischen Erklärungen u. tgi. abhold war, nicht, in der kurzen Zeit seiner Amtstätigkeit eine neue Richtung ein¬ zuschlagen und die koloniale Verwaltungspolitik auf einen neuen Ton zu stimmen. Noch in neuester Zeit hat man z. B. in Ostafrika Dernburgschen Geistes einen Hauch verspürt, als es sich um die Einführung einer Städteordnung für Dar-es-Salam und Tanga handelte. Nicht einen eigenen selbstgewählten Bürgermeister sollten diese Gemeinwesen erhalten, sondern an seine Stelle sollte der Bezirksamtmann, der Vertreter des Gouverneurs treten. Das diese Städte¬ ordnung von der weißen Bevölkerung abgelehnt wurde, ist verständlich, denn eine Selbstverwaltung mit dem Vertreter der Staatsgewalt als maßgebender Spitze ist keine Selbstverwaltung. Das soll kein Vorwurf gegen den neuen Gouverneur sein. Auch er kann nach seiner bisherigen Tätigkeit an ma߬ gebender Stelle nicht ohne weiteres aus seiner Haut heraus und seine Wirk¬ samkeit in Ostafrika ist zu kurz, als daß er schon auf die besonders auto¬ kratische und dem Selbständigkeitsdrang der weißen Bevölkerung abholde Politik des Herrn von Rechenberg hätte mildernd einwirken können. Seit einem Jahre, im Verlauf unseres Berichtsjahres, haben nun erhebliche Verschiebungen an den wichtigsten Stellen der Kolonialverwaltung stattgefunden. Ein neuer Staatssekretär, neue Gouverneure in Ostafrika, Kamerun, Togo und Samoa. Solchen Neubesetzungen pflegt in der Regel die Versicherung auf dem Fuße zu folgen, daß nicht beabsichtigt sei, an der bewährten Politik des Herrn Amtsvorgängers etwas zu ändern. Abgesehen davon, daß bei Neubesetzung politisch wichtiger Posten heutzutage selten mehr „Gesundheitsrücksichten" der Zurücktretenden ausschlaggebend sind, als vielmehr der Wunsch auf feiten der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/406>, abgerufen am 22.12.2024.