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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Bismarcks Stellung zum Answanderungsproblem

ganze Unheil verantwortlich zu machen, so erklärte er jetzt eine solche aus land¬
wirtschaftlichen Gebieten lediglich aus einer mangelhaften Entwicklung der In¬
dustrie daselbst infolge mangelnden Schutzes der nationalen Arbeit. Schon am
8. März 1879 hatte er die Freihändler, die von dem Schutzzoll eine Verstärkung
der Auswanderung prophezeit hatten, auf die oben angedeuteten Bevölkerungs¬
tatsachen aufmerksam gemacht. Jetzt ging er soweit, den Spieß herumzudrehen
und in dem Schutzzoll sogar eine Abwehr der Auswanderung zu sehen, für deren
Höhe er der Freihandelsära die Schuld gab.

Der Mangel an Schutzzöllen hat nach Bismarcks Ansicht die Auswanderung
verschuldet. Denn dieser habe ein Sinken der heimischen Getreidepreise infoloe
der unbeschränkten Konkurrenz aus dem Weltmarkt und damit den Rückgang der
Landwirtschaft -- "das größte nationale Unglück", das Deutschland nach seiner
festen Überzeugung treffen könnte") -- zur Folge. Auch stehe er der Entwicklung
einer kaufkräftigen Industrie im Wege, die allein der Landwirtschaft unter die
Arme greifen, ihr den lokalen Absatz ihrer Produkte ermöglichen und dagegen
ihre Objekte eintauschen könne. Wo dieser Mangel nicht vorhanden ist, wo
Industrie und Landwirtschaft sich gegenseitig durchdringen, da glaubte er das
Gleichgewicht der verschiedenen Erwerbs- und Arbeitszweige hergestellt und damit
die Voraussetzungen für die Auswanderung aufgehoben*"). Den Reichstags¬
abgeordneten, die von der Postdampferoorlage eine Steigerung der Auswanderung
vorhersagten, konnte er aus diesem Gedankengang heraus die These entgegen¬
stellen, daß gerade der Export und die Förderung einer sicheren Handelsverbin¬
dung ein Mittel sei, die Auswanderung zu hindern""") und daß er als geschworener
Feind der Auswanderung nie die Vorlage befürworten würde, wenn er nicht
von der Wahrheit dieser Behauptung überzeugt sei.

Eine weitere Ursache der ländlichen Auswanderung, die er allein noch
berücksichtigte, sah er in der "törichten" Abschaffung der Erbpacht vom 2. März
1850, die als Folge der Bauernbefreiung in Preußen dem bäuerlichen Mittel¬
stand den Erwerb eines für seine Familie ausreichenden Gutes unmöglich mache
und zur Auswanderung nach Amerika verführe, wo er billigere Bedingungen
für den Kauf einer Hufe vorfände. Dann maß er dem Druck der direkten
Steuern, wie vor allem der preußischen Klassensteuer (die er am 12. Juni 1882
eine barbarische Einrichtuno nannte, wie sie nur noch in Rußland und in der
Türkei bestehe), aber auch der Grundsteuer, der Kommunalabgaben und Kreis¬
lasten, die dem Landwirt die Ausbeutung seiner Scholle erschwerten, eine große
Bedeutung für die Auswanderung bei. Außerdem gab er zu, daß der lange und
schwere Militärdienst, namentlich für die Intellektuellen unter den Männern, ein
Grund sei, das Vaterland zu verlassen. Zuletzt aber waren es für ihn psycho¬
logische Momente, die für die "Landflucht" in Betracht kamen: die Unsicherheit





*) Reden X 274.
**) ebenda 397.
***) ebenda 209.
Bismarcks Stellung zum Answanderungsproblem

ganze Unheil verantwortlich zu machen, so erklärte er jetzt eine solche aus land¬
wirtschaftlichen Gebieten lediglich aus einer mangelhaften Entwicklung der In¬
dustrie daselbst infolge mangelnden Schutzes der nationalen Arbeit. Schon am
8. März 1879 hatte er die Freihändler, die von dem Schutzzoll eine Verstärkung
der Auswanderung prophezeit hatten, auf die oben angedeuteten Bevölkerungs¬
tatsachen aufmerksam gemacht. Jetzt ging er soweit, den Spieß herumzudrehen
und in dem Schutzzoll sogar eine Abwehr der Auswanderung zu sehen, für deren
Höhe er der Freihandelsära die Schuld gab.

Der Mangel an Schutzzöllen hat nach Bismarcks Ansicht die Auswanderung
verschuldet. Denn dieser habe ein Sinken der heimischen Getreidepreise infoloe
der unbeschränkten Konkurrenz aus dem Weltmarkt und damit den Rückgang der
Landwirtschaft — „das größte nationale Unglück", das Deutschland nach seiner
festen Überzeugung treffen könnte") — zur Folge. Auch stehe er der Entwicklung
einer kaufkräftigen Industrie im Wege, die allein der Landwirtschaft unter die
Arme greifen, ihr den lokalen Absatz ihrer Produkte ermöglichen und dagegen
ihre Objekte eintauschen könne. Wo dieser Mangel nicht vorhanden ist, wo
Industrie und Landwirtschaft sich gegenseitig durchdringen, da glaubte er das
Gleichgewicht der verschiedenen Erwerbs- und Arbeitszweige hergestellt und damit
die Voraussetzungen für die Auswanderung aufgehoben*"). Den Reichstags¬
abgeordneten, die von der Postdampferoorlage eine Steigerung der Auswanderung
vorhersagten, konnte er aus diesem Gedankengang heraus die These entgegen¬
stellen, daß gerade der Export und die Förderung einer sicheren Handelsverbin¬
dung ein Mittel sei, die Auswanderung zu hindern""") und daß er als geschworener
Feind der Auswanderung nie die Vorlage befürworten würde, wenn er nicht
von der Wahrheit dieser Behauptung überzeugt sei.

Eine weitere Ursache der ländlichen Auswanderung, die er allein noch
berücksichtigte, sah er in der „törichten" Abschaffung der Erbpacht vom 2. März
1850, die als Folge der Bauernbefreiung in Preußen dem bäuerlichen Mittel¬
stand den Erwerb eines für seine Familie ausreichenden Gutes unmöglich mache
und zur Auswanderung nach Amerika verführe, wo er billigere Bedingungen
für den Kauf einer Hufe vorfände. Dann maß er dem Druck der direkten
Steuern, wie vor allem der preußischen Klassensteuer (die er am 12. Juni 1882
eine barbarische Einrichtuno nannte, wie sie nur noch in Rußland und in der
Türkei bestehe), aber auch der Grundsteuer, der Kommunalabgaben und Kreis¬
lasten, die dem Landwirt die Ausbeutung seiner Scholle erschwerten, eine große
Bedeutung für die Auswanderung bei. Außerdem gab er zu, daß der lange und
schwere Militärdienst, namentlich für die Intellektuellen unter den Männern, ein
Grund sei, das Vaterland zu verlassen. Zuletzt aber waren es für ihn psycho¬
logische Momente, die für die „Landflucht" in Betracht kamen: die Unsicherheit





*) Reden X 274.
**) ebenda 397.
***) ebenda 209.
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[0040] Bismarcks Stellung zum Answanderungsproblem ganze Unheil verantwortlich zu machen, so erklärte er jetzt eine solche aus land¬ wirtschaftlichen Gebieten lediglich aus einer mangelhaften Entwicklung der In¬ dustrie daselbst infolge mangelnden Schutzes der nationalen Arbeit. Schon am 8. März 1879 hatte er die Freihändler, die von dem Schutzzoll eine Verstärkung der Auswanderung prophezeit hatten, auf die oben angedeuteten Bevölkerungs¬ tatsachen aufmerksam gemacht. Jetzt ging er soweit, den Spieß herumzudrehen und in dem Schutzzoll sogar eine Abwehr der Auswanderung zu sehen, für deren Höhe er der Freihandelsära die Schuld gab. Der Mangel an Schutzzöllen hat nach Bismarcks Ansicht die Auswanderung verschuldet. Denn dieser habe ein Sinken der heimischen Getreidepreise infoloe der unbeschränkten Konkurrenz aus dem Weltmarkt und damit den Rückgang der Landwirtschaft — „das größte nationale Unglück", das Deutschland nach seiner festen Überzeugung treffen könnte") — zur Folge. Auch stehe er der Entwicklung einer kaufkräftigen Industrie im Wege, die allein der Landwirtschaft unter die Arme greifen, ihr den lokalen Absatz ihrer Produkte ermöglichen und dagegen ihre Objekte eintauschen könne. Wo dieser Mangel nicht vorhanden ist, wo Industrie und Landwirtschaft sich gegenseitig durchdringen, da glaubte er das Gleichgewicht der verschiedenen Erwerbs- und Arbeitszweige hergestellt und damit die Voraussetzungen für die Auswanderung aufgehoben*"). Den Reichstags¬ abgeordneten, die von der Postdampferoorlage eine Steigerung der Auswanderung vorhersagten, konnte er aus diesem Gedankengang heraus die These entgegen¬ stellen, daß gerade der Export und die Förderung einer sicheren Handelsverbin¬ dung ein Mittel sei, die Auswanderung zu hindern""") und daß er als geschworener Feind der Auswanderung nie die Vorlage befürworten würde, wenn er nicht von der Wahrheit dieser Behauptung überzeugt sei. Eine weitere Ursache der ländlichen Auswanderung, die er allein noch berücksichtigte, sah er in der „törichten" Abschaffung der Erbpacht vom 2. März 1850, die als Folge der Bauernbefreiung in Preußen dem bäuerlichen Mittel¬ stand den Erwerb eines für seine Familie ausreichenden Gutes unmöglich mache und zur Auswanderung nach Amerika verführe, wo er billigere Bedingungen für den Kauf einer Hufe vorfände. Dann maß er dem Druck der direkten Steuern, wie vor allem der preußischen Klassensteuer (die er am 12. Juni 1882 eine barbarische Einrichtuno nannte, wie sie nur noch in Rußland und in der Türkei bestehe), aber auch der Grundsteuer, der Kommunalabgaben und Kreis¬ lasten, die dem Landwirt die Ausbeutung seiner Scholle erschwerten, eine große Bedeutung für die Auswanderung bei. Außerdem gab er zu, daß der lange und schwere Militärdienst, namentlich für die Intellektuellen unter den Männern, ein Grund sei, das Vaterland zu verlassen. Zuletzt aber waren es für ihn psycho¬ logische Momente, die für die „Landflucht" in Betracht kamen: die Unsicherheit *) Reden X 274. **) ebenda 397. ***) ebenda 209.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/40>, abgerufen am 04.07.2024.