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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Briefe aus Trebeldorf

"Ja, aber was wollten Sie wohl beginnen in der großen Stadt, Anna?"
fragte ich. "Sie müßten doch eine Stellung haben, irgendeinen Beruf ergreifen,
aber welchen? Meinen Sie, es ist eine große Freude dabei, seine Füße unter
fremder Leute Tisch zu strecken?"

"Ich wüßte schon, was ich möchte," entgegnete sie. "Wenn ich nur nicht
so dumm wäre. Die Erna Haedge, die ist vor vier Jahren auch nach Hamburg
gegangen und Buchhalterin geworden in einem ganz großen Geschäft. Viel
Geld verdient sie und schickt ihren armen Eltern immer noch was. Aber die
war klug. In der Schule konnte sie immer am besten rechnen, und dann hat
sie englisch gelernt und französisch bei dem Korrektor, der damals hier war,
und alle Briefe kann sie schreiben. -- Sie hat das Geld für die Stunden von
Hamburg nachher geschickt."

"Und so einen Beruf möchten Sie auch haben, Anna?"

"Ich möchte schon," erwiderte sie, "wenn ich nur so klug wäre wie die
Erna Haedge."

Sie hatte mirs nahe genug gelegt, aber so ganz unbefangen, daß es mir
eine Freude war, ihr zu sagen, ich wollte ihr denselben Unterricht auch geben,
wenn sie wirklich ernsthaft auf ihrem Vorsatz bestünde. Sie solle sichs über¬
legen und vor allem mit den Eltern darüber reden.

Ihr Angesicht verfärbte sich. Sie schwieg.

"Nun, Anna? Wollen Sie nicht?"

Schüchtern und verschämt kam es heraus: "Wir sind so arme Leute.
Herr Korrektor."

"El was, Kind! Was soll das?" -- Ich fühlte, es würde ihr peinlich sein,
wenn ich ihr die Stunden umsonst anbote. Drum sagte ich: "Wir machen es,
wies der alte Korrektor bei Erna Haedge getan hat. Es ist ja ganz gleich¬
gültig, wann Sie die Stunden bezahlen und ob Sie sie bezahlen. Mir solls
eine Freude sein, wenn ich Ihnen helfen kann zu dem Beruf, nach dem Sie
sich sehnen. -- Wollen Sie?"

Sie war noch immer unentschlossen. Vater und Mutter, meinte sie, würden
gewiß nicht einverstanden sein.

"Na, Anna," sagte ich, "es eilt ja nicht. Überlegen sich."

"Sag doch ja, Anna!" redete Paul kurz und bündig zu.

Anna sagte nichts, aber sie drückte meine Hand inniger als je zuvor.

Was wird nun? -- Ich weiß es nicht. Aber mein Idyll bleibt doch das
einzig Schöne in Trebeldorf.


Ich Dein Edward. grüße Dich, lieber Cunz.

Trebeldorf. den 18. Dezember 19 ..


Mein lieber Cunz.

"Nun hast Du mir den ersten Schmerz getan, der aber traf." -- All
meine Freude, meine wochenlange, heimliche, kindlich reine Freude! -- Du


Briefe aus Trebeldorf

„Ja, aber was wollten Sie wohl beginnen in der großen Stadt, Anna?"
fragte ich. „Sie müßten doch eine Stellung haben, irgendeinen Beruf ergreifen,
aber welchen? Meinen Sie, es ist eine große Freude dabei, seine Füße unter
fremder Leute Tisch zu strecken?"

„Ich wüßte schon, was ich möchte," entgegnete sie. „Wenn ich nur nicht
so dumm wäre. Die Erna Haedge, die ist vor vier Jahren auch nach Hamburg
gegangen und Buchhalterin geworden in einem ganz großen Geschäft. Viel
Geld verdient sie und schickt ihren armen Eltern immer noch was. Aber die
war klug. In der Schule konnte sie immer am besten rechnen, und dann hat
sie englisch gelernt und französisch bei dem Korrektor, der damals hier war,
und alle Briefe kann sie schreiben. — Sie hat das Geld für die Stunden von
Hamburg nachher geschickt."

„Und so einen Beruf möchten Sie auch haben, Anna?"

„Ich möchte schon," erwiderte sie, „wenn ich nur so klug wäre wie die
Erna Haedge."

Sie hatte mirs nahe genug gelegt, aber so ganz unbefangen, daß es mir
eine Freude war, ihr zu sagen, ich wollte ihr denselben Unterricht auch geben,
wenn sie wirklich ernsthaft auf ihrem Vorsatz bestünde. Sie solle sichs über¬
legen und vor allem mit den Eltern darüber reden.

Ihr Angesicht verfärbte sich. Sie schwieg.

„Nun, Anna? Wollen Sie nicht?"

Schüchtern und verschämt kam es heraus: „Wir sind so arme Leute.
Herr Korrektor."

„El was, Kind! Was soll das?" — Ich fühlte, es würde ihr peinlich sein,
wenn ich ihr die Stunden umsonst anbote. Drum sagte ich: „Wir machen es,
wies der alte Korrektor bei Erna Haedge getan hat. Es ist ja ganz gleich¬
gültig, wann Sie die Stunden bezahlen und ob Sie sie bezahlen. Mir solls
eine Freude sein, wenn ich Ihnen helfen kann zu dem Beruf, nach dem Sie
sich sehnen. — Wollen Sie?"

Sie war noch immer unentschlossen. Vater und Mutter, meinte sie, würden
gewiß nicht einverstanden sein.

„Na, Anna," sagte ich, „es eilt ja nicht. Überlegen sich."

„Sag doch ja, Anna!" redete Paul kurz und bündig zu.

Anna sagte nichts, aber sie drückte meine Hand inniger als je zuvor.

Was wird nun? — Ich weiß es nicht. Aber mein Idyll bleibt doch das
einzig Schöne in Trebeldorf.


Ich Dein Edward. grüße Dich, lieber Cunz.

Trebeldorf. den 18. Dezember 19 ..


Mein lieber Cunz.

„Nun hast Du mir den ersten Schmerz getan, der aber traf." — All
meine Freude, meine wochenlange, heimliche, kindlich reine Freude! — Du


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[0386] Briefe aus Trebeldorf „Ja, aber was wollten Sie wohl beginnen in der großen Stadt, Anna?" fragte ich. „Sie müßten doch eine Stellung haben, irgendeinen Beruf ergreifen, aber welchen? Meinen Sie, es ist eine große Freude dabei, seine Füße unter fremder Leute Tisch zu strecken?" „Ich wüßte schon, was ich möchte," entgegnete sie. „Wenn ich nur nicht so dumm wäre. Die Erna Haedge, die ist vor vier Jahren auch nach Hamburg gegangen und Buchhalterin geworden in einem ganz großen Geschäft. Viel Geld verdient sie und schickt ihren armen Eltern immer noch was. Aber die war klug. In der Schule konnte sie immer am besten rechnen, und dann hat sie englisch gelernt und französisch bei dem Korrektor, der damals hier war, und alle Briefe kann sie schreiben. — Sie hat das Geld für die Stunden von Hamburg nachher geschickt." „Und so einen Beruf möchten Sie auch haben, Anna?" „Ich möchte schon," erwiderte sie, „wenn ich nur so klug wäre wie die Erna Haedge." Sie hatte mirs nahe genug gelegt, aber so ganz unbefangen, daß es mir eine Freude war, ihr zu sagen, ich wollte ihr denselben Unterricht auch geben, wenn sie wirklich ernsthaft auf ihrem Vorsatz bestünde. Sie solle sichs über¬ legen und vor allem mit den Eltern darüber reden. Ihr Angesicht verfärbte sich. Sie schwieg. „Nun, Anna? Wollen Sie nicht?" Schüchtern und verschämt kam es heraus: „Wir sind so arme Leute. Herr Korrektor." „El was, Kind! Was soll das?" — Ich fühlte, es würde ihr peinlich sein, wenn ich ihr die Stunden umsonst anbote. Drum sagte ich: „Wir machen es, wies der alte Korrektor bei Erna Haedge getan hat. Es ist ja ganz gleich¬ gültig, wann Sie die Stunden bezahlen und ob Sie sie bezahlen. Mir solls eine Freude sein, wenn ich Ihnen helfen kann zu dem Beruf, nach dem Sie sich sehnen. — Wollen Sie?" Sie war noch immer unentschlossen. Vater und Mutter, meinte sie, würden gewiß nicht einverstanden sein. „Na, Anna," sagte ich, „es eilt ja nicht. Überlegen sich." „Sag doch ja, Anna!" redete Paul kurz und bündig zu. Anna sagte nichts, aber sie drückte meine Hand inniger als je zuvor. Was wird nun? — Ich weiß es nicht. Aber mein Idyll bleibt doch das einzig Schöne in Trebeldorf. Ich Dein Edward. grüße Dich, lieber Cunz. Trebeldorf. den 18. Dezember 19 .. Mein lieber Cunz. „Nun hast Du mir den ersten Schmerz getan, der aber traf." — All meine Freude, meine wochenlange, heimliche, kindlich reine Freude! — Du

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/386>, abgerufen am 22.12.2024.