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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Bismarcks Stellung zum Auswanderungsproblcin

Aufwand dafür zu vermeiden*). Aufgabe des Reiches war nach seiner Ansicht
"nicht die Beförderung der Auswanderer, sondern der deutschen Reederei, die
damit zu tun hat" **). Trotzdem behinderte er deren Aufgabe, indem er seinem
Handelsminister Jtzenplitz gestattete, deutsche Auswanderer nicht mehr zu Vorzugs¬
preisen auf den Eisenbahnen nach den Seestädten befördern zu lassen: eine
Maßregel, die in der reinamerikanischen, aber auch in der deutschamerikanischen
Presse vom "Norden und Süden" die größte Entrüstung hervorrief -- weil der
Uankee Deutschlands Geld. Fleiß und Arbeitssinn nicht entbehren wollte, der
Deutschamerikaner die Militär-despotische Beschränkung der Freiheit bitter empfand,
die die Jugend zum Heeresdienste anhielt und nicht "nach Amerika laufen lassen
will"***). Bei reinverständnismäßiger Betrachtung der Frage aber blieb jeder
Auswanderer für Bismarck "nicht mehr wie jeder Ausländer, Gegenstand der
Fürsorge des Reiches, d. h. in den Grenzen christlicher Menschenliebe wie jeder
Fremde".

Von diesem einseitigen national-politischen Standpunkt kam Bismarck zu
den denkbar starrsten national-ökonomischen Theorien, die er im Reichstag mit
Hartnäckigkeit bis zur äußersten Konsequenz verfocht, wobei er nicht selten durch
Widerspruch gezwungen wurde, Kompromisse und Konzessionen zu machen, die
dem Gegenteil seiner anfänglichen Behauptungen nicht unähnlich waren.
Mit macchiavellistisch-sophistischer Benutzung aller Argumente, die er dabei in
der Hitze des Gefechtes sich auch aus dem Lager der Opposition zu nehmen
nicht scheute (woraus ihm freilich oft genug nur zu leicht ein Strick gedreht
werden konnte), suchte er solange wie möglich seine vom Praktischen ausgehenden
Anschauungen, manchmal bis ins Doktrinäre gesteigert, festzuhalten, dadurch nur
immer mehr in das Gewebe des Widerspruchs bis zur Flucht in die parlamen¬
tarische Umwertung aller Werte sich verwickelnd. Seine im Reichstag über Aus¬
wanderung viermal geäußerten Gedankens), deren Lektüre auch als Beispiel für seine
parlamentarische Kampfesweise interessant ist, müssen daher im folgenden im
Zusammenhang betrachtet und in ihren Widersprüchen bloßgelegt werden, wenn
man über sie klar werden will. Man befindet sich dabei oft in einem circulus
vitio8U8, aus dem man nur mit philologischer Akribie herauskommt. Der
Eindruck, den man beim genauen Lesen gewinnt, als sei sich Bismarck über das
Problem nie ganz klar geworden, mag hierbei etwas verstärkt hervortreten.
Sicherlich ist es ungerechtfertigt, mit der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung
vom 28. Juli 1882 seinen Anschauungen restlos beizustimmen.








*) Poschinger, "Bismarck-Portefeuille" a. a. O.
**) Poschinger, "Deutsche Revue" 36, 1910, S. 341,
Curtius, "Schloezer", Berlin 1912, S. 107 f.
f) Vgl, die Reden von, 8. März 1879, 14. Juni 1882, 26. Juni 1884 und
8, Januar 1886.
Bismarcks Stellung zum Auswanderungsproblcin

Aufwand dafür zu vermeiden*). Aufgabe des Reiches war nach seiner Ansicht
„nicht die Beförderung der Auswanderer, sondern der deutschen Reederei, die
damit zu tun hat" **). Trotzdem behinderte er deren Aufgabe, indem er seinem
Handelsminister Jtzenplitz gestattete, deutsche Auswanderer nicht mehr zu Vorzugs¬
preisen auf den Eisenbahnen nach den Seestädten befördern zu lassen: eine
Maßregel, die in der reinamerikanischen, aber auch in der deutschamerikanischen
Presse vom „Norden und Süden" die größte Entrüstung hervorrief — weil der
Uankee Deutschlands Geld. Fleiß und Arbeitssinn nicht entbehren wollte, der
Deutschamerikaner die Militär-despotische Beschränkung der Freiheit bitter empfand,
die die Jugend zum Heeresdienste anhielt und nicht „nach Amerika laufen lassen
will"***). Bei reinverständnismäßiger Betrachtung der Frage aber blieb jeder
Auswanderer für Bismarck „nicht mehr wie jeder Ausländer, Gegenstand der
Fürsorge des Reiches, d. h. in den Grenzen christlicher Menschenliebe wie jeder
Fremde".

Von diesem einseitigen national-politischen Standpunkt kam Bismarck zu
den denkbar starrsten national-ökonomischen Theorien, die er im Reichstag mit
Hartnäckigkeit bis zur äußersten Konsequenz verfocht, wobei er nicht selten durch
Widerspruch gezwungen wurde, Kompromisse und Konzessionen zu machen, die
dem Gegenteil seiner anfänglichen Behauptungen nicht unähnlich waren.
Mit macchiavellistisch-sophistischer Benutzung aller Argumente, die er dabei in
der Hitze des Gefechtes sich auch aus dem Lager der Opposition zu nehmen
nicht scheute (woraus ihm freilich oft genug nur zu leicht ein Strick gedreht
werden konnte), suchte er solange wie möglich seine vom Praktischen ausgehenden
Anschauungen, manchmal bis ins Doktrinäre gesteigert, festzuhalten, dadurch nur
immer mehr in das Gewebe des Widerspruchs bis zur Flucht in die parlamen¬
tarische Umwertung aller Werte sich verwickelnd. Seine im Reichstag über Aus¬
wanderung viermal geäußerten Gedankens), deren Lektüre auch als Beispiel für seine
parlamentarische Kampfesweise interessant ist, müssen daher im folgenden im
Zusammenhang betrachtet und in ihren Widersprüchen bloßgelegt werden, wenn
man über sie klar werden will. Man befindet sich dabei oft in einem circulus
vitio8U8, aus dem man nur mit philologischer Akribie herauskommt. Der
Eindruck, den man beim genauen Lesen gewinnt, als sei sich Bismarck über das
Problem nie ganz klar geworden, mag hierbei etwas verstärkt hervortreten.
Sicherlich ist es ungerechtfertigt, mit der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung
vom 28. Juli 1882 seinen Anschauungen restlos beizustimmen.








*) Poschinger, „Bismarck-Portefeuille" a. a. O.
**) Poschinger, „Deutsche Revue" 36, 1910, S. 341,
Curtius, „Schloezer", Berlin 1912, S. 107 f.
f) Vgl, die Reden von, 8. März 1879, 14. Juni 1882, 26. Juni 1884 und
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[0038] Bismarcks Stellung zum Auswanderungsproblcin Aufwand dafür zu vermeiden*). Aufgabe des Reiches war nach seiner Ansicht „nicht die Beförderung der Auswanderer, sondern der deutschen Reederei, die damit zu tun hat" **). Trotzdem behinderte er deren Aufgabe, indem er seinem Handelsminister Jtzenplitz gestattete, deutsche Auswanderer nicht mehr zu Vorzugs¬ preisen auf den Eisenbahnen nach den Seestädten befördern zu lassen: eine Maßregel, die in der reinamerikanischen, aber auch in der deutschamerikanischen Presse vom „Norden und Süden" die größte Entrüstung hervorrief — weil der Uankee Deutschlands Geld. Fleiß und Arbeitssinn nicht entbehren wollte, der Deutschamerikaner die Militär-despotische Beschränkung der Freiheit bitter empfand, die die Jugend zum Heeresdienste anhielt und nicht „nach Amerika laufen lassen will"***). Bei reinverständnismäßiger Betrachtung der Frage aber blieb jeder Auswanderer für Bismarck „nicht mehr wie jeder Ausländer, Gegenstand der Fürsorge des Reiches, d. h. in den Grenzen christlicher Menschenliebe wie jeder Fremde". Von diesem einseitigen national-politischen Standpunkt kam Bismarck zu den denkbar starrsten national-ökonomischen Theorien, die er im Reichstag mit Hartnäckigkeit bis zur äußersten Konsequenz verfocht, wobei er nicht selten durch Widerspruch gezwungen wurde, Kompromisse und Konzessionen zu machen, die dem Gegenteil seiner anfänglichen Behauptungen nicht unähnlich waren. Mit macchiavellistisch-sophistischer Benutzung aller Argumente, die er dabei in der Hitze des Gefechtes sich auch aus dem Lager der Opposition zu nehmen nicht scheute (woraus ihm freilich oft genug nur zu leicht ein Strick gedreht werden konnte), suchte er solange wie möglich seine vom Praktischen ausgehenden Anschauungen, manchmal bis ins Doktrinäre gesteigert, festzuhalten, dadurch nur immer mehr in das Gewebe des Widerspruchs bis zur Flucht in die parlamen¬ tarische Umwertung aller Werte sich verwickelnd. Seine im Reichstag über Aus¬ wanderung viermal geäußerten Gedankens), deren Lektüre auch als Beispiel für seine parlamentarische Kampfesweise interessant ist, müssen daher im folgenden im Zusammenhang betrachtet und in ihren Widersprüchen bloßgelegt werden, wenn man über sie klar werden will. Man befindet sich dabei oft in einem circulus vitio8U8, aus dem man nur mit philologischer Akribie herauskommt. Der Eindruck, den man beim genauen Lesen gewinnt, als sei sich Bismarck über das Problem nie ganz klar geworden, mag hierbei etwas verstärkt hervortreten. Sicherlich ist es ungerechtfertigt, mit der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung vom 28. Juli 1882 seinen Anschauungen restlos beizustimmen. *) Poschinger, „Bismarck-Portefeuille" a. a. O. **) Poschinger, „Deutsche Revue" 36, 1910, S. 341, Curtius, „Schloezer", Berlin 1912, S. 107 f. f) Vgl, die Reden von, 8. März 1879, 14. Juni 1882, 26. Juni 1884 und 8, Januar 1886.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/38>, abgerufen am 22.12.2024.