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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Schule und Kunsterziehung

solange wir sie als Beschästigungsgegenstand sür Erholungs- und Feierstunden
betrachten. Kunst darf nicht als ein schöner Mantel angesehen werden, mit
dem man sich in Mußestunden mehr oder weniger feierlich drapieren kann, sie
muß als Lebenselixier brauchbar gemacht werden, das die Kräfte des ganzen
Menschen hebt und veredelt. Kunsterziehung ist ein wesentlicher Teil der Er¬
ziehung zur Kultur. Und Kultur kann nicht von außen an den Menschen
herangebracht werden wie die Fassade an das Mietshaus von 1880, sie muß aus
dem Menschen heraus entwickelt werden, alle seine Äußerungen lebendig fördernd
durchdringen. Und deshalb muß sie von Jugend auf gepflegt werden.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Forderung der Kunsterziehung in
der Schule. Über ihre Ziele wird, wo es noch nicht der Fall ist. bald Einigung
herrschen. Sie sind kurz formuliert:

möglichst harmonische Ausbildung aller Sinne und damit Erziehung zu
künstlerischer Genußfähigkeit, sowie lebendiger und wahrhaftiger Auffassung von
Natur und Wirklichkeit;

möglichst fördernde Ausbildung künstlerischer Fähigkeiten, also im Zeichnen,
Modellieren, Sprechen, Vortragen, Erzählen, in Handfertigkeiten aller Art, usw.

Gegen die Forderung, daß auch in der Schule, und gerade hier, energisch
auf diese Ziele losgearbeitet werden muß, erhebt sich bei der großen Propaganda,
die in allen beteiligten Kreisen gemacht worden ist, kein ernsthafter Einwand
mehr. (Die reiche Literatur stellt zusammen I. Richter, "Die Entwicklung des
kunsterzieherischen Gedankens," Leipzig 1909.) Auch macht man fast überall
recht befriedigende Versuche, den zweiten Hauptpunkt des Programms zu erfüllen.
Zeichen- und Nadelarbeitsunterricht sind bedeutend verbessert worden, die Kinder
werden, auch in Handfertigkeitskursen, mehr und mehr zum Erfinden, statt zum
Kopieren angeleitet (beachtenswerte Winke gibt neuerdings wieder das von
L. Pallat und A. Zolles herausgegebene Schriftchen "Aus der Praxis der
deutschen Kunsterziehung", Teubner, 1912), und in zehn Jahren werden
wir sicher alles erreicht haben, was sich bei unserem gegenwärtigen Schulsystem
überhaupt erreichen läßt.

Anders steht es mit dem ersten Punkt, der Erziehung zur künstlerischen
Genußfähigkeit. Hier erhebt sich herber Zwist, weniger über das Ziel selbst,
als über die Methode, es zu erreichen.

Daß es einer Methode bedarf, ist selbstverständlich. Ohne Methode, ohne
ein bestimmtes Ziel und Klarheit über die einzuschlagenden Wege, bekommen
wir nur ein Tippen und Tappen, vielleicht einzelne hübsche Erfolge, doch ohne
Nachhaltigkeit und allgemeine Breite der Wirkung. Es fragt sich nur, ob diese
Methode uniformiert werden muß, oder ob sie sich nach Ort, Gelegenheit, Lehrer¬
und Schülermaterial zu richten hat.

Das erstere fordern die Herbartianer, Rein an der Spitze. Zu ihnen
bekennt sich auch die jüngst bei Teubner erschienene Broschüre von Karl Reichhold,
"Architektur und Kunsterziehung" (Säemann-Schriften, Heft 3), die uns, als


Schule und Kunsterziehung

solange wir sie als Beschästigungsgegenstand sür Erholungs- und Feierstunden
betrachten. Kunst darf nicht als ein schöner Mantel angesehen werden, mit
dem man sich in Mußestunden mehr oder weniger feierlich drapieren kann, sie
muß als Lebenselixier brauchbar gemacht werden, das die Kräfte des ganzen
Menschen hebt und veredelt. Kunsterziehung ist ein wesentlicher Teil der Er¬
ziehung zur Kultur. Und Kultur kann nicht von außen an den Menschen
herangebracht werden wie die Fassade an das Mietshaus von 1880, sie muß aus
dem Menschen heraus entwickelt werden, alle seine Äußerungen lebendig fördernd
durchdringen. Und deshalb muß sie von Jugend auf gepflegt werden.

Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Forderung der Kunsterziehung in
der Schule. Über ihre Ziele wird, wo es noch nicht der Fall ist. bald Einigung
herrschen. Sie sind kurz formuliert:

möglichst harmonische Ausbildung aller Sinne und damit Erziehung zu
künstlerischer Genußfähigkeit, sowie lebendiger und wahrhaftiger Auffassung von
Natur und Wirklichkeit;

möglichst fördernde Ausbildung künstlerischer Fähigkeiten, also im Zeichnen,
Modellieren, Sprechen, Vortragen, Erzählen, in Handfertigkeiten aller Art, usw.

Gegen die Forderung, daß auch in der Schule, und gerade hier, energisch
auf diese Ziele losgearbeitet werden muß, erhebt sich bei der großen Propaganda,
die in allen beteiligten Kreisen gemacht worden ist, kein ernsthafter Einwand
mehr. (Die reiche Literatur stellt zusammen I. Richter, „Die Entwicklung des
kunsterzieherischen Gedankens," Leipzig 1909.) Auch macht man fast überall
recht befriedigende Versuche, den zweiten Hauptpunkt des Programms zu erfüllen.
Zeichen- und Nadelarbeitsunterricht sind bedeutend verbessert worden, die Kinder
werden, auch in Handfertigkeitskursen, mehr und mehr zum Erfinden, statt zum
Kopieren angeleitet (beachtenswerte Winke gibt neuerdings wieder das von
L. Pallat und A. Zolles herausgegebene Schriftchen „Aus der Praxis der
deutschen Kunsterziehung", Teubner, 1912), und in zehn Jahren werden
wir sicher alles erreicht haben, was sich bei unserem gegenwärtigen Schulsystem
überhaupt erreichen läßt.

Anders steht es mit dem ersten Punkt, der Erziehung zur künstlerischen
Genußfähigkeit. Hier erhebt sich herber Zwist, weniger über das Ziel selbst,
als über die Methode, es zu erreichen.

Daß es einer Methode bedarf, ist selbstverständlich. Ohne Methode, ohne
ein bestimmtes Ziel und Klarheit über die einzuschlagenden Wege, bekommen
wir nur ein Tippen und Tappen, vielleicht einzelne hübsche Erfolge, doch ohne
Nachhaltigkeit und allgemeine Breite der Wirkung. Es fragt sich nur, ob diese
Methode uniformiert werden muß, oder ob sie sich nach Ort, Gelegenheit, Lehrer¬
und Schülermaterial zu richten hat.

Das erstere fordern die Herbartianer, Rein an der Spitze. Zu ihnen
bekennt sich auch die jüngst bei Teubner erschienene Broschüre von Karl Reichhold,
„Architektur und Kunsterziehung" (Säemann-Schriften, Heft 3), die uns, als


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[0366] Schule und Kunsterziehung solange wir sie als Beschästigungsgegenstand sür Erholungs- und Feierstunden betrachten. Kunst darf nicht als ein schöner Mantel angesehen werden, mit dem man sich in Mußestunden mehr oder weniger feierlich drapieren kann, sie muß als Lebenselixier brauchbar gemacht werden, das die Kräfte des ganzen Menschen hebt und veredelt. Kunsterziehung ist ein wesentlicher Teil der Er¬ ziehung zur Kultur. Und Kultur kann nicht von außen an den Menschen herangebracht werden wie die Fassade an das Mietshaus von 1880, sie muß aus dem Menschen heraus entwickelt werden, alle seine Äußerungen lebendig fördernd durchdringen. Und deshalb muß sie von Jugend auf gepflegt werden. Aus diesen Überlegungen ergibt sich die Forderung der Kunsterziehung in der Schule. Über ihre Ziele wird, wo es noch nicht der Fall ist. bald Einigung herrschen. Sie sind kurz formuliert: möglichst harmonische Ausbildung aller Sinne und damit Erziehung zu künstlerischer Genußfähigkeit, sowie lebendiger und wahrhaftiger Auffassung von Natur und Wirklichkeit; möglichst fördernde Ausbildung künstlerischer Fähigkeiten, also im Zeichnen, Modellieren, Sprechen, Vortragen, Erzählen, in Handfertigkeiten aller Art, usw. Gegen die Forderung, daß auch in der Schule, und gerade hier, energisch auf diese Ziele losgearbeitet werden muß, erhebt sich bei der großen Propaganda, die in allen beteiligten Kreisen gemacht worden ist, kein ernsthafter Einwand mehr. (Die reiche Literatur stellt zusammen I. Richter, „Die Entwicklung des kunsterzieherischen Gedankens," Leipzig 1909.) Auch macht man fast überall recht befriedigende Versuche, den zweiten Hauptpunkt des Programms zu erfüllen. Zeichen- und Nadelarbeitsunterricht sind bedeutend verbessert worden, die Kinder werden, auch in Handfertigkeitskursen, mehr und mehr zum Erfinden, statt zum Kopieren angeleitet (beachtenswerte Winke gibt neuerdings wieder das von L. Pallat und A. Zolles herausgegebene Schriftchen „Aus der Praxis der deutschen Kunsterziehung", Teubner, 1912), und in zehn Jahren werden wir sicher alles erreicht haben, was sich bei unserem gegenwärtigen Schulsystem überhaupt erreichen läßt. Anders steht es mit dem ersten Punkt, der Erziehung zur künstlerischen Genußfähigkeit. Hier erhebt sich herber Zwist, weniger über das Ziel selbst, als über die Methode, es zu erreichen. Daß es einer Methode bedarf, ist selbstverständlich. Ohne Methode, ohne ein bestimmtes Ziel und Klarheit über die einzuschlagenden Wege, bekommen wir nur ein Tippen und Tappen, vielleicht einzelne hübsche Erfolge, doch ohne Nachhaltigkeit und allgemeine Breite der Wirkung. Es fragt sich nur, ob diese Methode uniformiert werden muß, oder ob sie sich nach Ort, Gelegenheit, Lehrer¬ und Schülermaterial zu richten hat. Das erstere fordern die Herbartianer, Rein an der Spitze. Zu ihnen bekennt sich auch die jüngst bei Teubner erschienene Broschüre von Karl Reichhold, „Architektur und Kunsterziehung" (Säemann-Schriften, Heft 3), die uns, als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/366>, abgerufen am 22.07.2024.