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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Bismarcks Stellung zum Auswanderungsproblem

daß die Zeit noch nicht reif war für Hebbel. Ob wir es heute sind, wer will
es wissen? Vielleicht liegt gerade darin die Bedeutung der großen Führer
der Menschheit, daß wir nie ganz reif für sie werden, d. h. daß wir nie voll
das ausschöpfen können, was sie uns gegeben haben. Aber dessen dürfen wir
gewiß sein, daß heute das Hebbelverständnis von Jahr zu Jahr zunimmt.
Eine Vertiefung in seine politische Tätigkeit bedeutet auch darin einen Schritt
vorwärts, und ich meine einen bedeutenden Schritt, weil hier die vielfach als
egoistisch verschrieene Persönlichkeit in ihrem aufrechten, klaren und mannhaften
Eintreten für das Allgemeinwohl uns so sympathisch wird.




Bismarcks Stellung zum Auswanderungsproblem')
v Maximilian von Hagen onin

ismarck war von jeher ein Gegner "jeder Art von Auswanderung".
Ihre "krankhafte Beförderung" in den ersten Jahren des Reiches
hatte er nur mit seiner Unterschrift gedeckt, weil er damals, solange
er Delbrück zum national-ökonomischen Gewissensberater hatte, der
Frage noch nicht die nötige Aufmerksamkeit hatte schenken können.
Ein Deutscher, der sein Vaterland wie einen alten Rock abstreift, hatte für ihn kein
landsmännisches Interesse mehr/") Er sah in seiner Auswanderung einen förmlichen
Verrat am Vaterlande, den er als landsässiger Patriot, dem die Liebe zur Scholle
angeboren war. unbegreiflich finden mußte. Er war darum gar nicht neugierig zu
wissen, wie es Menschen geht, die den Staub des Vaterlandes abgeschüttelt haben/**)
Daß "Landflüchtige" auch noch Schutz und Vertretung ihrer Interessen zu fordern
wagten, empörte seinen männlichen Stolz. Denn er hielt noch 1890 (nach den
Hamburger Nachrichters) die Auswanderung nicht etwa für ein Bedürfnis, sondern
nur für unruhigen Geist, für soziale Unzufriedenheit und echt deutsche Undank¬
barkeit gegen das Vaterland, die Leute, die es lieb hätten, nicht in den Sinn
kommen könne. Seine Intoleranz erklärte sich auch aus seiner mit der da-






") Zur Literatur vgl. außer den allgemeinen Darstellungen zur Geschichte Bismarcks
vor allem: A. Böhtlingk, Bismarck als Narionalökonom, Wirtschafts- und Sozialpolitiker,
Leipzig 1903; G. Brodnitz, Bismarcks nationaökonomische Anschauungen, Jena, 1902;
L. Zeitlin, Fürst Bismarcks sozial-, Wirtschafts- und steuerpolitische Anschauungen, Leipzig 1902;
K. Herrfurth, Fürst Bismarck und die Kolonialpolitik, Berlin 1909.
**) Reden (Ausgabe von Kohl) X 208.
***) Poschinger, Bismarck-Portefeuille l 23.
1') Penzler, Fürst Bismarck nach seiner Entlassung l 42.
Bismarcks Stellung zum Auswanderungsproblem

daß die Zeit noch nicht reif war für Hebbel. Ob wir es heute sind, wer will
es wissen? Vielleicht liegt gerade darin die Bedeutung der großen Führer
der Menschheit, daß wir nie ganz reif für sie werden, d. h. daß wir nie voll
das ausschöpfen können, was sie uns gegeben haben. Aber dessen dürfen wir
gewiß sein, daß heute das Hebbelverständnis von Jahr zu Jahr zunimmt.
Eine Vertiefung in seine politische Tätigkeit bedeutet auch darin einen Schritt
vorwärts, und ich meine einen bedeutenden Schritt, weil hier die vielfach als
egoistisch verschrieene Persönlichkeit in ihrem aufrechten, klaren und mannhaften
Eintreten für das Allgemeinwohl uns so sympathisch wird.




Bismarcks Stellung zum Auswanderungsproblem')
v Maximilian von Hagen onin

ismarck war von jeher ein Gegner „jeder Art von Auswanderung".
Ihre „krankhafte Beförderung" in den ersten Jahren des Reiches
hatte er nur mit seiner Unterschrift gedeckt, weil er damals, solange
er Delbrück zum national-ökonomischen Gewissensberater hatte, der
Frage noch nicht die nötige Aufmerksamkeit hatte schenken können.
Ein Deutscher, der sein Vaterland wie einen alten Rock abstreift, hatte für ihn kein
landsmännisches Interesse mehr/") Er sah in seiner Auswanderung einen förmlichen
Verrat am Vaterlande, den er als landsässiger Patriot, dem die Liebe zur Scholle
angeboren war. unbegreiflich finden mußte. Er war darum gar nicht neugierig zu
wissen, wie es Menschen geht, die den Staub des Vaterlandes abgeschüttelt haben/**)
Daß „Landflüchtige" auch noch Schutz und Vertretung ihrer Interessen zu fordern
wagten, empörte seinen männlichen Stolz. Denn er hielt noch 1890 (nach den
Hamburger Nachrichters) die Auswanderung nicht etwa für ein Bedürfnis, sondern
nur für unruhigen Geist, für soziale Unzufriedenheit und echt deutsche Undank¬
barkeit gegen das Vaterland, die Leute, die es lieb hätten, nicht in den Sinn
kommen könne. Seine Intoleranz erklärte sich auch aus seiner mit der da-






") Zur Literatur vgl. außer den allgemeinen Darstellungen zur Geschichte Bismarcks
vor allem: A. Böhtlingk, Bismarck als Narionalökonom, Wirtschafts- und Sozialpolitiker,
Leipzig 1903; G. Brodnitz, Bismarcks nationaökonomische Anschauungen, Jena, 1902;
L. Zeitlin, Fürst Bismarcks sozial-, Wirtschafts- und steuerpolitische Anschauungen, Leipzig 1902;
K. Herrfurth, Fürst Bismarck und die Kolonialpolitik, Berlin 1909.
**) Reden (Ausgabe von Kohl) X 208.
***) Poschinger, Bismarck-Portefeuille l 23.
1') Penzler, Fürst Bismarck nach seiner Entlassung l 42.
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[0036] Bismarcks Stellung zum Auswanderungsproblem daß die Zeit noch nicht reif war für Hebbel. Ob wir es heute sind, wer will es wissen? Vielleicht liegt gerade darin die Bedeutung der großen Führer der Menschheit, daß wir nie ganz reif für sie werden, d. h. daß wir nie voll das ausschöpfen können, was sie uns gegeben haben. Aber dessen dürfen wir gewiß sein, daß heute das Hebbelverständnis von Jahr zu Jahr zunimmt. Eine Vertiefung in seine politische Tätigkeit bedeutet auch darin einen Schritt vorwärts, und ich meine einen bedeutenden Schritt, weil hier die vielfach als egoistisch verschrieene Persönlichkeit in ihrem aufrechten, klaren und mannhaften Eintreten für das Allgemeinwohl uns so sympathisch wird. Bismarcks Stellung zum Auswanderungsproblem') v Maximilian von Hagen onin ismarck war von jeher ein Gegner „jeder Art von Auswanderung". Ihre „krankhafte Beförderung" in den ersten Jahren des Reiches hatte er nur mit seiner Unterschrift gedeckt, weil er damals, solange er Delbrück zum national-ökonomischen Gewissensberater hatte, der Frage noch nicht die nötige Aufmerksamkeit hatte schenken können. Ein Deutscher, der sein Vaterland wie einen alten Rock abstreift, hatte für ihn kein landsmännisches Interesse mehr/") Er sah in seiner Auswanderung einen förmlichen Verrat am Vaterlande, den er als landsässiger Patriot, dem die Liebe zur Scholle angeboren war. unbegreiflich finden mußte. Er war darum gar nicht neugierig zu wissen, wie es Menschen geht, die den Staub des Vaterlandes abgeschüttelt haben/**) Daß „Landflüchtige" auch noch Schutz und Vertretung ihrer Interessen zu fordern wagten, empörte seinen männlichen Stolz. Denn er hielt noch 1890 (nach den Hamburger Nachrichters) die Auswanderung nicht etwa für ein Bedürfnis, sondern nur für unruhigen Geist, für soziale Unzufriedenheit und echt deutsche Undank¬ barkeit gegen das Vaterland, die Leute, die es lieb hätten, nicht in den Sinn kommen könne. Seine Intoleranz erklärte sich auch aus seiner mit der da- ") Zur Literatur vgl. außer den allgemeinen Darstellungen zur Geschichte Bismarcks vor allem: A. Böhtlingk, Bismarck als Narionalökonom, Wirtschafts- und Sozialpolitiker, Leipzig 1903; G. Brodnitz, Bismarcks nationaökonomische Anschauungen, Jena, 1902; L. Zeitlin, Fürst Bismarcks sozial-, Wirtschafts- und steuerpolitische Anschauungen, Leipzig 1902; K. Herrfurth, Fürst Bismarck und die Kolonialpolitik, Berlin 1909. **) Reden (Ausgabe von Kohl) X 208. ***) Poschinger, Bismarck-Portefeuille l 23. 1') Penzler, Fürst Bismarck nach seiner Entlassung l 42.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/36>, abgerufen am 04.07.2024.