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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Arbeiter als literarische Kritiker

Frau ohne jede Erklärung läßt und diese in blindem Vertrauen zu
ihm aussieht wie zu einem Gott, wächst Apollonius ins Übermensch¬
liche, Und das wäre dann die Erklärung für den Schluß, den Otto
Ludwig gefunden hat. Er läßt Apollonius zu einer Jdealgestalt heran¬
wachsen, und zeigt uns mit ihm, nicht wie ein Mensch ist, sondern wie ein
Mensch sein müßte. Er nennt ihn nicht umsonst den "Federchensucher". Wie
dieser nicht die kleinste Unordnung u. Unsauberkeit an sich und seiner Um¬
gebung duldet, so muß auch seine Seele frei sein von jedem Stäubchen von
Schuld. Wahrhaftig u. selbstlos war sein ganzes Handeln. Wäre der Bruder
freiwillig, ohne sein Wissen in den Tod gegangen, hätte er sicher um Christiane
gefreit. So aber hielt er einen Augenblick seines Bruders Leben in der Hand.
Der Gedanke, der ihn dabei durchzuckte, daß durch des Bruders Tod das Weib
frei, für ihn erreichbar wurde, diese Schuld läßt keinen anderen Schluß zu, wenn
Apollonius der bleiben soll, der er durch die ganze Erzählung hindurch war;
ein Mensch, der sich seinen Himmel, d. h. seinen Seelenfrieden errungen hat.

JdaL.

Dieser Aufsatz, den ich für den besten halte, ist von einer sehr begabten
Heimarbeiterin geschrieben, die viel gelesen hat. Sie hat ganz Kar den
Helden als Jdealgestalt erfaßt und daß seine Schuld erst zur Schuld wird, wenn
er die Witwe des Bruders heiratet: dann haben seine bösen Begierden den
Unglücklichen in den Tod getrieben; der Himmel auf Erden aber ist der Seelenfrieden,
sei er auch durch die schwerste Entsagung erkauft.

Die verschiedene Auffassung des Themas in den ausgewählten Beispielen
beweist wohl am besten, daß von einer Beeinflussung durch den Kursleiter hier
nicht die Rede sein kann. Die Verfasser dieser Aufsätze sind meist organisierte Arbeiter
und stehen durchaus nicht über dem Durchschnitt der Kursteilnehmer im all¬
gemeinen. -- In ihrer mehr oder weniger gewandten Form zeigen sie alle,
daß, bei allen bestehenden Gegensätzen, in der Beschäftigung mit den Meister¬
werken der Literatur, in jeder gemeinsamen geistigen Arbeit überhaupt, den
Arbeitern nicht nur Belehrung, nicht nur ein intellektueller Genuß, sondern auch
Anteil am geistigen Leben gegeben werden kann, das über allen politischen und
sozialen Grenzen eine größere, kulturelle Einheit schafft. Es ist auf diesem
Felde noch unendlich viel zu tun; niemand, der auch nur wenige Abendstunden
dieser Art sozialer Arbeit widmet, wird enttäuscht werden; es liegen im Arbeiter¬
stand noch viele Kräfte brach, die, einmal zur Mitarbeit geweckt, der fort¬
schreitenden Materialisierung und Mechanisierung der Zeit entgegenwirken können.
Die Jugend aber, die einen Teil ihrer Kraft in den Dienst dieses Zieles stellt,
wird eine tiefere Kenntnis der entscheidenden Probleme als bisher ins Leben
und den politischen Kampf hinausnehmen. ^




Arbeiter als literarische Kritiker

Frau ohne jede Erklärung läßt und diese in blindem Vertrauen zu
ihm aussieht wie zu einem Gott, wächst Apollonius ins Übermensch¬
liche, Und das wäre dann die Erklärung für den Schluß, den Otto
Ludwig gefunden hat. Er läßt Apollonius zu einer Jdealgestalt heran¬
wachsen, und zeigt uns mit ihm, nicht wie ein Mensch ist, sondern wie ein
Mensch sein müßte. Er nennt ihn nicht umsonst den „Federchensucher". Wie
dieser nicht die kleinste Unordnung u. Unsauberkeit an sich und seiner Um¬
gebung duldet, so muß auch seine Seele frei sein von jedem Stäubchen von
Schuld. Wahrhaftig u. selbstlos war sein ganzes Handeln. Wäre der Bruder
freiwillig, ohne sein Wissen in den Tod gegangen, hätte er sicher um Christiane
gefreit. So aber hielt er einen Augenblick seines Bruders Leben in der Hand.
Der Gedanke, der ihn dabei durchzuckte, daß durch des Bruders Tod das Weib
frei, für ihn erreichbar wurde, diese Schuld läßt keinen anderen Schluß zu, wenn
Apollonius der bleiben soll, der er durch die ganze Erzählung hindurch war;
ein Mensch, der sich seinen Himmel, d. h. seinen Seelenfrieden errungen hat.

JdaL.

Dieser Aufsatz, den ich für den besten halte, ist von einer sehr begabten
Heimarbeiterin geschrieben, die viel gelesen hat. Sie hat ganz Kar den
Helden als Jdealgestalt erfaßt und daß seine Schuld erst zur Schuld wird, wenn
er die Witwe des Bruders heiratet: dann haben seine bösen Begierden den
Unglücklichen in den Tod getrieben; der Himmel auf Erden aber ist der Seelenfrieden,
sei er auch durch die schwerste Entsagung erkauft.

Die verschiedene Auffassung des Themas in den ausgewählten Beispielen
beweist wohl am besten, daß von einer Beeinflussung durch den Kursleiter hier
nicht die Rede sein kann. Die Verfasser dieser Aufsätze sind meist organisierte Arbeiter
und stehen durchaus nicht über dem Durchschnitt der Kursteilnehmer im all¬
gemeinen. — In ihrer mehr oder weniger gewandten Form zeigen sie alle,
daß, bei allen bestehenden Gegensätzen, in der Beschäftigung mit den Meister¬
werken der Literatur, in jeder gemeinsamen geistigen Arbeit überhaupt, den
Arbeitern nicht nur Belehrung, nicht nur ein intellektueller Genuß, sondern auch
Anteil am geistigen Leben gegeben werden kann, das über allen politischen und
sozialen Grenzen eine größere, kulturelle Einheit schafft. Es ist auf diesem
Felde noch unendlich viel zu tun; niemand, der auch nur wenige Abendstunden
dieser Art sozialer Arbeit widmet, wird enttäuscht werden; es liegen im Arbeiter¬
stand noch viele Kräfte brach, die, einmal zur Mitarbeit geweckt, der fort¬
schreitenden Materialisierung und Mechanisierung der Zeit entgegenwirken können.
Die Jugend aber, die einen Teil ihrer Kraft in den Dienst dieses Zieles stellt,
wird eine tiefere Kenntnis der entscheidenden Probleme als bisher ins Leben
und den politischen Kampf hinausnehmen. ^




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[0332] Arbeiter als literarische Kritiker Frau ohne jede Erklärung läßt und diese in blindem Vertrauen zu ihm aussieht wie zu einem Gott, wächst Apollonius ins Übermensch¬ liche, Und das wäre dann die Erklärung für den Schluß, den Otto Ludwig gefunden hat. Er läßt Apollonius zu einer Jdealgestalt heran¬ wachsen, und zeigt uns mit ihm, nicht wie ein Mensch ist, sondern wie ein Mensch sein müßte. Er nennt ihn nicht umsonst den „Federchensucher". Wie dieser nicht die kleinste Unordnung u. Unsauberkeit an sich und seiner Um¬ gebung duldet, so muß auch seine Seele frei sein von jedem Stäubchen von Schuld. Wahrhaftig u. selbstlos war sein ganzes Handeln. Wäre der Bruder freiwillig, ohne sein Wissen in den Tod gegangen, hätte er sicher um Christiane gefreit. So aber hielt er einen Augenblick seines Bruders Leben in der Hand. Der Gedanke, der ihn dabei durchzuckte, daß durch des Bruders Tod das Weib frei, für ihn erreichbar wurde, diese Schuld läßt keinen anderen Schluß zu, wenn Apollonius der bleiben soll, der er durch die ganze Erzählung hindurch war; ein Mensch, der sich seinen Himmel, d. h. seinen Seelenfrieden errungen hat. JdaL. Dieser Aufsatz, den ich für den besten halte, ist von einer sehr begabten Heimarbeiterin geschrieben, die viel gelesen hat. Sie hat ganz Kar den Helden als Jdealgestalt erfaßt und daß seine Schuld erst zur Schuld wird, wenn er die Witwe des Bruders heiratet: dann haben seine bösen Begierden den Unglücklichen in den Tod getrieben; der Himmel auf Erden aber ist der Seelenfrieden, sei er auch durch die schwerste Entsagung erkauft. Die verschiedene Auffassung des Themas in den ausgewählten Beispielen beweist wohl am besten, daß von einer Beeinflussung durch den Kursleiter hier nicht die Rede sein kann. Die Verfasser dieser Aufsätze sind meist organisierte Arbeiter und stehen durchaus nicht über dem Durchschnitt der Kursteilnehmer im all¬ gemeinen. — In ihrer mehr oder weniger gewandten Form zeigen sie alle, daß, bei allen bestehenden Gegensätzen, in der Beschäftigung mit den Meister¬ werken der Literatur, in jeder gemeinsamen geistigen Arbeit überhaupt, den Arbeitern nicht nur Belehrung, nicht nur ein intellektueller Genuß, sondern auch Anteil am geistigen Leben gegeben werden kann, das über allen politischen und sozialen Grenzen eine größere, kulturelle Einheit schafft. Es ist auf diesem Felde noch unendlich viel zu tun; niemand, der auch nur wenige Abendstunden dieser Art sozialer Arbeit widmet, wird enttäuscht werden; es liegen im Arbeiter¬ stand noch viele Kräfte brach, die, einmal zur Mitarbeit geweckt, der fort¬ schreitenden Materialisierung und Mechanisierung der Zeit entgegenwirken können. Die Jugend aber, die einen Teil ihrer Kraft in den Dienst dieses Zieles stellt, wird eine tiefere Kenntnis der entscheidenden Probleme als bisher ins Leben und den politischen Kampf hinausnehmen. ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/332>, abgerufen am 22.12.2024.