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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Arbeiter als literarische Kritiker

süchtige steht etwas, was nicht vorhanden ist; er steht Gespenster. So
ist es auch bei Fritz N. Seine Eifersucht wird von Tag zu Tag
heftiger. Es ist nun ganz naturgemäß daß die quälenden Gedanken der
Eifersucht das Gehirn des Fritz N. in Unordnung gebracht haben. Die Geistes¬
krankheit bricht aus. Von der Stunde an, wo Fritz N. den verbrecherischen
Gedanken faßte, den Bruder aus dem Wege zu räumen, hört er für uns auf
ein geistig normaler Mensch zu sein. Soll das alles den klugen, gewissenhaften
und umsichtigen A. verborgen geblieben sein. Mußte er sich nach dem Tode
des Bruders nicht fragen Hast Du alles versucht, um den Bruder zu retten?
Hat nicht die Möglichkeit einer Geisteskrankheit vorgelegen? Unter Heran¬
ziehung dieses Gesichtspunktes wird uns der Ausgang der Handlung verständ¬
licher. Ludwig mag nicht so gedacht haben, darauf kommt es aber garnicht
an. Der Dichter schafft nicht mit dem kalten Verstände, er schafft mit dem
warmen Gemüt und der Phantasie. Der echte Dichter fühlt nur, was er will.
Deshalb braucht der Dichter, während er fein Werk schuf, an vieles nicht
gedacht haben, was aber trotzdem darinnen steckt. Im vergangenen Deutsch V
Kursus ist es uns ja gelehrt worden, daß die Dichtkunst sich weniger an den
Verstand, sondern in erster Linie an das Gemüt und die Phantasie wendet.
Nicht jeder, der lesen gelernt hat versteht deshalb auch zu lesen. Das Wort
im Faust: "Halb sind sie kalt, halb sind sie roh" findet wohl auf die meisten
Leser Anwendung.

Um den A. psychologisch -- seine Handlung -- zu verstehen, lassen sich
natürlich noch andere Gründe ins Feld führen; ich aber halte den oben
Gustav M. angeführten für den stärksten.

Die Mottvierung der Schuld durch die angenommene Geisteskrankheit und
die Verteidigung dieser Konstruktion durch die Ansicht, der Dichter könne vieles,
was er und seine Zeit noch nicht wissen, doch schon intuitio schauen und in
sein Werk hineinlegen, ist sehr fein. Die Auffassung von der Pflicht des Lesers,
der diesen verborgenen Schätzen nachzugehen habe, wird selbst unter den "Ge¬
bildeten" nicht die allgemeine sein: hier zeigt sich die Ehrfurcht vor der geistigen
Arbeit, die man bei intelligenten Arbeitern sehr oft findet.


5. Gibt es zu Otto Ludwigs Erzählung: "Zwischen Himmel und Erde"
eine andere Schlußmöglichkeit?

Im ersten Augenblick war ich unbedingt der Meinung, daß der Schluß
hätte ein anderer sein müssen. Vom menschlichen Standpunkt aus ist es wider¬
natürlich, daß zwei Menschen, die sich lieben und durch die Schuld eines
Anderen auseinander gedrängt werden, jetzt, nach Beseitigung aller Hindernisse,
den Weg zueinander nicht finden können. Die Schuld des Apollonius, wenn
eine solche überhaupt da war, ist durch sein ganzes Tun u. Handeln vollauf
bezahlt. Er ist es Christiane schuldig sie zu heiraten, denn sie glaubt
an ihn u. vertraut ihm. Wenn er es dann doch nicht tut u. die


Arbeiter als literarische Kritiker

süchtige steht etwas, was nicht vorhanden ist; er steht Gespenster. So
ist es auch bei Fritz N. Seine Eifersucht wird von Tag zu Tag
heftiger. Es ist nun ganz naturgemäß daß die quälenden Gedanken der
Eifersucht das Gehirn des Fritz N. in Unordnung gebracht haben. Die Geistes¬
krankheit bricht aus. Von der Stunde an, wo Fritz N. den verbrecherischen
Gedanken faßte, den Bruder aus dem Wege zu räumen, hört er für uns auf
ein geistig normaler Mensch zu sein. Soll das alles den klugen, gewissenhaften
und umsichtigen A. verborgen geblieben sein. Mußte er sich nach dem Tode
des Bruders nicht fragen Hast Du alles versucht, um den Bruder zu retten?
Hat nicht die Möglichkeit einer Geisteskrankheit vorgelegen? Unter Heran¬
ziehung dieses Gesichtspunktes wird uns der Ausgang der Handlung verständ¬
licher. Ludwig mag nicht so gedacht haben, darauf kommt es aber garnicht
an. Der Dichter schafft nicht mit dem kalten Verstände, er schafft mit dem
warmen Gemüt und der Phantasie. Der echte Dichter fühlt nur, was er will.
Deshalb braucht der Dichter, während er fein Werk schuf, an vieles nicht
gedacht haben, was aber trotzdem darinnen steckt. Im vergangenen Deutsch V
Kursus ist es uns ja gelehrt worden, daß die Dichtkunst sich weniger an den
Verstand, sondern in erster Linie an das Gemüt und die Phantasie wendet.
Nicht jeder, der lesen gelernt hat versteht deshalb auch zu lesen. Das Wort
im Faust: „Halb sind sie kalt, halb sind sie roh" findet wohl auf die meisten
Leser Anwendung.

Um den A. psychologisch — seine Handlung — zu verstehen, lassen sich
natürlich noch andere Gründe ins Feld führen; ich aber halte den oben
Gustav M. angeführten für den stärksten.

Die Mottvierung der Schuld durch die angenommene Geisteskrankheit und
die Verteidigung dieser Konstruktion durch die Ansicht, der Dichter könne vieles,
was er und seine Zeit noch nicht wissen, doch schon intuitio schauen und in
sein Werk hineinlegen, ist sehr fein. Die Auffassung von der Pflicht des Lesers,
der diesen verborgenen Schätzen nachzugehen habe, wird selbst unter den „Ge¬
bildeten" nicht die allgemeine sein: hier zeigt sich die Ehrfurcht vor der geistigen
Arbeit, die man bei intelligenten Arbeitern sehr oft findet.


5. Gibt es zu Otto Ludwigs Erzählung: „Zwischen Himmel und Erde"
eine andere Schlußmöglichkeit?

Im ersten Augenblick war ich unbedingt der Meinung, daß der Schluß
hätte ein anderer sein müssen. Vom menschlichen Standpunkt aus ist es wider¬
natürlich, daß zwei Menschen, die sich lieben und durch die Schuld eines
Anderen auseinander gedrängt werden, jetzt, nach Beseitigung aller Hindernisse,
den Weg zueinander nicht finden können. Die Schuld des Apollonius, wenn
eine solche überhaupt da war, ist durch sein ganzes Tun u. Handeln vollauf
bezahlt. Er ist es Christiane schuldig sie zu heiraten, denn sie glaubt
an ihn u. vertraut ihm. Wenn er es dann doch nicht tut u. die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/331>, abgerufen am 03.07.2024.