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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Briefe aus Trebeldorf

"Geerter Herr Cohnrektor!

Paul mus pahr Wochen Fehlen in Schulen, er is von einen wagen
Gesprungen, liegt nu ins Bett, er hat einen Knochen ins Linke dein.


es grüst Hinrich Ewert."

Kein eigentlicher Brief ist es. Unbeholfen und mühsam gekritzelt stehen
da die linkischer Schriftzeichen auf einem von einem Steuerzettel oder einer
Rechnung abgetrennten Blatt. Unten links ist ein runder Fettfleck. Es ist
nichts Schönes, und doch heften sich meine Augen immer und immer wieder
auf den Zettel.

Was mochte dem kleinen Paul fehlen?

Heute habe ich mich, wie ich zu tun pflege, in die Wohnung des Kranken
begeben.

Und da war das Idyll.

Ich stapfe in der Dämmerstunde durch eine der kümmerlich schmalen und
holperigen Seitengassen. Die Hausnummern sind alle vom Regen verwaschen,
und mit Mühe nur finde ich in der gleichförmigen Reihe das graue, einstöckige
Häuschen, in dem mein Patient liegt. Ich lausche erst draußen. -- Kein
Laut. -- Traulich schimmert durch die herzförmig geschnittenen kleinen Öffnungen
oben in den grünen Fensterladen ein Lichtschein.

Ich trete über die Türschwelle. Die Haustürglocke bimmelt laut über den
weiten, spärlich erhellten Flur, der mit roten Mauersteinen gepflastert ist. Ein
zottiger Hund springt mir blaffend entgegen.

Aus der Stube schilt eine kräftige Männerstimme: "Ruhig, Schnauzel.
ruhig! -- Verbannter Köter!"

Ich klopfe an die Tür.

"Herein!"

In dem engen Raum ist wenig Licht, aber es durchströmt ihn eine mollige
Wärme. Eine echte und rechte Bauernstube. Der Fußboden mit weißem
Sande bestreut.

Auf dem weiß gescheuerten Tisch brennt mit kleiner Flamme eine sauber
geputzte messingene Stangenlampe. Dahinter, mit dem Rücken hart an der
Wand, sitzt auf hochlehniger Holzbank die Hausmutter. Sie flickt an einem
großen Laken. Neben ihr zur Seite des braunen Kachelofens passt in dem
ehrwürdigen Lehnstuhl mit den zwei großen Ohren Vater Ewert gemütlich aus
seiner kurzen Pfeife.

An der linken Seite des Tisches stopft, über die Arbeit gebeugt, ein junges
Mädchen an einem grauen, langschaftigen Strumpf.

Neugierig und unsicher lugt hinter der Lampe hervor die Mutter auf den
eintretenden Fremdling. Der Vater nimmt für einen Augenblick die Pfeife
aus dem Munde. Auch die Tochter schaut von ihrer Arbeit zu mir auf.


Briefe aus Trebeldorf

„Geerter Herr Cohnrektor!

Paul mus pahr Wochen Fehlen in Schulen, er is von einen wagen
Gesprungen, liegt nu ins Bett, er hat einen Knochen ins Linke dein.


es grüst Hinrich Ewert."

Kein eigentlicher Brief ist es. Unbeholfen und mühsam gekritzelt stehen
da die linkischer Schriftzeichen auf einem von einem Steuerzettel oder einer
Rechnung abgetrennten Blatt. Unten links ist ein runder Fettfleck. Es ist
nichts Schönes, und doch heften sich meine Augen immer und immer wieder
auf den Zettel.

Was mochte dem kleinen Paul fehlen?

Heute habe ich mich, wie ich zu tun pflege, in die Wohnung des Kranken
begeben.

Und da war das Idyll.

Ich stapfe in der Dämmerstunde durch eine der kümmerlich schmalen und
holperigen Seitengassen. Die Hausnummern sind alle vom Regen verwaschen,
und mit Mühe nur finde ich in der gleichförmigen Reihe das graue, einstöckige
Häuschen, in dem mein Patient liegt. Ich lausche erst draußen. — Kein
Laut. — Traulich schimmert durch die herzförmig geschnittenen kleinen Öffnungen
oben in den grünen Fensterladen ein Lichtschein.

Ich trete über die Türschwelle. Die Haustürglocke bimmelt laut über den
weiten, spärlich erhellten Flur, der mit roten Mauersteinen gepflastert ist. Ein
zottiger Hund springt mir blaffend entgegen.

Aus der Stube schilt eine kräftige Männerstimme: „Ruhig, Schnauzel.
ruhig! — Verbannter Köter!"

Ich klopfe an die Tür.

„Herein!"

In dem engen Raum ist wenig Licht, aber es durchströmt ihn eine mollige
Wärme. Eine echte und rechte Bauernstube. Der Fußboden mit weißem
Sande bestreut.

Auf dem weiß gescheuerten Tisch brennt mit kleiner Flamme eine sauber
geputzte messingene Stangenlampe. Dahinter, mit dem Rücken hart an der
Wand, sitzt auf hochlehniger Holzbank die Hausmutter. Sie flickt an einem
großen Laken. Neben ihr zur Seite des braunen Kachelofens passt in dem
ehrwürdigen Lehnstuhl mit den zwei großen Ohren Vater Ewert gemütlich aus
seiner kurzen Pfeife.

An der linken Seite des Tisches stopft, über die Arbeit gebeugt, ein junges
Mädchen an einem grauen, langschaftigen Strumpf.

Neugierig und unsicher lugt hinter der Lampe hervor die Mutter auf den
eintretenden Fremdling. Der Vater nimmt für einen Augenblick die Pfeife
aus dem Munde. Auch die Tochter schaut von ihrer Arbeit zu mir auf.


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[0286] Briefe aus Trebeldorf „Geerter Herr Cohnrektor! Paul mus pahr Wochen Fehlen in Schulen, er is von einen wagen Gesprungen, liegt nu ins Bett, er hat einen Knochen ins Linke dein. es grüst Hinrich Ewert." Kein eigentlicher Brief ist es. Unbeholfen und mühsam gekritzelt stehen da die linkischer Schriftzeichen auf einem von einem Steuerzettel oder einer Rechnung abgetrennten Blatt. Unten links ist ein runder Fettfleck. Es ist nichts Schönes, und doch heften sich meine Augen immer und immer wieder auf den Zettel. Was mochte dem kleinen Paul fehlen? Heute habe ich mich, wie ich zu tun pflege, in die Wohnung des Kranken begeben. Und da war das Idyll. Ich stapfe in der Dämmerstunde durch eine der kümmerlich schmalen und holperigen Seitengassen. Die Hausnummern sind alle vom Regen verwaschen, und mit Mühe nur finde ich in der gleichförmigen Reihe das graue, einstöckige Häuschen, in dem mein Patient liegt. Ich lausche erst draußen. — Kein Laut. — Traulich schimmert durch die herzförmig geschnittenen kleinen Öffnungen oben in den grünen Fensterladen ein Lichtschein. Ich trete über die Türschwelle. Die Haustürglocke bimmelt laut über den weiten, spärlich erhellten Flur, der mit roten Mauersteinen gepflastert ist. Ein zottiger Hund springt mir blaffend entgegen. Aus der Stube schilt eine kräftige Männerstimme: „Ruhig, Schnauzel. ruhig! — Verbannter Köter!" Ich klopfe an die Tür. „Herein!" In dem engen Raum ist wenig Licht, aber es durchströmt ihn eine mollige Wärme. Eine echte und rechte Bauernstube. Der Fußboden mit weißem Sande bestreut. Auf dem weiß gescheuerten Tisch brennt mit kleiner Flamme eine sauber geputzte messingene Stangenlampe. Dahinter, mit dem Rücken hart an der Wand, sitzt auf hochlehniger Holzbank die Hausmutter. Sie flickt an einem großen Laken. Neben ihr zur Seite des braunen Kachelofens passt in dem ehrwürdigen Lehnstuhl mit den zwei großen Ohren Vater Ewert gemütlich aus seiner kurzen Pfeife. An der linken Seite des Tisches stopft, über die Arbeit gebeugt, ein junges Mädchen an einem grauen, langschaftigen Strumpf. Neugierig und unsicher lugt hinter der Lampe hervor die Mutter auf den eintretenden Fremdling. Der Vater nimmt für einen Augenblick die Pfeife aus dem Munde. Auch die Tochter schaut von ihrer Arbeit zu mir auf.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/286>, abgerufen am 22.12.2024.