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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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bestimmten, ihnen allen gemeinsamen Psycho-
physischen Mechanismus zu erklären, und
glaubte mit der Aufdeckung des Entstehungs¬
vorganges dieser Leiden zugleich einen neuen
Weg der Heilung gefunden zu haben. Wäh¬
rend im allgemeinen für die ärztliche Wissen¬
schaft, wie für die Wissenschaft überhaupt die
Persönliche Färbung und subjektive Aus¬
gestaltung der einzelnen Krankheitszeichen un¬
wesentlich ist, und die Erkennung des Krank¬
heitstypus sowie die allgemeinen Verlaufsregeln
der Krankheit im Vordergrund des ärztlichen
Interesses stehen, sucht Freud die psychologische
Entstehung jeder einzelnen individuellen
Krankheitsäußerung und ihre möglicherweise
bis ins Säuglingsalter zurückreichende indi¬
viduelle Psychische Ursachenkette zu ergründen.
Nach seiner Überzeugung sind alle nervösen
Krankheitserscheinungen einschließlich gewisser
Formen von Geistesstörung, kurz gesagt, nur
die Folge von irgendwelchen persönlichen,
vergessenen und ins Unbewußte "verdrängten"
Erlebnissen, deren Gefühlserregungen aber
noch nachzittern, weil sie damals nicht ge¬
nügend ausgeglichen, "ckbreagiert" wurden.
Dieser somit gewissermaßen "eingeklemmte"
Affekirest kann nun späterhin unter allen
möglichen veränderten Formen und Maskie¬
rungen als seelisches oder körperliches Krank¬
heitssymptom zum Vorschein kommen. Um
ein Beispiel zu geben, könnte etwa eine in
der Kindheit unterdrückte Abscheu bei gewissen
irgendwie daran anklingenden Gelegenheiten
immer wieder als nervöser Magenschmerz
und Erbrechen seinen verwandelten Ausdruck
finden.

So verlockend in der hier gegebenen Dar¬
stellung der Jdeengang und das Ziel des
Forschers erscheint, und so bestechend sie auch
auf viele Kranke wirken muß, so zeigt sich bei
tieferem wissenschaftlichen Eingehen auf die
Freudsche Theorie bald, daß der wirkliche
Zusammenhang seelischer Vorgänge bei Ge¬
sunden wie Kranken und daß das Wechsel¬
verhältnis zwischen psychischen Erlebnissen
und körperlichen Erscheinungen doch weit ver¬
wickelter, vieldeutiger und undurchdringlicher
ist, als es nach den obigen, auf einer un¬
haltbaren Assoziationspsychologie gestützten
Annahme Freuds und seiner Schule erscheinen
könnte.

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Freud selbst mußte, um die Entstehung
der verschiedenartigen nervösen Krankheits¬
erscheinungen auf seine Art zu erklären, zahl¬
reiche ganz verwickelte HilfsHypothesen und
Interpretationen heranziehen. Da die ersten
Anlässe und vermeintlichen Quellen der Leiden
den Kranken selbst fast immer nicht bekannt
oder bewußt sind, von ihnen bisweilen auch
nur widerstrebend preisgegeben werden, und
da sie nach Freud oft bis in die Zeit der
dunklen frühesten Kindheit zurückreichen, ver¬
suchte er in der ersten Zeit seiner For¬
schung, damals gemeinsam mit seinem Kollegen
Breuer, durch Befragen in tiefer Hypnose die
Ursprünge ausfindig zu machen und ließ
dabei zum Zwecke der Heilung den Patienten
die damaligen Szenen neu durchleben und "ab¬
reagieren". Da sich ein solches Verfahren nur
selten anwenden ließ, zog er später andere
Hilfsmittel zu diesem Zwecke heran, wie die
Zergliederung der Einfälle, die dem Kranken
bei gedankenlosem Hinträumen mit geschlosse¬
nen Augen zuströmen, im besonderen Maße
auch die Analyse und Deutung der Träume
sowie die sogenannten AssoziationSexPerimente.
Es ist leicht einzusehen, daß eine große
Kombinationsgabe des Untersuchers dazu
gehört, nur in jedem Einzelfall zwischen den
Trnuincrinnerungen und anderen Anklängen
aus dem Unbewußten einerseits und den
gegenwärtigen Symptomen anderseits die
zutreffende erklärende Verbindung herzustellen,
und daß bei der Unkontrollierbarkeit der un¬
bewußten Vorgänge der Phantasie dabei der
weiteste Spielraum gelassen ist. Hiervon
haben nun auch Freud und mehr noch einige
seiner Schüler den freigiebigsten Gebrauch
gemacht, und viele ihrer Ausdeutungen --
denn das sind sie -- fordern nicht nur die
scharfe Kritik, sondern bisweilen geradezu den
Spott des unbefangenen Lesers heraus. In
der Entstehungsgeschichte der Symptome
spielen nach Freud die schon beim Säugling
angeblich vorhandenen erotischen Lustgefühle
und deren spätere Verdrängung und Ver¬
wandlung die größte Rolle. Ungeachtet
manches treffenden Hinweises haben die An¬
hänger Freuds mit ihren teils sehr bedenk¬
lichen, teils lächerlichen Übertreibungen und
Phantasien gerade auf diesem Gebiete die
heftigste Feindschaft erfahren; freilich auch auf

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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bestimmten, ihnen allen gemeinsamen Psycho-
physischen Mechanismus zu erklären, und
glaubte mit der Aufdeckung des Entstehungs¬
vorganges dieser Leiden zugleich einen neuen
Weg der Heilung gefunden zu haben. Wäh¬
rend im allgemeinen für die ärztliche Wissen¬
schaft, wie für die Wissenschaft überhaupt die
Persönliche Färbung und subjektive Aus¬
gestaltung der einzelnen Krankheitszeichen un¬
wesentlich ist, und die Erkennung des Krank¬
heitstypus sowie die allgemeinen Verlaufsregeln
der Krankheit im Vordergrund des ärztlichen
Interesses stehen, sucht Freud die psychologische
Entstehung jeder einzelnen individuellen
Krankheitsäußerung und ihre möglicherweise
bis ins Säuglingsalter zurückreichende indi¬
viduelle Psychische Ursachenkette zu ergründen.
Nach seiner Überzeugung sind alle nervösen
Krankheitserscheinungen einschließlich gewisser
Formen von Geistesstörung, kurz gesagt, nur
die Folge von irgendwelchen persönlichen,
vergessenen und ins Unbewußte „verdrängten"
Erlebnissen, deren Gefühlserregungen aber
noch nachzittern, weil sie damals nicht ge¬
nügend ausgeglichen, „ckbreagiert" wurden.
Dieser somit gewissermaßen „eingeklemmte"
Affekirest kann nun späterhin unter allen
möglichen veränderten Formen und Maskie¬
rungen als seelisches oder körperliches Krank¬
heitssymptom zum Vorschein kommen. Um
ein Beispiel zu geben, könnte etwa eine in
der Kindheit unterdrückte Abscheu bei gewissen
irgendwie daran anklingenden Gelegenheiten
immer wieder als nervöser Magenschmerz
und Erbrechen seinen verwandelten Ausdruck
finden.

So verlockend in der hier gegebenen Dar¬
stellung der Jdeengang und das Ziel des
Forschers erscheint, und so bestechend sie auch
auf viele Kranke wirken muß, so zeigt sich bei
tieferem wissenschaftlichen Eingehen auf die
Freudsche Theorie bald, daß der wirkliche
Zusammenhang seelischer Vorgänge bei Ge¬
sunden wie Kranken und daß das Wechsel¬
verhältnis zwischen psychischen Erlebnissen
und körperlichen Erscheinungen doch weit ver¬
wickelter, vieldeutiger und undurchdringlicher
ist, als es nach den obigen, auf einer un¬
haltbaren Assoziationspsychologie gestützten
Annahme Freuds und seiner Schule erscheinen
könnte.

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Freud selbst mußte, um die Entstehung
der verschiedenartigen nervösen Krankheits¬
erscheinungen auf seine Art zu erklären, zahl¬
reiche ganz verwickelte HilfsHypothesen und
Interpretationen heranziehen. Da die ersten
Anlässe und vermeintlichen Quellen der Leiden
den Kranken selbst fast immer nicht bekannt
oder bewußt sind, von ihnen bisweilen auch
nur widerstrebend preisgegeben werden, und
da sie nach Freud oft bis in die Zeit der
dunklen frühesten Kindheit zurückreichen, ver¬
suchte er in der ersten Zeit seiner For¬
schung, damals gemeinsam mit seinem Kollegen
Breuer, durch Befragen in tiefer Hypnose die
Ursprünge ausfindig zu machen und ließ
dabei zum Zwecke der Heilung den Patienten
die damaligen Szenen neu durchleben und „ab¬
reagieren". Da sich ein solches Verfahren nur
selten anwenden ließ, zog er später andere
Hilfsmittel zu diesem Zwecke heran, wie die
Zergliederung der Einfälle, die dem Kranken
bei gedankenlosem Hinträumen mit geschlosse¬
nen Augen zuströmen, im besonderen Maße
auch die Analyse und Deutung der Träume
sowie die sogenannten AssoziationSexPerimente.
Es ist leicht einzusehen, daß eine große
Kombinationsgabe des Untersuchers dazu
gehört, nur in jedem Einzelfall zwischen den
Trnuincrinnerungen und anderen Anklängen
aus dem Unbewußten einerseits und den
gegenwärtigen Symptomen anderseits die
zutreffende erklärende Verbindung herzustellen,
und daß bei der Unkontrollierbarkeit der un¬
bewußten Vorgänge der Phantasie dabei der
weiteste Spielraum gelassen ist. Hiervon
haben nun auch Freud und mehr noch einige
seiner Schüler den freigiebigsten Gebrauch
gemacht, und viele ihrer Ausdeutungen —
denn das sind sie — fordern nicht nur die
scharfe Kritik, sondern bisweilen geradezu den
Spott des unbefangenen Lesers heraus. In
der Entstehungsgeschichte der Symptome
spielen nach Freud die schon beim Säugling
angeblich vorhandenen erotischen Lustgefühle
und deren spätere Verdrängung und Ver¬
wandlung die größte Rolle. Ungeachtet
manches treffenden Hinweises haben die An¬
hänger Freuds mit ihren teils sehr bedenk¬
lichen, teils lächerlichen Übertreibungen und
Phantasien gerade auf diesem Gebiete die
heftigste Feindschaft erfahren; freilich auch auf

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[0259] Maßgebliches und Unmaßgebliches bestimmten, ihnen allen gemeinsamen Psycho- physischen Mechanismus zu erklären, und glaubte mit der Aufdeckung des Entstehungs¬ vorganges dieser Leiden zugleich einen neuen Weg der Heilung gefunden zu haben. Wäh¬ rend im allgemeinen für die ärztliche Wissen¬ schaft, wie für die Wissenschaft überhaupt die Persönliche Färbung und subjektive Aus¬ gestaltung der einzelnen Krankheitszeichen un¬ wesentlich ist, und die Erkennung des Krank¬ heitstypus sowie die allgemeinen Verlaufsregeln der Krankheit im Vordergrund des ärztlichen Interesses stehen, sucht Freud die psychologische Entstehung jeder einzelnen individuellen Krankheitsäußerung und ihre möglicherweise bis ins Säuglingsalter zurückreichende indi¬ viduelle Psychische Ursachenkette zu ergründen. Nach seiner Überzeugung sind alle nervösen Krankheitserscheinungen einschließlich gewisser Formen von Geistesstörung, kurz gesagt, nur die Folge von irgendwelchen persönlichen, vergessenen und ins Unbewußte „verdrängten" Erlebnissen, deren Gefühlserregungen aber noch nachzittern, weil sie damals nicht ge¬ nügend ausgeglichen, „ckbreagiert" wurden. Dieser somit gewissermaßen „eingeklemmte" Affekirest kann nun späterhin unter allen möglichen veränderten Formen und Maskie¬ rungen als seelisches oder körperliches Krank¬ heitssymptom zum Vorschein kommen. Um ein Beispiel zu geben, könnte etwa eine in der Kindheit unterdrückte Abscheu bei gewissen irgendwie daran anklingenden Gelegenheiten immer wieder als nervöser Magenschmerz und Erbrechen seinen verwandelten Ausdruck finden. So verlockend in der hier gegebenen Dar¬ stellung der Jdeengang und das Ziel des Forschers erscheint, und so bestechend sie auch auf viele Kranke wirken muß, so zeigt sich bei tieferem wissenschaftlichen Eingehen auf die Freudsche Theorie bald, daß der wirkliche Zusammenhang seelischer Vorgänge bei Ge¬ sunden wie Kranken und daß das Wechsel¬ verhältnis zwischen psychischen Erlebnissen und körperlichen Erscheinungen doch weit ver¬ wickelter, vieldeutiger und undurchdringlicher ist, als es nach den obigen, auf einer un¬ haltbaren Assoziationspsychologie gestützten Annahme Freuds und seiner Schule erscheinen könnte. Freud selbst mußte, um die Entstehung der verschiedenartigen nervösen Krankheits¬ erscheinungen auf seine Art zu erklären, zahl¬ reiche ganz verwickelte HilfsHypothesen und Interpretationen heranziehen. Da die ersten Anlässe und vermeintlichen Quellen der Leiden den Kranken selbst fast immer nicht bekannt oder bewußt sind, von ihnen bisweilen auch nur widerstrebend preisgegeben werden, und da sie nach Freud oft bis in die Zeit der dunklen frühesten Kindheit zurückreichen, ver¬ suchte er in der ersten Zeit seiner For¬ schung, damals gemeinsam mit seinem Kollegen Breuer, durch Befragen in tiefer Hypnose die Ursprünge ausfindig zu machen und ließ dabei zum Zwecke der Heilung den Patienten die damaligen Szenen neu durchleben und „ab¬ reagieren". Da sich ein solches Verfahren nur selten anwenden ließ, zog er später andere Hilfsmittel zu diesem Zwecke heran, wie die Zergliederung der Einfälle, die dem Kranken bei gedankenlosem Hinträumen mit geschlosse¬ nen Augen zuströmen, im besonderen Maße auch die Analyse und Deutung der Träume sowie die sogenannten AssoziationSexPerimente. Es ist leicht einzusehen, daß eine große Kombinationsgabe des Untersuchers dazu gehört, nur in jedem Einzelfall zwischen den Trnuincrinnerungen und anderen Anklängen aus dem Unbewußten einerseits und den gegenwärtigen Symptomen anderseits die zutreffende erklärende Verbindung herzustellen, und daß bei der Unkontrollierbarkeit der un¬ bewußten Vorgänge der Phantasie dabei der weiteste Spielraum gelassen ist. Hiervon haben nun auch Freud und mehr noch einige seiner Schüler den freigiebigsten Gebrauch gemacht, und viele ihrer Ausdeutungen — denn das sind sie — fordern nicht nur die scharfe Kritik, sondern bisweilen geradezu den Spott des unbefangenen Lesers heraus. In der Entstehungsgeschichte der Symptome spielen nach Freud die schon beim Säugling angeblich vorhandenen erotischen Lustgefühle und deren spätere Verdrängung und Ver¬ wandlung die größte Rolle. Ungeachtet manches treffenden Hinweises haben die An¬ hänger Freuds mit ihren teils sehr bedenk¬ lichen, teils lächerlichen Übertreibungen und Phantasien gerade auf diesem Gebiete die heftigste Feindschaft erfahren; freilich auch auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/259>, abgerufen am 22.07.2024.