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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Pädagogischer Sturm und Drang

des Moralunterrichtes, der dem Kinde gegeben werden solle, folgendermaßen:
"Wecken wir auf alle Weise seinen Egoismus, sein Selbstgefühl, sein Ehrgefühl;
aber suchen wir ihm deutlich zu machen, daß diese seine stärksten und natür¬
lichsten Triebe nur Befriedigung finden können, wenn das Kind sich bemüht so
zu sein, wie es die menschliche Gesellschaft wünscht, in der es lebt und von
der es lebt; daß es gewisse Eigenschaften braucht, um im Leben vorwärts zu
kommen, um brauchbar, stark, geschätzt und geliebt zu werden; daß es andere
sich abgewöhnen oder znrückdämmen muß. um nicht in schmerzliche Konflikte
mit feiner Umgebung zu kommen, um sich nicht zu schädigen und sich nicht das
Fortkommen im Leben schwer zu machen." Wörtlich so. Das nennt man
dann wohl "autonome" Moral, während die christliche als "heteronom" ver¬
worfen wird. Wer ist denn selbständiger (das heißt doch "autonom"): er, der
um der eigenen Überzeugung willen, die den Menschen um ihn her unbequem
war, Marter und Tod willig erduldete, oder der Weltmann, der genau weiß,
wie man zu sein hat, um im Leben vorwärts zu kommen?

Was uns hier zu denken geben soll, ist nicht der Inhalt der gehaltenen
Reden, über den sich zu entrüsten leicht wäre, sondern die Tatsache, daß
ernsthafte Männer, über deren gute und redliche Absichten kein Zweifel besteht,
zu solchen Forderungen und Hoffnungen, wie sie geäußert wurden, überhaupt
gelangen konnten. Was sie dazu gedrängt hat, kann doch nur die Erfahrung
gewesen sein, die sie machten oder zu machen glaubten, daß der heutige
Religionsunterricht an Wirkung auf das Wollen der Zöglinge nicht das leistet,
was er soll, daß er auf dem Wege ist, in dogmatischen Formeln zu erstarren,
anstatt religiöses Empfinden zu wecken und die erhabenen und tiefen Gedanken,
die uns überliefert sind, mit den Fragen und Aufgaben des modernen Daseins
in lebendige Beziehung zu setzen. Deshalb wünschten wir, daß die Berliner
Verhandlungen von allen denen gelesen werden möchten, die an der Aus¬
gestaltung oder an der Leitung des Religionsunterrichtes beteiligt sind. Es
kann nicht gut stehen, wenn Proteste solcher Art so vernehmlich hervortreten.
Und es kann nur geholfen werden, wenn auch hier, und hier mehr als
irgendwo sonst, die Persönlichkeit des Lehrenden vor allem anderen gesucht und
geschätzt wird. Nicht, was einer glaubt und lehrt, ist das Entscheidende,
sondern, wie er es tut, ob sein Wesen und Handeln der überzeugende Ausdruck
eines inneren Lebens ist. Eine Unterrichtsverwaltung, die selbst auf positivem
Boden steht, müßte einen Religionslehrer freier Richtung, der die Jugend zu
packen weiß, ebenso gewähren lassen, wie wir von einer Behörde aus freidenkenden
Männern verlangen würden, daß sie sich an dem Wirken eines strenggläubigen
Lehrers, wenn es der Jugend in die Herzen dringt, zu erfreuen vermöchte.

Solches Verlangen zu erfüllen würden freilich unter den Reformern, über
die hier zu berichten war. wenige geneigt sein. Und so gilt unsere zweite
Mahnung dem Kreise derer, die sich die Freien nennen. Je schwerer der
einzelne die innere Freiheit erworben hat, desto mehr fühlt er sich verpflichtet.


Pädagogischer Sturm und Drang

des Moralunterrichtes, der dem Kinde gegeben werden solle, folgendermaßen:
„Wecken wir auf alle Weise seinen Egoismus, sein Selbstgefühl, sein Ehrgefühl;
aber suchen wir ihm deutlich zu machen, daß diese seine stärksten und natür¬
lichsten Triebe nur Befriedigung finden können, wenn das Kind sich bemüht so
zu sein, wie es die menschliche Gesellschaft wünscht, in der es lebt und von
der es lebt; daß es gewisse Eigenschaften braucht, um im Leben vorwärts zu
kommen, um brauchbar, stark, geschätzt und geliebt zu werden; daß es andere
sich abgewöhnen oder znrückdämmen muß. um nicht in schmerzliche Konflikte
mit feiner Umgebung zu kommen, um sich nicht zu schädigen und sich nicht das
Fortkommen im Leben schwer zu machen." Wörtlich so. Das nennt man
dann wohl „autonome" Moral, während die christliche als „heteronom" ver¬
worfen wird. Wer ist denn selbständiger (das heißt doch „autonom"): er, der
um der eigenen Überzeugung willen, die den Menschen um ihn her unbequem
war, Marter und Tod willig erduldete, oder der Weltmann, der genau weiß,
wie man zu sein hat, um im Leben vorwärts zu kommen?

Was uns hier zu denken geben soll, ist nicht der Inhalt der gehaltenen
Reden, über den sich zu entrüsten leicht wäre, sondern die Tatsache, daß
ernsthafte Männer, über deren gute und redliche Absichten kein Zweifel besteht,
zu solchen Forderungen und Hoffnungen, wie sie geäußert wurden, überhaupt
gelangen konnten. Was sie dazu gedrängt hat, kann doch nur die Erfahrung
gewesen sein, die sie machten oder zu machen glaubten, daß der heutige
Religionsunterricht an Wirkung auf das Wollen der Zöglinge nicht das leistet,
was er soll, daß er auf dem Wege ist, in dogmatischen Formeln zu erstarren,
anstatt religiöses Empfinden zu wecken und die erhabenen und tiefen Gedanken,
die uns überliefert sind, mit den Fragen und Aufgaben des modernen Daseins
in lebendige Beziehung zu setzen. Deshalb wünschten wir, daß die Berliner
Verhandlungen von allen denen gelesen werden möchten, die an der Aus¬
gestaltung oder an der Leitung des Religionsunterrichtes beteiligt sind. Es
kann nicht gut stehen, wenn Proteste solcher Art so vernehmlich hervortreten.
Und es kann nur geholfen werden, wenn auch hier, und hier mehr als
irgendwo sonst, die Persönlichkeit des Lehrenden vor allem anderen gesucht und
geschätzt wird. Nicht, was einer glaubt und lehrt, ist das Entscheidende,
sondern, wie er es tut, ob sein Wesen und Handeln der überzeugende Ausdruck
eines inneren Lebens ist. Eine Unterrichtsverwaltung, die selbst auf positivem
Boden steht, müßte einen Religionslehrer freier Richtung, der die Jugend zu
packen weiß, ebenso gewähren lassen, wie wir von einer Behörde aus freidenkenden
Männern verlangen würden, daß sie sich an dem Wirken eines strenggläubigen
Lehrers, wenn es der Jugend in die Herzen dringt, zu erfreuen vermöchte.

Solches Verlangen zu erfüllen würden freilich unter den Reformern, über
die hier zu berichten war. wenige geneigt sein. Und so gilt unsere zweite
Mahnung dem Kreise derer, die sich die Freien nennen. Je schwerer der
einzelne die innere Freiheit erworben hat, desto mehr fühlt er sich verpflichtet.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/225>, abgerufen am 29.06.2024.