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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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pädagogischer Sturm und Drang

Vor zehn Jahren habe ich selber dem Gedanken diesen Ausdruck gegeben; so
stimme ich vus vollem Herzen dem Anspruch zu, der im Goethebunde von
Teos erhoben und mit stürmischem Beifall aufgenommen wurde: "Freie Bahn
jedem Talent, auch dem Talent das aus der Tiefe kommt!" Aber nur dem
wirklichen Talent! Die unbegabten Söhne der sogenannten besseren Familien
sollen ihm den Platz nicht wegnehmen -- dazu ist eben die Strenge der An¬
forderungen da. Und für die Ausbildung begabter Söhne von Unbemittelten
möge man zu den vorhandenen Veranstaltungen weitere schaffen. Auch wäre
zu untersuchen -- doch das ist wieder eine Frage von ungeheurer Tragweite
--, ob nicht das Einjährrgenwesen, dessen irreleitenden Einfluß auf die Ab¬
schätzung des Eigenwertes der Berufsarten Frau Lilv Braun schwerlich zu
schlimm darstellt (S. 22), einer Prüfung und Umgestaltung unterzogen werden
müßte. Was aber so viele Vertreter der Volksschule, und unter ihnen wohl
gerade die persönlich Tüchtigsten, heute laut und ungestüm fordern, Verbindung
der Volksschule mit der höheren zu einem einzigen Lehrgang, ist abzuweisen;
denn damit würde nur die Masse gewaltsam hinaufgeschraubt, das Hervortreten
der ungewöhnlichen Kräfte mehr als bisher erschwert werden. Der Anteil,
den Stand und Vermögen an der Lebensgestaltung eines heranwachsenden
Menschen haben, läßt sich doch nicht aus der Welt schaffen. Ihn in einem
Punkte, der Schulbildung, ausschalten zu wollen, ist kurzsichtig, ja am letzten
Ende grausam; denn um so schmerzlicher wird er nachher an anderen Stellen
empfunden. Was für einen Sinn hat es, dem Sohne eines Arbeiters oder
kleinen Handwerkers die wissenschaftliche Vorbildung zu geben, die zu einem
höheren Berufe gehört, wenn man ihm nicht auch die Mittel an Geld und
Zeit zur Verfügung stellen kann, um sich einem solchen Berufe zu widmen?

Rücksichtslose Gleichmacherei, wie sie von Weltbeglückern verübt zu werden
pflegt, zeigt sich besonders unheilvoll auf dem Gebiete, dem die letzte der hier
besprochenen Versammlungen galt, in der Frage der sittlichen und religiösen
Erziehung. Eben diese Verbindung der Begriffe war es. was man bekämpfte;
"religionsfreie Sittlichkeit" wurde nicht von allen, doch von den meisten Rednern
verlangt. Und auch diejenigen, welche für Beibehaltung und innere Hebung
des Religionsunterrichts eintraten, meinten, ihn ganz und gar und von Anfang
an als Anleitung zu geschichtlicher Betrachtung, zum Kennenlernen und nach¬
empfinden aller Ideale, die einmal Menschen begeistert und vorwärts getrieben
haben -- so hieß es in einem Vortrag -- auffassen zu müssen. Von da ist
nicht mehr weit zu der anderen Forderung: "Ziel der religiösen Erziehung ist
der Vollmensch, das ist eine Abstraktion aus den Heroen der Menschheit"
(S. 125). In der Tat: "Abstraktion", das ist der rechte Ausdruck für diese
ganze Gedankenrichtung. "Zu der Lehre muß die Erziehung, die eigentliche
Willensbildung hinzukommen", erklärte Professor Jott (Wien), während es sich
doch höchstens umgekehrt verhalten kann: Zucht und Beispiel wirken, die Lehre
mag hinzukommen oder wegbleiben. Derselbe Gelehrte schilderte die Methode


pädagogischer Sturm und Drang

Vor zehn Jahren habe ich selber dem Gedanken diesen Ausdruck gegeben; so
stimme ich vus vollem Herzen dem Anspruch zu, der im Goethebunde von
Teos erhoben und mit stürmischem Beifall aufgenommen wurde: „Freie Bahn
jedem Talent, auch dem Talent das aus der Tiefe kommt!" Aber nur dem
wirklichen Talent! Die unbegabten Söhne der sogenannten besseren Familien
sollen ihm den Platz nicht wegnehmen — dazu ist eben die Strenge der An¬
forderungen da. Und für die Ausbildung begabter Söhne von Unbemittelten
möge man zu den vorhandenen Veranstaltungen weitere schaffen. Auch wäre
zu untersuchen — doch das ist wieder eine Frage von ungeheurer Tragweite
—, ob nicht das Einjährrgenwesen, dessen irreleitenden Einfluß auf die Ab¬
schätzung des Eigenwertes der Berufsarten Frau Lilv Braun schwerlich zu
schlimm darstellt (S. 22), einer Prüfung und Umgestaltung unterzogen werden
müßte. Was aber so viele Vertreter der Volksschule, und unter ihnen wohl
gerade die persönlich Tüchtigsten, heute laut und ungestüm fordern, Verbindung
der Volksschule mit der höheren zu einem einzigen Lehrgang, ist abzuweisen;
denn damit würde nur die Masse gewaltsam hinaufgeschraubt, das Hervortreten
der ungewöhnlichen Kräfte mehr als bisher erschwert werden. Der Anteil,
den Stand und Vermögen an der Lebensgestaltung eines heranwachsenden
Menschen haben, läßt sich doch nicht aus der Welt schaffen. Ihn in einem
Punkte, der Schulbildung, ausschalten zu wollen, ist kurzsichtig, ja am letzten
Ende grausam; denn um so schmerzlicher wird er nachher an anderen Stellen
empfunden. Was für einen Sinn hat es, dem Sohne eines Arbeiters oder
kleinen Handwerkers die wissenschaftliche Vorbildung zu geben, die zu einem
höheren Berufe gehört, wenn man ihm nicht auch die Mittel an Geld und
Zeit zur Verfügung stellen kann, um sich einem solchen Berufe zu widmen?

Rücksichtslose Gleichmacherei, wie sie von Weltbeglückern verübt zu werden
pflegt, zeigt sich besonders unheilvoll auf dem Gebiete, dem die letzte der hier
besprochenen Versammlungen galt, in der Frage der sittlichen und religiösen
Erziehung. Eben diese Verbindung der Begriffe war es. was man bekämpfte;
„religionsfreie Sittlichkeit" wurde nicht von allen, doch von den meisten Rednern
verlangt. Und auch diejenigen, welche für Beibehaltung und innere Hebung
des Religionsunterrichts eintraten, meinten, ihn ganz und gar und von Anfang
an als Anleitung zu geschichtlicher Betrachtung, zum Kennenlernen und nach¬
empfinden aller Ideale, die einmal Menschen begeistert und vorwärts getrieben
haben — so hieß es in einem Vortrag — auffassen zu müssen. Von da ist
nicht mehr weit zu der anderen Forderung: „Ziel der religiösen Erziehung ist
der Vollmensch, das ist eine Abstraktion aus den Heroen der Menschheit"
(S. 125). In der Tat: „Abstraktion", das ist der rechte Ausdruck für diese
ganze Gedankenrichtung. „Zu der Lehre muß die Erziehung, die eigentliche
Willensbildung hinzukommen", erklärte Professor Jott (Wien), während es sich
doch höchstens umgekehrt verhalten kann: Zucht und Beispiel wirken, die Lehre
mag hinzukommen oder wegbleiben. Derselbe Gelehrte schilderte die Methode


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[0224] pädagogischer Sturm und Drang Vor zehn Jahren habe ich selber dem Gedanken diesen Ausdruck gegeben; so stimme ich vus vollem Herzen dem Anspruch zu, der im Goethebunde von Teos erhoben und mit stürmischem Beifall aufgenommen wurde: „Freie Bahn jedem Talent, auch dem Talent das aus der Tiefe kommt!" Aber nur dem wirklichen Talent! Die unbegabten Söhne der sogenannten besseren Familien sollen ihm den Platz nicht wegnehmen — dazu ist eben die Strenge der An¬ forderungen da. Und für die Ausbildung begabter Söhne von Unbemittelten möge man zu den vorhandenen Veranstaltungen weitere schaffen. Auch wäre zu untersuchen — doch das ist wieder eine Frage von ungeheurer Tragweite —, ob nicht das Einjährrgenwesen, dessen irreleitenden Einfluß auf die Ab¬ schätzung des Eigenwertes der Berufsarten Frau Lilv Braun schwerlich zu schlimm darstellt (S. 22), einer Prüfung und Umgestaltung unterzogen werden müßte. Was aber so viele Vertreter der Volksschule, und unter ihnen wohl gerade die persönlich Tüchtigsten, heute laut und ungestüm fordern, Verbindung der Volksschule mit der höheren zu einem einzigen Lehrgang, ist abzuweisen; denn damit würde nur die Masse gewaltsam hinaufgeschraubt, das Hervortreten der ungewöhnlichen Kräfte mehr als bisher erschwert werden. Der Anteil, den Stand und Vermögen an der Lebensgestaltung eines heranwachsenden Menschen haben, läßt sich doch nicht aus der Welt schaffen. Ihn in einem Punkte, der Schulbildung, ausschalten zu wollen, ist kurzsichtig, ja am letzten Ende grausam; denn um so schmerzlicher wird er nachher an anderen Stellen empfunden. Was für einen Sinn hat es, dem Sohne eines Arbeiters oder kleinen Handwerkers die wissenschaftliche Vorbildung zu geben, die zu einem höheren Berufe gehört, wenn man ihm nicht auch die Mittel an Geld und Zeit zur Verfügung stellen kann, um sich einem solchen Berufe zu widmen? Rücksichtslose Gleichmacherei, wie sie von Weltbeglückern verübt zu werden pflegt, zeigt sich besonders unheilvoll auf dem Gebiete, dem die letzte der hier besprochenen Versammlungen galt, in der Frage der sittlichen und religiösen Erziehung. Eben diese Verbindung der Begriffe war es. was man bekämpfte; „religionsfreie Sittlichkeit" wurde nicht von allen, doch von den meisten Rednern verlangt. Und auch diejenigen, welche für Beibehaltung und innere Hebung des Religionsunterrichts eintraten, meinten, ihn ganz und gar und von Anfang an als Anleitung zu geschichtlicher Betrachtung, zum Kennenlernen und nach¬ empfinden aller Ideale, die einmal Menschen begeistert und vorwärts getrieben haben — so hieß es in einem Vortrag — auffassen zu müssen. Von da ist nicht mehr weit zu der anderen Forderung: „Ziel der religiösen Erziehung ist der Vollmensch, das ist eine Abstraktion aus den Heroen der Menschheit" (S. 125). In der Tat: „Abstraktion", das ist der rechte Ausdruck für diese ganze Gedankenrichtung. „Zu der Lehre muß die Erziehung, die eigentliche Willensbildung hinzukommen", erklärte Professor Jott (Wien), während es sich doch höchstens umgekehrt verhalten kann: Zucht und Beispiel wirken, die Lehre mag hinzukommen oder wegbleiben. Derselbe Gelehrte schilderte die Methode

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/224>, abgerufen am 22.12.2024.