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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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pädagogischer Sturm und Drang

verloren habe, den er gar nicht wollte. Einen Irrtum überwindet man nicht,
ehe man das Wahrheitsmoment erkannt hat, das er umschließt. So muß die
erste Frage sein: was ist in jenen leidenschaftlichen, himmelstürmenden Reden
doch vielleicht Richtiges gesagt worden?

Manche Äußerungen verdienen entschiedenen Beifall. Ein Fabrikbesitzer,
der in Weimar sprach, bezeichnete es als das höchste Ziel der Schule, daß ihre
Zöglinge hinausgehen "mit Heißhunger und Begeisterung für eine Betätigung
im Leben und mit dem unausrottbaren Verlangen, alle in ihnen schlummernden
Kräfte zur Entfaltung zu bringen". Im Goethebund warnte Bölsche vor dem
verhängnisvollen Fehler, den ein Schulsystem begehe, wenn es "sich als Selbst¬
wert etabliere und Opfer für sich fordere, anstatt feinen Zweck auf das Leben
zu stellen". Die Gefahr, daß sich in unablässiger, sorgsamer Berufsarbeit das
Mittel zum Zweck verschiebe, besteht überall; und es schadet auch dem Lehrer
nicht, manchmal an diese Möglichkeit erinnert zu werden. Hingegen die
Mahnung, die Jugend nicht satt sondern hungrig zu entlassen, sollte weniger
an die Lehrer gerichtet werden als an die Wortführer der öffentlichen Meinung,
da diese immer wieder eine "abgeschlossene Bildung", ein gleichmäßiges Wissen
von allem zurzeit Wissenswürdigsten von denen verlangen, die von der Schule
kommen. An und für sich find beide Gedanken zutreffend.

Beherzigenswert war unter anderem auch der Vorschlag von Klaar, an¬
stelle kurzer, schnell entscheidender Prüfung eine längere Erprobung treten zu
lassen. Innerhalb der Schule ließe sich das einigermaßen verwirklichen, zumal
bei Aufnahme neuer Schüler. Und wer wollte nicht im Grunde wünschen, es
möchte beim Übergang auf die Hochschule ebenso verfahren werden, fo daß nicht
im voraus, sondern erst nach einer Zeit versuchter Betätigung an den neuen
Aufgaben darüber entschieden würde, ob einer wirklich zu diesen Ausgaben zu¬
zulassen sei? Aber der Ausführung dieses Gedankens stellen sich nicht nur prak¬
tische Schwierigkeiten, sondern fast noch mehr der ganze Charakter unseres
öffentlichen Lebens entgegen. Ob und wie da zu ändern wäre, ist eine große
Frage, bei deren Lösung die Schule sich mehr empfangend als gebend zu
verhalten hätte. Daß man ihnen gestatte, einen Befähigungsnachweis auf
dem Wege praktischer Erprobung zu führen, können manche eigenartige Unter¬
nehmungen verlangen, von denen in Weimar und Berlin berichtet wurde:
Berthold Ottos Hauslehrerschule, Wnnekens Freie Schulgemeinde (Schule der
Zukunft S. 77), Langermanns Erziehungsstaat (Harmonie zwischen Religions¬
und Moralunterricht S. 215). Nur müssen wir uns im voraus dagegen ver¬
wahren, daß, was einem einzelnen oder einer kleinen, eng verbundenen Ge¬
meinschaft durch persönliche Kraft und Begeisterung gelungen wäre, etwa sogleich
zur Grundlage allgemeiner Einrichtungen gemacht werden sollte. Das Haupt¬
übel, an dem unser staatliches Erziehungswesen krankt, ist, daß der Grundsatz
6no si kaciunt lasen, non est iäem nicht genug beachtet wird. Die Macht der
Verhältnisse, die zur Gleichförmigkeit hindrängen, die Wucht des Verwaltungs-


pädagogischer Sturm und Drang

verloren habe, den er gar nicht wollte. Einen Irrtum überwindet man nicht,
ehe man das Wahrheitsmoment erkannt hat, das er umschließt. So muß die
erste Frage sein: was ist in jenen leidenschaftlichen, himmelstürmenden Reden
doch vielleicht Richtiges gesagt worden?

Manche Äußerungen verdienen entschiedenen Beifall. Ein Fabrikbesitzer,
der in Weimar sprach, bezeichnete es als das höchste Ziel der Schule, daß ihre
Zöglinge hinausgehen „mit Heißhunger und Begeisterung für eine Betätigung
im Leben und mit dem unausrottbaren Verlangen, alle in ihnen schlummernden
Kräfte zur Entfaltung zu bringen". Im Goethebund warnte Bölsche vor dem
verhängnisvollen Fehler, den ein Schulsystem begehe, wenn es „sich als Selbst¬
wert etabliere und Opfer für sich fordere, anstatt feinen Zweck auf das Leben
zu stellen". Die Gefahr, daß sich in unablässiger, sorgsamer Berufsarbeit das
Mittel zum Zweck verschiebe, besteht überall; und es schadet auch dem Lehrer
nicht, manchmal an diese Möglichkeit erinnert zu werden. Hingegen die
Mahnung, die Jugend nicht satt sondern hungrig zu entlassen, sollte weniger
an die Lehrer gerichtet werden als an die Wortführer der öffentlichen Meinung,
da diese immer wieder eine „abgeschlossene Bildung", ein gleichmäßiges Wissen
von allem zurzeit Wissenswürdigsten von denen verlangen, die von der Schule
kommen. An und für sich find beide Gedanken zutreffend.

Beherzigenswert war unter anderem auch der Vorschlag von Klaar, an¬
stelle kurzer, schnell entscheidender Prüfung eine längere Erprobung treten zu
lassen. Innerhalb der Schule ließe sich das einigermaßen verwirklichen, zumal
bei Aufnahme neuer Schüler. Und wer wollte nicht im Grunde wünschen, es
möchte beim Übergang auf die Hochschule ebenso verfahren werden, fo daß nicht
im voraus, sondern erst nach einer Zeit versuchter Betätigung an den neuen
Aufgaben darüber entschieden würde, ob einer wirklich zu diesen Ausgaben zu¬
zulassen sei? Aber der Ausführung dieses Gedankens stellen sich nicht nur prak¬
tische Schwierigkeiten, sondern fast noch mehr der ganze Charakter unseres
öffentlichen Lebens entgegen. Ob und wie da zu ändern wäre, ist eine große
Frage, bei deren Lösung die Schule sich mehr empfangend als gebend zu
verhalten hätte. Daß man ihnen gestatte, einen Befähigungsnachweis auf
dem Wege praktischer Erprobung zu führen, können manche eigenartige Unter¬
nehmungen verlangen, von denen in Weimar und Berlin berichtet wurde:
Berthold Ottos Hauslehrerschule, Wnnekens Freie Schulgemeinde (Schule der
Zukunft S. 77), Langermanns Erziehungsstaat (Harmonie zwischen Religions¬
und Moralunterricht S. 215). Nur müssen wir uns im voraus dagegen ver¬
wahren, daß, was einem einzelnen oder einer kleinen, eng verbundenen Ge¬
meinschaft durch persönliche Kraft und Begeisterung gelungen wäre, etwa sogleich
zur Grundlage allgemeiner Einrichtungen gemacht werden sollte. Das Haupt¬
übel, an dem unser staatliches Erziehungswesen krankt, ist, daß der Grundsatz
6no si kaciunt lasen, non est iäem nicht genug beachtet wird. Die Macht der
Verhältnisse, die zur Gleichförmigkeit hindrängen, die Wucht des Verwaltungs-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/221>, abgerufen am 24.08.2024.