Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] die einfachen, sozusagen exakten Proportionen Denn das ist die erste Botschaft, die uns Dann aber steigert sich die musikalische klarer lebendiger Handlung gebracht. Von Es liegt etwas Jauchzendesund Jubelndes Freude und Hoffnung ist die Stimmung, [Ende Spaltensatz]Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] die einfachen, sozusagen exakten Proportionen Denn das ist die erste Botschaft, die uns Dann aber steigert sich die musikalische klarer lebendiger Handlung gebracht. Von Es liegt etwas Jauchzendesund Jubelndes Freude und Hoffnung ist die Stimmung, [Ende Spaltensatz]<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0211" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/325081"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <cb type="start"/> <p xml:id="ID_786" prev="#ID_785"> die einfachen, sozusagen exakten Proportionen<lb/> erhält das Gebäude bei allein Ernste etwas<lb/> schwebend Leichtes und Klingendes. In kleinen<lb/> Häusern, die sich arkadenförmig an Tessenows<lb/> Gebäude anschließen und so einen breiten Hof<lb/> bilden, wohnen Schüler und Schülerinnen der<lb/> Anstalt Es ist eine wahre Freude die<lb/> „Rhythmischen", wie sie der Hellerauer Volks¬<lb/> mund nennt, in der Nähe der Anstalt mit ihren<lb/> graziösenBewegungen einherwandelnzu sehen.<lb/> Fast allen leuchtet die Freude ihrer Kunst aus<lb/> den Augen und der Stolz zu dem Bunde<lb/> einer zukünftigen Schönheit zu gehören. ES<lb/> ist, als hätten diese Mädchen hier erst wahr¬<lb/> haft schreiten und gehen gelernt.</p> <p xml:id="ID_787"> Denn das ist die erste Botschaft, die uns<lb/> die Hellorauer Kunst der rhythmischen Gym¬<lb/> nastik zuruft: welch unerhörte Möglichkeiten<lb/> der Entfaltung leben im menschlichen Körper,<lb/> welch tiefe Wahrheit und Gesetzlichkeit schließt<lb/> er in sich! Alle Kunst ist Gestaltung und<lb/> Formung des Leibes; indem die seelenhasteste<lb/> Kunst, die Musik, unmittelbar in seineFormen-<lb/> sprache übersetzt wird, lehren wir zurück in<lb/> den Naturzustand der Kunst, die aus der<lb/> Freude an den Ausdrucksbewegungen und<lb/> allen Äußerungsweisen des eigenen Leibes<lb/> entspringt. In dieser Ausbildung allein wird<lb/> der Körper zuni vollkommenen und ge¬<lb/> fügigen Werkzeuge der Seele. Die hier er¬<lb/> zogenen Menschen besitzen die absolute Herr¬<lb/> schaft über ihren Körper: ihr Nervensystem<lb/> gehorcht jeder leisesten Willensregung, die<lb/> jede Nuance des musikalischen Rhythmus in<lb/> Bewegung umsetzt. Alle falschen Neben¬<lb/> bewegungen haben sie ausgestoßen und be¬<lb/> seitigt. Den halben Nebenbewegungen ent¬<lb/> sprechen die unklaren subjektiven Stimmungen,<lb/> mit denen die meisten an der Peripherie eines<lb/> Kunstwerkes bleiben, statt zum objektiven Kerne<lb/> vorzudringen. Die Schüler von Dalcroze<lb/> lernen nicht das musikalische Kunstwerk ge¬<lb/> danklich interpretieren, sondern die wahre<lb/> musikalische Form wird in die Plastik des<lb/> Körpers adäquat übersetzt.</p> <p xml:id="ID_788" next="#ID_789"> Dann aber steigert sich die musikalische<lb/> Erziehung zur neuen Kunst. Der Tanz wird<lb/> aus seiner Verwilderung befreit, wieder zu<lb/> der großen natürlichen Kunstform, die er einst<lb/> gewesen ist. Eine Bachsche Fuge in ihrer ver¬<lb/> schlungenen Gesetzlichkeit wird zu wunderbar</p> <cb/><lb/> <p xml:id="ID_789" prev="#ID_788"> klarer lebendiger Handlung gebracht. Von<lb/> Dalcroze zu rhythmischer Verkörperung kompo¬<lb/> nierte Pantomimen bringen weihevolle Stim¬<lb/> mungen, deren Grundmotiv fast immer — sehr<lb/> bezeichnend für diesen Mann — das Empor¬<lb/> schreiten einer Gemeinschaft zu etwas Höherem,<lb/> das „Erwachen zum Licht" zu bilden scheint.<lb/> Der Rhythmus der Musik bändigt die mit¬<lb/> einander kämpfenden Tonreihen zu Har¬<lb/> monien: das hat schon der alte griechische<lb/> Denker erkannt, der das Wort vom Kampfe<lb/> als den Vater aller Dinge und von der ver¬<lb/> nunftvollen Einheit der streitenden Gegensätze<lb/> sprach, Heraklit. So drängt die Verkörperung<lb/> des musikalischen Rhythmus wie von selbst zum<lb/> Drama. Die rhythmische Gymnastik gipfelt in<lb/> der Schöpfung einer neuen Bühnenkunst.<lb/> Alles Kühne und Fruchtbare der Dalcroze-<lb/> schen Methode kommt in dieser Richtung zur<lb/> vollen Entfaltung. Hier setzen auch seine be¬<lb/> deutenden künstlerischen Mitarbeiter, besonders<lb/> Adolphe APPia, ein. Zu der plastischen Ver¬<lb/> körperung durch Bewegung gesellt sich nun die<lb/> Stimme, die rein stulpturellen und linearen<lb/> Bilder werden verbunden mit dem male¬<lb/> rischen und zauberhaften Lichte, das aus<lb/> Hunderten von Glühkörpern hinter durch¬<lb/> sichtigen Wänden hervorbricht und alle<lb/> Schattierungen von rosiger Dämmerung bis<lb/> zum strahlend hellen, Weißen Tageslichte an¬<lb/> nehmen kann. Durch die rhythmische Gymnastik<lb/> erhalten diese Chöre hier ihre Bewegung, diese<lb/> Massen find lebendig, weil sie rhythmisiert sind.<lb/> Die Bedeutung von Dalcroze für die Schau¬<lb/> spielkunst liegt in der Lösung ihrer brennendsten<lb/> Probleme durch die Einführung rhythmischer<lb/> Werte. Es sind in der Behandlung des Chors,<lb/> in der Bewegung der Massen dieselben Auf¬<lb/> gaben, an deren Gestaltung Reinhardt arbeitet.<lb/> Hier sind sie bewältigt, weil jeder Mitwirkende<lb/> in der Masse eine ausgebildete künstlerische<lb/> Individualität darstellt.</p> <p xml:id="ID_790"> Es liegt etwas Jauchzendesund Jubelndes<lb/> in diesen bewegten Massen, in diesen Chören<lb/> braust etwas von dionysischer Freude. Der<lb/> menschliche Leib wird leicht und frei, er wird<lb/> beschwingt und scheint dem Lichte, der Sonne<lb/> entgegenzufliegen. Auch hier ist das letzte<lb/> Wort der Musik ein plastisch und leibhaft ge¬<lb/> wordener Hymnus an die Freude.</p> <p xml:id="ID_791" next="#ID_792"> Freude und Hoffnung ist die Stimmung,</p> <cb type="end"/><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0211]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
die einfachen, sozusagen exakten Proportionen
erhält das Gebäude bei allein Ernste etwas
schwebend Leichtes und Klingendes. In kleinen
Häusern, die sich arkadenförmig an Tessenows
Gebäude anschließen und so einen breiten Hof
bilden, wohnen Schüler und Schülerinnen der
Anstalt Es ist eine wahre Freude die
„Rhythmischen", wie sie der Hellerauer Volks¬
mund nennt, in der Nähe der Anstalt mit ihren
graziösenBewegungen einherwandelnzu sehen.
Fast allen leuchtet die Freude ihrer Kunst aus
den Augen und der Stolz zu dem Bunde
einer zukünftigen Schönheit zu gehören. ES
ist, als hätten diese Mädchen hier erst wahr¬
haft schreiten und gehen gelernt.
Denn das ist die erste Botschaft, die uns
die Hellorauer Kunst der rhythmischen Gym¬
nastik zuruft: welch unerhörte Möglichkeiten
der Entfaltung leben im menschlichen Körper,
welch tiefe Wahrheit und Gesetzlichkeit schließt
er in sich! Alle Kunst ist Gestaltung und
Formung des Leibes; indem die seelenhasteste
Kunst, die Musik, unmittelbar in seineFormen-
sprache übersetzt wird, lehren wir zurück in
den Naturzustand der Kunst, die aus der
Freude an den Ausdrucksbewegungen und
allen Äußerungsweisen des eigenen Leibes
entspringt. In dieser Ausbildung allein wird
der Körper zuni vollkommenen und ge¬
fügigen Werkzeuge der Seele. Die hier er¬
zogenen Menschen besitzen die absolute Herr¬
schaft über ihren Körper: ihr Nervensystem
gehorcht jeder leisesten Willensregung, die
jede Nuance des musikalischen Rhythmus in
Bewegung umsetzt. Alle falschen Neben¬
bewegungen haben sie ausgestoßen und be¬
seitigt. Den halben Nebenbewegungen ent¬
sprechen die unklaren subjektiven Stimmungen,
mit denen die meisten an der Peripherie eines
Kunstwerkes bleiben, statt zum objektiven Kerne
vorzudringen. Die Schüler von Dalcroze
lernen nicht das musikalische Kunstwerk ge¬
danklich interpretieren, sondern die wahre
musikalische Form wird in die Plastik des
Körpers adäquat übersetzt.
Dann aber steigert sich die musikalische
Erziehung zur neuen Kunst. Der Tanz wird
aus seiner Verwilderung befreit, wieder zu
der großen natürlichen Kunstform, die er einst
gewesen ist. Eine Bachsche Fuge in ihrer ver¬
schlungenen Gesetzlichkeit wird zu wunderbar
klarer lebendiger Handlung gebracht. Von
Dalcroze zu rhythmischer Verkörperung kompo¬
nierte Pantomimen bringen weihevolle Stim¬
mungen, deren Grundmotiv fast immer — sehr
bezeichnend für diesen Mann — das Empor¬
schreiten einer Gemeinschaft zu etwas Höherem,
das „Erwachen zum Licht" zu bilden scheint.
Der Rhythmus der Musik bändigt die mit¬
einander kämpfenden Tonreihen zu Har¬
monien: das hat schon der alte griechische
Denker erkannt, der das Wort vom Kampfe
als den Vater aller Dinge und von der ver¬
nunftvollen Einheit der streitenden Gegensätze
sprach, Heraklit. So drängt die Verkörperung
des musikalischen Rhythmus wie von selbst zum
Drama. Die rhythmische Gymnastik gipfelt in
der Schöpfung einer neuen Bühnenkunst.
Alles Kühne und Fruchtbare der Dalcroze-
schen Methode kommt in dieser Richtung zur
vollen Entfaltung. Hier setzen auch seine be¬
deutenden künstlerischen Mitarbeiter, besonders
Adolphe APPia, ein. Zu der plastischen Ver¬
körperung durch Bewegung gesellt sich nun die
Stimme, die rein stulpturellen und linearen
Bilder werden verbunden mit dem male¬
rischen und zauberhaften Lichte, das aus
Hunderten von Glühkörpern hinter durch¬
sichtigen Wänden hervorbricht und alle
Schattierungen von rosiger Dämmerung bis
zum strahlend hellen, Weißen Tageslichte an¬
nehmen kann. Durch die rhythmische Gymnastik
erhalten diese Chöre hier ihre Bewegung, diese
Massen find lebendig, weil sie rhythmisiert sind.
Die Bedeutung von Dalcroze für die Schau¬
spielkunst liegt in der Lösung ihrer brennendsten
Probleme durch die Einführung rhythmischer
Werte. Es sind in der Behandlung des Chors,
in der Bewegung der Massen dieselben Auf¬
gaben, an deren Gestaltung Reinhardt arbeitet.
Hier sind sie bewältigt, weil jeder Mitwirkende
in der Masse eine ausgebildete künstlerische
Individualität darstellt.
Es liegt etwas Jauchzendesund Jubelndes
in diesen bewegten Massen, in diesen Chören
braust etwas von dionysischer Freude. Der
menschliche Leib wird leicht und frei, er wird
beschwingt und scheint dem Lichte, der Sonne
entgegenzufliegen. Auch hier ist das letzte
Wort der Musik ein plastisch und leibhaft ge¬
wordener Hymnus an die Freude.
Freude und Hoffnung ist die Stimmung,
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